Jesus und die Armen (I)
Seit einigen Jahren ist Steve Volke Leiter des deutschen Zweigs des Kinderhilfswerks „Compassion“. Zuvor war er Chefredakteur von Zeitschriften, leitete einen christlichen Verlag und gründete eine PR-Agentur. Im vergangenen Jahr erschien sein Der Sehendmacher (mehr dazu hier). Vor etwa einem Monat stellte Volke das Buch auch im Podcast „Hossa Talk“ vor (#63 Steve Volke: „Eine Begegnung mit echter Armut – und ihre Folgen“).
Beim Hossa Talk laden „Jay“ und „Gofi“ meist einen Gast ein, mit dem dann in einer Stunde locker über ein bestimmtes Thema geredet wird. Im Beitrag mit Volke berichtete dieser viel aus seinem Leben und seiner jetzigen Arbeit – interessante Berichte und Episoden, denen man gut zuhören kann. Volke streute jedoch auch den einen oder anderen Seitenhieb auf die „Bibeltreuen“ ein, denen er selbst entstammt (sein Vater war Hausvater in „Wiedenest“). So würden diese die über 3000 Verse zu Armut und Gerechtigkeit in der Bibel weitgehend ignorieren, was in dieser Schärfe sicher überzogen ist. Den „ganz Frommen“ wurde außerdem vorgehalten, sie würden den Sinn des Beginns der Bergpredigt entstellen.
Das Grundsatzprogramm Jesu
An wen richtet sich die Bergpredigt? Jesu Rede beginnt bekanntlich mit den Seligpreisungen. Und hier machen die Armen den Anfang: Selig sind die Armen, „und zwar nicht nur – wie jetzt die ganz Frommen sagen werden – die geistlich Armen“, so Volke. Nur diese kommen angeblich damit, dass in Mt 5,3 nicht die (materiell) Armen, sondern die „geistlich Armen“ gemeint sind. Volke streicht heraus, bei Lukas hieße es „eindeutig: glücklich sind die Armen“. Gott liebe zwar auch Reiche („Gott hat nichts gegen Reichtum“), „aber die Armen liegen ihm besonders am Herzen“. Wer Jesus nachfolgt, sollte wie dieser eine ganz besondere Beziehung zu den Armen haben. Diese Erkenntnis war für Volke ein „richtig Riesenschritt“.
Auch in einer ERF-Sendung in der Reihe „Gott sei Dank“ vom vergangenen Herbst kommt Volke auf die Bergpredigt zu sprechen. Er habe sie im Zuge seiner Beschäftigung mit Armut „genauer angeschaut“. Er stellte dabei mit Interesse fest, „dass der erste Satz dieses Grundsatzprogramms von Jesus, seine allererste Rede, mit den Armen beginnt.“ Jesu erster Satz, so Volke, war „glücklich sind die Armen“. Er hätte über alle möglichen Themen reden können, doch er „nimmt die Armen in den Fokus“ und sagt ihnen gleichsam: „‘Für euch habe ich eine ganz besondere Botschaft. Ihr liegt mir besonders am Herzen.’ Und das hat mich wirklich überrascht, als ich mich länger damit beschäftigt habe.“
Nach eigenem Bekunden hat Volke den Text „genauer“ angesehen und sich „länger“ mit ihm beschäftigt. Kann das Ergebnis aber befriedigen? Halten wir fest: Der Text in Matthäus selbst (und bei „Hossa“ geht es eindeutig um den Mt-Vers) meint ausdrücklich die geistlich Armen; hier ein Überblick der gängigen Übersetzungen, die sich unterscheiden, aber in ihrer Stoßrichtung ganz eindeutig sind: „Selig sind, die da geistlich arm sind“ (Luther), „Glückselig sind die geistlich Armen“ (Schlachter), „Glücklich zu preisen sind die, die arm sind vor Gott“ (NGÜ), „Glückselig die Armen im Geist“ (Elberfelder), „Freuen dürfen sich alle, die nur noch von Gott etwas erwarten“ (Gute Nachricht), „Glücklich sind, die erkennen, wie arm sie vor Gott sind“ (Hoffnung für alle), „Gott segnet die, die erkennen, dass sie ihn brauchen“ (Neues Leben), „Wie glücklich sind die, die begreifen, wie arm sie vor Gott sind“ (NeÜ), „Blessed are the poor in spirit“ (NIV, ESV).
Natürlich sind die geistlich Armen tatsächlich auch oft die materiell Armen. Volke sagte aber etwas anderes: nach Lukas seien die Armen eindeutig die materiell Armen, und daher sei, so ist es doch wohl zu verstehen, Mt im Licht von Lk zu lesen. Aber war geschieht dann mit dem Wort „geistlich“ bei Mt? Verschwindet es einfach? Ist nicht so gemeint? Meint es tatsächlich materielle Armut? Volke bleibt eine Erklärung schuldig. Es bleibt rätselhaft, wie seine intensivere Beschäftigung mit der Bergpredigt ausgesehen hat. Welche Kommentare hat er gelesen?
Mit leeren Händen zu Gott kommen
Gerhard Maier, immerhin geachteter Bibelinterpret und wohl einer der besten Experten in Sachen Hermeneutik im evangelikalen Raum, schreibt in seinem Mt-Kommentar in der Edition C- Reihe zu Mt 5,3:
„Entscheidend ist die Beobachtung, dass Jesus auch hier an das Alte Testament anknüpft. In der Synagoge von Nazareth und in der Antwort an den Täufer (Lk 4,18ff; Mt 11,5) gibt er zu verstehen, dass er der Erfüller der Endzeitverheißungen Jesajas ist. Nach Jesaja 61,1 aber ist er gesandt, ‘den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden’. Gott will bei denen wohnen, ‘die zerschlagenen und demütigen Geistes sind’ (Jes 57,15). Derselben Hoffnung geben die Psalmen Ausdruck … [Ps 34,19; 51,19]. Woher kommt nach den alttestamentlichen Stellen das Elend? Antwort: Durch die Sünde und die Folgen der Sünde (vgl. Jes 61,4,10; 57,16; Ps34,20,23; 51,16). Mit dem Schlüssel des AT verstehen wir jetzt, wen Jesus in Mt 5,3 meint. Er meint diejenigen, die unter der Last eigener oder fremder Schuld gebeugt sind und ihre innere Armut vor Gott erkennen. Es sind diejenigen, die mit leeren Händen zu Gott kommen. Der Werberuf der ersten Seligpreisung lädt also zerschlagene und demütige Sünder zu Gott ein. … Mit dieser Erklärung haben wir die Auffassung ausgeschlossen, als ob Jesus die äußerlich Armen selig preise. Es kann keine Rede davon sein, dass er an die Seite der politisch oder gesellschaftlich Armen und Entrechteten tritt, wie man das heute öffentlich hört. Eine solche Auffassung greift viel zu kurz, weil sie nicht damit Ernst macht, dass das Elend der Menschen durch die Sünde aller Menschen kommt.“
Maier würde also Volkes Deutung klar widersprechen (man beachte seine kategorischen Begriffe wie „ausgeschlossen“ und „keine Rede“). In seinem Lukas-Kommentar zur dortigen Bergpredigt und „Glücklich zu preisen seid ihr Armen, denn das Gottesreich ist euer“ (Lk 6,20): „Halten wir gleich fest: Es geht um ‘ihr’, nämlich die Jünger Jesu, und nicht um die ‘Armen’ im politischen und wirtschaftlichen Sinn. Armut als solche bringt nicht ins ‘Gottesreich’. Es besteht also kein Widerspruch zwischen Lk 3,20 und Mt 5,3.“
Niemand anders als John Stott (1921–2011) äußerte sich in seinem Bergpredigtkommentar The Message of the Sermon on the Mount wie folgt zu dem Vers:
„At first to be ‘poor’ meant to be in literal, material need. But gradually, because the needy had no refuge but God, ‘poverty’ came to have spiritual overtones and to be identified with humble dependence on God. Thus the psalmist designated himself ‘this poor man’ who cried to God in his need, ‘and the Lord heard him, and saved him out of all his troubles’ (Ps 34:6). The ‘poor man’ in the Old Testament is one who is both afflicted and unable to save himself, and who therefore looks to God for salvation… This kind of spiritual poverty is specially commended in Isaiah [Is 41:17,18] … The ‘poor’ are also described as people with ‘a contrite and humble spririt’; to them God looks and with them… he is pleased to dwell (Is 57:15; 66:1,2). It is to such that the Lord’s anointed would proclaim good tidings of salvation … Further, the rich tended to compromise with surrounding heathenism; it was the poor who remained faithful to God. So wealth and worldliness, poverty and godliness went together. Thus, to be ‘poor in spririt’ is to acknowledge our spiritual poverty, indeed our spiritual bankruptcy before God.“
Materielle und geistliche Armut überlappen sich also zum Teil. Aber zu behaupten, die Armen in Mt 5,3 sind „die“ Armen allgemein, geht zu weit. Stott ist hier eindeutig: Auch er bekräftigt, dass es im Kern um „geistliche“ Armut vor Gott geht, und Stott ist bekanntlich der allerletzte, der die Frage der wirtschaftlichen Not nicht auf dem Radar hatte.
Ein weiterer Vertreter aus der Reihe der großen Evangelikalen des letzten Jahrhunderts sei hier zitiert, Martyn Lloyd-Jones (1899–1981). Seine Deutung des Verses:
„There are those who tell us that it should read ‘Blessed in spirit are the poor’. They seem to derive a certain amount of justification for that from the parallel passage in Luke vi. 2o, where you will read, ‘Blessed be ye poor’ without any mention of ‘poor in spirit’. So they would regard it as a commendation of poverty. But surely that must be entirely wrong. The Bible nowhere teaches that poverty as such is a good thing. The poor man is no nearer to the kingdom of heaven than the rich man, speaking of them as natural men. There is no merit or advantage in being poor. Poverty does not guarantee spirituality. Clearly, therefore, the passage cannot mean that. And if you take the whole paragraph in Luke vi, I think it becomes perfectly clear that our Lord was even there speaking of ‘poor’ as meaning ‘not being possessed by the worldly spirit’, poor in the sense, if you like, that you do not rely upon riches. That is the thing that is condemned, this reliance on riches as such. And obviously there are many poor people who rely upon riches exactly as many rich people do. They say, ‘If only I had so-and-so’, and they are jealous of those who have it. Now if they are in that condition they are not blessed. So it cannot be poverty as such… What our Lord is concerned about here is the spirit; it is poverty of spirit. In other words, it is ultimately a man’s attitude towards himself. That is the thing that matters, not whether he is wealthy or poor.“ (Studies in the Sermon the Sermon on the Mount I)
Lloyd-Jones dreht den Spieß also um, und er ist nicht weniger präzise im Urteil als Maier, ja noch schärfer im Ton, was ja auch die Aussage von Volke trifft: „But surely that must be entirely wrong“.
Sicherlich gehören Maier, Stott, Lloyd-Jones und Billy Graham (der hier auch noch zitiert werden könnte) zu den Frommen, die von Volke wie im Vorbeigehen abgewatscht werden (schließlich hat „die ganz Frommen“ dort ja einen spöttischen Unterton). Nun mag es unter den Christen auch andere Stimmen zur Bergpredigt geben, aber warum werden diejenigen mit dieser traditionellen Deutung (hier wären z.B. auch noch R.T. France, D.A. Carson, W. Barclay und noch viele andere zu nennen) von Volke fast schon lächerlich gemacht? Der Tenor ist klar: Nur irgendwelche zurückgebliebenen ganz Frommen, die sich nicht intensiver mit der Bergpredigt beschäftigt haben, sind noch nicht darauf gekommen, was heute alle fortschrittlich Gesinnten wissen: selig sind die Armen, und zwar nicht nur die geistlich Armen.
Halten wir fest: Jesus nimmt in der Bergpredigt nicht „die Armen in den Fokus“. Was „wirklich überrascht“, ist daher, dass eine angeblich längere Auseinandersetzung mit dem Text zu solch einem Ergebnis führt.
[…] einen Gottesdienst sonntagmorgens zu erleben“, so Steve Volke im „Hossa Talk“ (s. auch Teil I). Das erste sei „ursprünglicher, direkter, wahnsinnig überraschender“. Der Leiter des […]
[…] geleugnet, aber deutlich abgewertet werden. (Ausführlicher s. hier und „Jesus und die Armen“, Teil I und […]