Ende der Reformation?

Ende der Reformation?

Am 5. Juli kam es in Wittenberg zu einem „bedeutenden ökumenischen Schritt“, so ein litauischer Beitrag von Radio Vatikan: Vertreter lutherischer und methodistischer Weltverbände und ein Abgesandter des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen unterzeichneten erneut die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“. Sie war 1999 vom Lutherischen Weltbund und der katholischen Kirche angenommen worden.

An dem Tag schloss sich außerdem die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) offiziell der Erklärung an, was der Anlass für die feierliche Unterzeichnung war. Der Ort, Luthers Predigtkirche in der Stadt, war natürlich bewusst gewählt worden: Von Wittenberg war die Spaltung der Kirche Europas ausgegangen, nun sollte hier ein Signal der Einheit gegeben werden.

Ab Ende Juni tagte parallel die Generalversammlung der WGRK in Leipzig. Delegierte aus aller Welt nahmen teil, darunter auch eine Vertreterin Litauens. Diese reformierte Kirche hat jedoch dem Beitritt zur Gemeinsamen Erklärung nicht zugestimmt. Im vergangenen Jahr hatte die WGRK ihre Mitglieder befragt, und in Europa stimmten nur eine Kirche aus Irland und unsere Kirche mit Nein. Die Synode 2016 bekräftigte diese Ablehnung.

Für Luther war die Rechtfertigungslehre das A und O der Reformation. „Von diesem Artikel kann man nicht weichen noch nachgeben“, so der Reformator in den Schmalkaldischen Artikeln. Schließlich geht es bei der Lehre um die alles entscheidende Frage, wie Sünder Aufnahme in der Familie Gottes finden können. Seit dem 16. Jahrhundert gab es hier Fortschritte im gegenseitigen Verständnis der Konfessionen. Allerdings liegt ein tatsächlicher „Konsens in Grundwahrheiten“, wie es in der Erklärung heißt, noch nicht vor.

Auf das Ereignis vom 5. Juli nahm auch das litauische katholische Journal „Artuma“ Bezug. Die Sommernummer befasst sich mit Bischof Teofilius Matulionis, eines Märtyrers der Sowjetzeit, der Ende Juni seliggesprochen wurde, und der Reformation. In einem Artikel zur Ökumene heißt es, dass mit der Unterzeichnung in Wittenberg das „grundlegende Problem gelöst“ sei, das zur Kirchenspaltung geführt hat. Nun könne man gleichsam die damals angeschlagenen Thesen Luthers abnehmen und an deren Stelle die Gemeinsame Erklärung aufhängen.

Im Namen der Kirchenleitung nahm Holger im Beitrag „Ar Reformacija baigėsi?“ (Ist die Reformation vorbei?) Stellung zur der Unterzeichnung. Er schildert darin die Hintergründe und begründet die ablehnende Haltung der Kirche Litauens. Der scharfe Ton und die Gewalt der Reformationsepoche gehören der Vergangenheit an. Aber gerade im Jahr der Reformation geht es immer noch darum, evangelisches Profil zu zeigen. In Litauen mit einem Prozent Protestanten und ein paar Tausend reformierten Christen ist es eine Frage des Überlebens, ob die Evangelischen eine klare Identität besitzen oder nicht.

Bei der Unterzeichnung in Wittenberg wurde der Eindruck erweckt, dass weltweit der überwiegende Teil der Protestanten der Gemeinsamen Erklärung zustimmt (tatsächlich erwägt auch die Anglikanische Kirche seit einer Weile die offizielle Unterzeichnung). Man erfährt natürlich nicht, dass z.B. die in der „World Reformed Fellowship“ oder der „International Conference of Reformed Churches“ zusammengeschlossenen Kirchen die Erklärung so gut wie alle ablehnen.

Auch die Mitglieder des „International Lutheran Council“ mit insg. etwa 5 Millionen Lutheranern halten von dem Dokument wenig. Mit Abstand größte Mitgliedskirche des Rates ist die Lutherische Kirche Missouri-Synode aus den USA mit über 6000 Ortsgemeinden (die Stellungnahme der Kirche zur Erklärung findet sich hier). In Deutschland ist die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche (SELK) Mitglied. All diese Lutheraner außerhalb des Lutherischen Weltbundes gehen mit der Erklärung meist streng ins Gericht.

Vor nun fast zwanzig Jahren wurde die Gemeinsame Erklärung nicht nur von besonders konservativen Lutheranern kritisiert. Die Front der Skeptiker auf Seiten der evangelischen Theologen führte damals Eberhard Jüngel aus Tübingen an. „Um Gottes Willen – Klarheit!“, so seine Kurzfassung der Kritik. Ausführlich nahm Jüngel in Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens Stellung. Wenig begeistert zeigte sich auch sein Kollege Ulrich Körtner aus Wien.

Natürlich enthält die Erklärung viel Wahres. Leider bleibt sie an vielen Stellen im Ungefähren, so dass jede Seite den Text entsprechend der eigenen Tradition interpretieren kann. Die alten Konfliktpunkte werden nicht klar genannt und vor allem auch nicht gelöst. Was besonders den konfessionellen Lutheranern Sorge macht (und das ist noch gelinde ausgedrückt), ist die eben eher katholische Vermischung von Rechtfertigung und Heiligung. Sie kommt dummerweise in der Erklärung zum Ausdruck. (Mehr zum Verhältnis beider hier).

Die WGRK hat sich der Erklärung nicht nur angeschlossen, sondern will sie auf eigene Weise bereichern. In einer Pressemeldung heißt es: „Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen schließt sich der Gemeinsamen Erklärung an, indem sie in einer eigenen Stellungnahme die Verbindung zwischen Rechtfertigung und Gerechtigkeit als besonderen reformierten Beitrag zu weiteren ökumenischen Gesprächen über die Rechtfertigungslehre unterstreicht.“

Diese Stellungnahme zeigt jedoch das ganze Elend in der Theologie der WGRK. Tatsächlich schert man sich dort um die klassische Rechtfertigungslehre nicht mehr. Die Frage, wie Sünder Aufnahme in der Familie Gottes finden können (s.o.), ist schlicht kein Thema. Dass Christen eine Gute Erlösungs-Nachricht für die Welt haben, wurde z.B. im Gottesdienst am 2. Juli im Berliner Dom während der Generalversammlung (übertragen vom ZDF) an keiner Stelle deutlich. Dafür ging es um die spezifisch verstandene Gerechtigkeit, die auf der ganzen Welt zu verbreiten sei. Hier wird bekanntlich alles Mögliche vor den Begriff Gerechtigkeit gesetzt: Klimagerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit usw. usf. Das neue Evangelium der WGRK ist die soziale Gerechtigkeit – sie allein, und dies ist keineswegs übertrieben formuliert. Damit  hat man praktisch die katholische Kirche sogar überholt. Diese vermischt Rechtfertigung und Heiligung, viele Evangelische ignorieren Erstere ganz.

Die Stellungnahme zitiert mehrfach das „Bekenntnis von Accra“, das 2004 in der Hauptstadt Ghanas von der WARC (Vorgängerorganisation der WGRK) angenommen wurde. Zentrales Thema des Bekenntnisses (dt. auch „Erklärung“ oder „Glaubensverpflichtung“ genannt) ist die weltweite wirtschaftliche und soziale Ordnung. Nun ist es sicher Aufgabe von Kirchen, in die Gegenwart hinein zu sprechen und Evangelium und Ethik gleichsam zu aktualisieren. Allerdings ist „Accra“ ein äußerst krasses Beispiel für den Missbrauch des Gerechtigkeitsbegriffs. Das Dokument ist von Anti-Kapitalismus nur so durchseucht: Unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung sei „unmoralisch“; die „neoliberale wirtschaftliche Globalisierung“ wird vehement abgelehnt und müsse überwunden werden; die „neoliberale Ideologie“ ist der große Buhmann und schuld an so gut wie jedem Übel in der Welt.

„Accra“ ist selbst ein äußerst ideologisches Bekenntnis – die revolutionäre Rhetorik spricht für sich. Wer von Wirtschaft und auch nur etwas Ahnung hat und die Segnungen des freien Marktes nüchtern sieht, kann solch einem Bekenntnis nicht zustimmen. Natürlich ringt die Menschheit immer noch mit vielen Problemen, doch eine freie Wirtschaft ist gewiss nicht der Grund allen Übels.

Auch in den reformierten Kirchen Zentral- und Osteuropas war man keineswegs begeistert über diese nur allzu bekannte antikapitalistische Sprache und zeigte sich skeptisch. Allerdings sieht man sich in der WARC und nun in der WGRK schon lange als eine Art Avantgarde der linksorientierten Sozialethik. Auf die kleinen und finanzschwachen Kirchen der postkommunistischen Länder nahm dort niemand Rücksicht. So viel zum Stichwort Imperialismus…

Was sagt eigentlich die lutherische Kirche Litauens? Sie bezeichnet sich gerne als konservativ. Man ist freundschaftlich mit der Missouri-Synode verbunden, lehnt die Frauenordination ab und pflegt auch sonst das Image der Rechtgläubigkeit. Jenseits dieser konservativen Rhetorik  vermissen Evangelische jedoch klare Positionen und Stellungnahmen durch die Leitung der größten protestantischen Kirche im Land. Diese nutzt geradezu jede Gelegenheit, protestantisches Profil nicht zu zeigen. Wie die lutherische Kirche zur Gemeinsamen Erklärung steht, ist öffentlich nicht bekannt. Als Missouri-Freund müsste man sie eigentlich ablehnen, aber das würde natürlich den schon seit Jahren gefahrenen Schmusekurs mit der katholischen Kirche stören.

Die reformierte Kirche Litauens ist nicht konservativ geprägt, im Gegenteil. Inzwischen hat man aber gelernt, dass ab und an Flagge gezeigt werden muss. Von anderen evangelischen Kirchen im Land wird dies durchaus begrüsst und geschätzt. Langsam kommt man zu der Erkenntnis, dass nicht nur die Thesen Luthers abgehängt werden sollen – die freundliche Umarmung durch die dominierende Kirche hätte das Ende der Reformation in Litauen zur Folge.

(Foto o.: Vertreter der Kirchen nach der Unterzeichnung am 5. Juli in der Wittenberger Stadtkirche vor dem berühmten Altar der Cranachs. Ganz links Jerry Pillay, Präsident der WGRK, ganz r. dessen Generalsekretär Chris Ferguson.)