Litauen – im Norden, Westen oder Osten?

Litauen – im Norden, Westen oder Osten?

„Nachfolgestaaten der Sowjetunion“

Kalte Winter, kurze Sommer, und erst im Mai wird es so richtig grün – allein das Klima bezeugt: Litauen liegt gewiss nicht in Südeuropa. Aber wo dann?

Hört man von den „baltischen Staaten“, denken viele an Osteuropa, schließlich liegen die Länder von Deutschland aus gesehen auch in östlicher Himmelsrichtung. Hinzu kommen die Jahrzehnte des Kalten Krieges, der Teilung Europas in Ost und West. Fast ein halbes Jahrhundert begann in den Köpfen der meisten Westdeutschen Osteuropa gleich hinter der Oder, ja irgendwie schon jenseits der Elbe. Schließlich war die DDR ja nur eine Art Vorposten der Supermacht weit im Osten, der UdSSR.

Die baltischen Republiken waren 1940 und dann wieder nach dem Krieg durch Zwang in die Sowjetunion eingegliedert worden. Bis 1990 waren Litauer, Letten und Esten Teil dieses Staatenverbunds. In diesem Sinne gehörten die Länder zu Osteuropa. Aber da will man nun nicht mehr angesiedelt werden.

Am 4. Januar schrieben die drei Botschafter der drei Staaten in Berlin einen Brief an die Chefredaktion der „Zeit“. Sie wiesen darin auf die Serie „Das Erbe der Sowjetunion“ auf „Zeit Online“ hin, die sich laut Untertitel mit der Frage „wie es den Nachfolgestaaten der Sowjetunion 25 Jahre später geht“ beschäftigt (zu Litauen dort hier). Die Diplomaten geben zu bedenken, „dass die Darstellung der Baltischen Staaten als ‘Nachfolgestaaten der Sowjetunion’ nicht der historischen Wahrheit entspricht und gleichzeitig völkerrechtlich unzutreffend ist. Die Baltischen Staaten traten nie freiwillig der Sowjetunion bei. Ihre illegale Einverleibung in die UdSSR infolge der militärischen Okkupation bedeutete deshalb keine völkerrechtlich wirksame Staatennachfolge. Die im Jahre 1940 erfolgte militärische Besatzung und spätere Annexion der Baltischen Staaten durch die Sowjetunion wurde von den meisten westlichen Staaten, darunter auch von der Bundesrepublik Deutschland, de jure nie anerkannt.“

Das ist rein formal und rechtlich natürlich alles korrekt, aber doch etwas spitzfindig. Bei der „Zeit“ im Hamburg wird man sicher denken, dass die Beiträge ja kein Seminar in Völkerrecht geben wollen. Recht hin oder her – faktisch sind auch die baltischen Staaten aus der Sowjetunion hervorgegangen. Über 40 Jahre Kommunismus und Atheismus haben die Menschen auf dem Herrschaftsgebiet der UdSSR kulturell geprägt, ob einem dies schmeckt oder nicht. Aber genauso ist zu verstehen, dass diese Länder nicht ewig ein Etikett mit sich herumtragen wollen, das an die Vergangenheit erinnert. Letztlich wollten die Botschafter auch sagen: Steckt uns nicht für alle Zeiten in die Schublade „postsowjetisch“ und „Osteuropa“.

Fast dreizehn Jahre in EU und Nato, schon einige Jahre im Schengen-Verbund, außerdem nun geschlossen im Euro-Raum – wir wollen, so die Botschafter zwischen den Zeilen, auch in den Medien endlich im Westen ankommen.

Teil des „Westens“

Natürlich liegt Litauen im rein geografischen Sinne nicht in Westeuropa. Dazu gehören z.B. die Benelux-Staaten und Frankreich. In dieser Hinsicht liegt das Land in Mitteleuropa, und dort am östlichen Rand. (Wobei in Litauen ja gerne betont wird, dass der geografische Mittelpunkt des Kontinents ca. 20km nördlich von Vilnius liegt!) Manchmal wird hier auch weiter unterschieden und bei Polen, der Slowakei, den baltischen Ländern usw. von „Zentraleuropa“ gesprochen. Litauen gehört dann zum nördlichen Zentraleuropa.

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Auf der Karte „Großgliederung Europas“ gibt es zusätzlich auch noch Linien, die den Kontinent nach „kulturräumlichen Kriterien“ aufteilen. Uns interessiert hier die Grenzlinie, die Mitteleuropa von Ost- und Südosteuropa trennt. Dies ist die Linie, die historisch und kulturell den „Westen“ markiert, d.h. nach Osten abgrenzt. Westeuropa ist zwar streng genommen nur der Westen Europas, aber zum „Westen“ als Raum der Kultur und der Werte – dazu und zu diesem eher politisch-kulturellen Westeuropa will man auch in Litauen gehören.

Samuel P. Huntington zieht in seinem Bestseller Kampf der Kulturen (1998; orig. The Clash of Civilizations) eine kulturell-politische Linie zwischen den Ländern der lateinischen, westlichen Christenheit und denen der östlichen, orthodoxen Prägung (einschließlich der Länder, die lange vom Islam beherrscht worden waren). Daher teilt er Europa mit einer Linie von Lappland, am Baltikum vorbei bis auf den Balkan, wo es einen Knick hinüber zu Adria gibt. Auch die Karte oben folgt diesem Ansatz.

Zu (West-)Europa gehören also die katholisch und protestantisch geprägten Staaten, die von Rom aus christianisiert wurden und die lateinische Schrift benutzen. Östlich davon liegen jene Länder, die von Ost-Rom/Byzanz aus missioniert wurden, sich unter orthodoxen Kirchen (bzw. dem Islam) entwickelten und in denen meist bis heute mit kyrillischem Alphabet geschrieben wird.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Ostgrenze von EU bzw. Nato mit dieser Grenze weitgehend übereinstimmt. Nur der „orthodoxe“ Balkan ist gleichsam zum politischen Westeuropa hinzugetreten. Die vielfachen Probleme dieser Länder, ihr deutlicher Rückstand in mancherlei Hinsicht und nicht zuletzt die recht großen Sympathien mit Moskau zeigen, dass man dort historisch-kulturell dem „lateinischen“ Europa nicht so ganz zugehört (zugehören will).

Bei den baltischen Ländern gibt es diese Zweideutigkeiten nicht. Huntington: „Die baltischen Republiken sind die einzigen früheren Sowjetrepubliken, die in Bezug auf Geschichte, Kultur und Religion eindeutig westlich sind, und ihr Schicksal ist immer schon ein Hauptanliegen des Westens gewesen.“ Religions- und Pressefreiheit, funktionierende Demokratien und Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte – all das markiert einen Graben zwischen dem Baltikum und den Nachbarn im Osten.

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Die kulturellen Weltregionen nach Huntington

„Northern Europe“

Auf der abgebildeten Karte werden nur die skandinavischen Länder zu „Nordeuropa“ gerechnet, was ja eine lange Tradition hat. Die Esten zeigten schon vor Jahren Ambitionen, doch lieber als Teil Skandinaviens anstatt des Baltikums angesehen zu werden. Hier spielt natürlich die enge sprachliche und kulturelle Nähe zu den Finnen eine Rolle. Dennoch wurde Estland dort nicht ‘eingemeindet’.

„So leben wie in Schweden“ ist aber schon seit einem Vierteljahrhundert das Sehnsuchtsmotto in Lettland wie Litauen. Auf Schweden blicken und zeigen die Politiker hierzulande gerne; an dem Wohlstand und dem Erreichten im Land auf der anderen Seite der Ostsee orientiert man sich gerne. Im politischen Alltag wird gar nicht so viel übernommen, aber so wird ausgedrückt, dass man eigentlich in der skandinavischen Liga spielen möchte.

Nun bekam diese Sehnsucht zu Jahresanfang eine gewisse Bestätigung, so schien es zumindest. In Internetportalen tauchte, angestoßen durch einen estnischen Politiker, die Nachricht auf, das Baltikum gehöre nun ‘offiziell’ zu Nordeuropa; auch die sozialen Medien verbreiteten die Neuigkeit eifrig. Tatsächlich ordnet das Amt für Statistik der UNO Litauen, Estland und Lettland Nordeuropa zu – dies aber schon seit einer Weile. Aufmerksam wurde man darauf, als der jüngste Datensatz, gegliedert nach Regionen, im Herbst 2016 auf den Seiten der UNO veröffentlicht wurde (s. hier).

Demnach werden „Northern Europe“ Skandinavien, die britischen Inseln sowie das Baltikum zugerechnet. Tatsächlich liegen alle Länder in etwa auf der gleichen geografischen Breite. Zu „Eastern Europe“ werden bei der UNO die ehemaligen Sowjetrepubliken wie Russland, die Ukraine und Moldawien gezählt, aber auch Tschechien, Polen und Ungarn sowie Rumänien und Bulgarien. Makedonien, Montenegro, Serbien, Bosnien sind schon ein Teil von „Southern Europe“. Hier wurde also so manches zusammengeworfen, was politisch, historisch und kulturell nicht unbedingt allzu viel miteinander zu tun hat. Insofern darf auch die Zugehörigkeit Litauen zu den nordischen Ländern nicht überwertet werden.

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Staaten „Nordeuropas“ (violett) als Kategorie in der UNO-Statistik

„Die Republik zweier Völker“      

Diese gefühlte Nähe zu den nordischen Ländern ist auch deshalb eine relative, weil Litauen sich kaum weniger mit den Staaten verbunden fühlt, die im Südwesten und Südosten liegen: vor allem Polen und die Ukraine. Seit Ende des 14. Jahrhunderts waren Polen und Litauen durch eine Personalunion verbunden; einen gemeinsamen Staat bildeten die Länder ab 1569. Die „Rzeczpospolita Obojga Narodów“,  die Republik zwei Völker, die Königliche Republik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen, war vor vierhundert Jahren die Großmacht in Zentral- und Osteuropa. Um 1600 gehörte ein riesiges Gebiet zu dem Staat (einschließlich der Vasallenstaaten Preußen und Kurland). Alles von Posen bis Kiew, von Dorpat bis kurz vor Odessa war von Polen-Litauen beherrschte Erde. 1795 ging die Rzeczpospolita nach der dritten polnischen Teilung schließlich unter; das litauische Gebiet fiel an das Zarenreich.

Polen-Litauen trug nicht unwesentlich zur Herausbildung einer weißrussischen und ukrainischen Sprache, Kultur und Identität bei. Die alten Verbindungen sind mitunter bis heute zu spüren. So war es auch kein Zufall, dass 2004 die Präsidenten aus Polen und Litauen zu Vermittlungen während der Orangenen Revolution nach Kiew geladen wurden; und sie brachten als Kenner der Region und ihrer Mentalität das Kunststück einer Verhandlungslösung fertig.

Historisch gesehen ist Litauen mit Polen, Weißrussland und der Ukraine viel enger verbunden als mit Skandinavien. Heute kann Litauen daher eine Brücke der Staaten im Norden und Westen in diese Region sein. Aus der eigenen Geschichte der Rzeczpospolita wäre auch ein weiteres Erbe für die heutige Zeit fruchtbar zu machen: das halbwegs friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Völker und Religionen. Wie die Karte unten gut zeigt, lebten auf polnisch-litauischem Gebiet um 1600 Katholiken und Orthodoxe, Lutheraner und Reformierte, außerdem Juden und Muslime zusammen (wenn natürlich oft mehr nebeneinander). Schweden und andere Länder im Norden waren damals dagegen geradezu monolithisch lutherisch, und auch in anderen großen Staaten Europas suchte man damals solch eine Vielfalt vergeblich.

PL

Polen-Litauen Ende des 16. Jhdts. Katholiken (helles Ocker), Orthodoxe (grün), Reformierte (violett) und Lutheraner (graublau) in einem Staat (markiert sind auch die Zentren der Täufer und Unitarier, der damaligen „Sekten“)