Inflation der Rechte

Inflation der Rechte

Inzwischen gibt es das Recht auf Arbeit und das Recht auf bezahlten Urlaub, das Recht auf Teilzeit und das Recht auf Inklusion, das Recht auf Asyl und das Recht auf Sterbehilfe, das Recht auf Wasser und das Recht auf Nahrung, das Recht auf schnelles Internet und das Recht auf ein pestizidfreies Leben, das Recht auf Nachwuchs und das Recht auf Gesundheit,  das Recht auf Taschengeld und das Recht auf unentgeltliche Bildung. Diese Liste ist natürlich fortsetzbar. Eine Hauptursache dieser inflationären Aufblähung der Rechte liegt in der Erweiterung des Menschenrechtsbegriffs und der Missachtung einer grundlegenden Unterscheidung.

Die Grund- und Menschenrechte wurden in der Neuzeit als bürgerliche und politische Rechte formuliert. Im Kern waren und sind sie Abwehr- oder Schutzrechte. Damit eng verbunden sind die demokratischen Mitwirkungsrechte. Hierzu gehören Gleichheit vor dem Gesetz, Recht auf Freizügigkeit, Eigentum und freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Verfassungen westlicher Staaten wie auch das bundesdeutsche Grundgesetz spiegeln diese liberal-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie wider.

Neben diese „erste Generation“ der Menschenrechte trat im 20. Jahrhundert die „zweite Generation“. Diese bilden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungsrechte im Sinne von Anspruchs- und Teilhaberechten. Dazu gehören Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und Nahrung, Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben usw. Der „dritten Generation“ geht es um die kollektiven Rechte der Völker. An dieser Stelle ist natürlich auch die „europäische Säule sozialer Rechte“ zu nennen, eine Initiative der Europäischen Kommission. Beim „EU-Sozialgifpel“ in Göteborg im November wurde die Liste von zwanzig Rechten bzw. Ansprüchen erneut bekräftigt.

Die ‘klassischen’ Menschenrechte finden sich in den ersten 21 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; ab Art. 22 folgen die der zweiten und dritten Generation. Diese Erweiterung ist aber nun alles andere als unproblematisch. Thomas Schirrmacher betont: „Menschenrechte sind also Schutzrechte [die der „ersten Generation“], das heißt es geht weniger um Dinge, die einem Menschen zustehen, als um Beschränkungen des Staates und anderer Institutionen, in das Leben des einzelnen einzugreifen. Deutlich wird dieser Unterschied etwa beim bisweilen als Menschenrecht geforderten ‘Recht auf Arbeit’, wenn es hier nicht nur um den Schutz geht, sondern um eine konkrete, materielle Forderung, die keine Gesellschaft erfüllen kann.“ (Ethik, III)

Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Laut Wikipedia-Eintrag zu „Menschenrechte“ sind damit u.a. „Recht auf Entwicklung, das Recht auf Frieden, auf eine saubere Umwelt, auf Kommunikation sowie auf einen gerechten Anteil an den Schätzen von Natur und Kultur“ gemeint.

Schirrmacher zitiert Robert Spaemann aus Menschenrecht und Menschenwürde: „Gelingt es etwa, sozialen Grundrechten die gleiche Bedeutung zu geben wie den elementaren Garantien der Freiheit und des Rechtsschutzes, so heißt das, daß auch die elementaren Garantien der Freiheit und des Rechtsschutzes so relativ verstanden werden, wie die sozialen Grundrechte ihrer Natur nach relativ sind“.

Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen Anspruchsrechten und Freiheitsrechten. Anspruchsrechte wie sie sich vor allem aus Verträgen aller Art ergeben, führen zu konkreten und begrenzten Pflichten, die die Vertragspartner – und nur sie – zu erfüllen haben. Jeder Kaufhandlung liegt solch ein Vertrag zugrunde. Nimmt der Verkäufer mein Geld entgegen, habe ich an ihn einen berechtigten Anspruch – aber nur an ihn. Der Verkäufer ist keineswegs verpflichtet, allen alles anzubieten.

Freiheitsrechte bringen demgegenüber eine generelle Pflicht mit sich, diese zu achten, d.h. jeder ist immer verpflichtet, dieser Pflicht nachzukommen. Sie werden verletzt durch Eingriffe von außen, umgekehrt werden sie durch Nichtstun (Nichteindringen) geachtet. Dies ist offensichtlich bei Rechten wie dem auf körperliche Unversehrtheit. Angriffe auf Leib und Leben sind immer zu vermeiden.

Das Recht auf Leben wird nun gerne erweitert zu einem Recht auf ein gesundes und gutes Leben. Es gibt ein konkretes Anspruchsrecht auf ordentliche medizinische Behandlung, wenn ich z.B. in eine entsprechende Versicherung eingezahlt habe.  Aber gibt es auch ein allgemeines Recht auf Gesundheit? Bei welchen Krankheiten und unter genau welchen Umständen ist dann einen Menschen verpflichtet dem anderen zu helfen? Traditionell wurde die Hilfe in Not und bei Krankheiten nicht in die Form des (Anspruchs-)Rechts gekleidet, sondern mit anderen Formen der moralischen Verpflichtung gleichsam abgedeckt. Hier ist natürlich die Nächstenliebe zu nennen, die konkret und vom Einzelnen in bestimmten Situationen gewährt wird. Es gibt eben keinen Rechtsanspruch auf Nächstenliebe oder Barmherzigkeit und auch keine rechtliche Verpflichtung zu ihnen. Gerade das macht ja ihre Freiheit aus.

Freiheitsrechte sagen: Du sollst mir nichts antun! Anspruchsrechte sagen: Du sollst etwas für mich tun! Freiheitsrechte legen allgemeine negative Pflichten auf, weshalb sie auch „negative Rechte“ genannt werden. Anspruchsrechte gehen mit positiven Pflichten einher, weshalb sie „positive Rechte“ sind.

Natürlich gibt es auch Anspruchsrechte jenseits des Bereichs der Verträge, die tatsächlich grundlegend und gut sind. So haben Kinder einen Anspruch auf elterliche Versorgung – ein Recht, das nicht erst ausgehandelt werden muss. Aber er ist eben gerade in einem recht engen und überschaubaren Kontext, in dem diese Rechte ihren Platz haben. Denn ein allgemeiner Anspruch an jemand anderen, formuliert in der Form eines Rechts, legt eine allgemeine Pflicht auf. Dass Eltern ihre Kinder versorgen sollen, grenzt deren Pflicht noch recht klar ein. Aber wie steht es um das Recht auf Nahrung, das Recht auf ein Altern in Würde und das Recht auf Urlaubsreisen? Wer soll diese Ansprüche erfüllen? Als Antwort bleibt dann meist nur noch der Staat (oder die Allgemeinheit oder die Gesellschaft) übrig.

Sehr allgemeine und vage Anspruchsrechte führen daher geradezu unausweichlich zur Ausweitung der Staatsmacht. Dies ist in hohem Maße widersprüchlich, denn historisch gesehen haben ja die Menschenrechte als Freiheitsrechte dazu gedient, die staatliche Macht und Willkür in engen Grenzen zu halten.

Das, worum es den Anspruchsrechten geht, gehört in den Bereich der Verhandlungen, der Verträge und des Kompromisses. Die Stärke der klassischen Menschenrechte ist es im Kontrast dazu aber gerade, dass sie außerhalb dieses Abwägens stehen. Sie sind von der Idee her keinerlei Verhandlungsmasse. Menschrechte müssen unbedingt von allen beachtet und gewahrt werden. Anspruchsrechte haben dieses Kennzeichen nicht.

In zwei wichtigen Diskussionen stoßen diese unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander. Das Asylrecht wird heute – auch von vielen Christen und Ethikern – fast schon wie selbstverständlich als Menschen- und Grundrecht angesehen. Daher sei es nicht verhandelbar. Dem entspricht natürlich auch die strenge Ablehnung von Obergrenzen.

Nun braucht man aber nicht lange darüber nachdenken und begreift schnell, dass das Erhalten von Asyl kein absolutes Recht sein kann, dass immer und jedem zu gewähren ist. Das Asylrecht ist eindeutig ein Anspruchsrecht. Denn, banal gesagt, geht es auch hier darum, dass jemand dem Fliehenden eine Leistung erbringen soll. In reichen Ländern fällt dies nicht sofort auf, aber das Gewähren von Asyl geschieht immer auch nach Kassenlage – es wird so vielen Asyl Beanspruchenden Schutz gegeben, wie der Staat meint sich leisten zu können. Gewiss stehen Menschenrechte nicht unter Finanzierungsvorbehalt, aber Anspruchsrecht tun dies natürlich. Denn irgendwann können Ansprüche eben nicht mehr bezahlt werden.

Auch in der Abtreibungsfrage stoßen diese beiden Rechtsarten aufeinander. Das Lebensrecht des Kindes ist natürlich ein klassisches Schutz- und Freiheitsrecht. Es ist eigentlich unter so gut wie allen Umständen zu wahren – von allen. Anders als das Asylrecht ist das Recht auf Leben und der damit der Schutz vor Mord das klassische Menschenrecht schlechthin.

Auf dem Höhepunkt der ersten Abtreibungsdebatte in der Bundesrepublik schrieb Robert Spaemann 1974: „Wenn es überhaupt Menschenrechte gibt, dann bedeutet dies, daß das Recht des einen Menschen nicht abhängig gemacht werden darf vom Gewissen irgendeines anderen Menschen.“ Aber gerade auf die Gewissensentscheidung der werdenden Mutter wird ja oft hingewiesen, um eine Abtreibung zu rechtfertigen: Auch der Gesetzgeber dürfe der Frau diese Entscheidung nicht abnehmen, d.h. Abtreibung in (so gut wie) jedem Fall verbieten. Damit ist dann aber auch schon das Urteil über den Status des Schutzes des ungeborenen Lebens getroffen: eben kein Menschenrecht. Ein Abwägungsrecht, das sich arrangieren mit den „Persönlichkeitsrechten“ der Mutter.

Der Schwangerschaftskonflikt wird dann gerne so dargestellt, als ob das Freiheitsrecht des Kindes auf das der Mutter stieße. Hier gälte es abzuwägen. Natürlich stößt meine Freiheitsausübung unter Umständen an die Grenzen der Freiheitsausübung meiner Mitmenschen. Schließlich ist menschliche Freiheit immer begrenzte Freiheit. Aber dieser Konflikt wird ja nun nicht dadurch aufgelöst, dass der eine Freiheitsinhaber beseitigt wird. Im Fall einer Abtreibung geschieht aber genau das.

Der Bezug auf das Abwägen zeigt nur zu deutlich, dass es auf Seiten der werdenden Mutter um den Anspruch auf Lebensqualität geht, um „selbstbestimmtes“ Leben (bei Gefährdung ihres Lebens ist die Abtreibung natürlich gerechtfertigt). Die ‘Kosten’ dafür werden auf das werdende Kind abgewälzt. Hier ist also mit am deutlichsten zu sehen, wie allgemeine Anspruchsrechte die Menschenrechte untergraben.

Beide Themen zeigen, dass vor einer sinnvollen Diskussion die Art der Rechte zu klären ist, um überhaupt voran zu kommen. Absurderweise wird beim Asylrecht aus einem Anspruchsrecht ein Menschenrecht, was eine rationale Debatte (wieviele wollen wir aufnehmen?) nur behindert. Bei der Abtreibung sollte sich eigentlich jede Debatte erübrigen, geht es doch um elementaren Lebensschutz. Aber hier wird gerne diskutiert, auf welche Weise sich Abtreibungen reduzieren lassen.

Das Ende vom Lied ist der Staat über dem Recht, der sich darin gefällt, immer neue Recht zu schaffen und sie dann auch durchzusetzen; dafür braucht er Finanzmittel, die er sich nur zu gerne bei den Bürger holt, was widerum die Staatsmacht stärkt und die natürlichen Rechte des Menschen wie das auf Eigentum unterhöhlt. Dabei war das christlich geprägte Ideal des Westens einst ein anderes: Zuerst kommen Rechte, Menschenrechte, Naturrechte, erst dann kommt der Staat, um diese Freiheitsrechte zu schützen.