175 Jahre Baptistengeschichte

175 Jahre Baptistengeschichte

Heute gibt es in Litauen weniger als zweitausend Baptisten. Doch diese kleine Glaubensfamilie kann auf eine recht lange Tradition zurückblicken. Die älteste Gemeinde auf heutigem litauischen Boden wurde in Klaipėda, damals Memel, gegründet. Sie geht auf das Wirken des Deutschen Eduard Grimm zurück.

Bei einem Aufenthalt in der Schweiz hatte Grimm die Bewegung der „Neutäufer“ um Samuel Fröhlich kennengelernt. Diese tauften nur Erwachsene und zwar – wie ursprünglich viele Mennoniten – durch Besprengung. (Aus den „Neutäufern“ gingen die heutigen Evangelischen Täufergemeinden der Schweiz hervor.) Wieder im preußischen Memel hörte Grimm dann von dem britischen Kapitän Joseph Hague über die baptistische Taufe durch Untertauchen. Bald kam Johann Gerhard Oncken aus Hamburg in die Hafenstadt und taufte am 3. Oktober 1841 in der Dange (lit. Danė) sechzehn und im Kurischen Haff neun Erwachsene. Im Oktober 2016 feierte die Baptistengemeinde Klaipėda daher 175 Jahre Bestehen.

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Baptistenkapelle in Memel Mitte des 19. Jahrhunderts

Trotz alle Widerstände (Grimm selbst verlor wegen seines Bekenntnisses die Arbeit) wuchs die Gemeinde innerhalb von zehn Jahren auf etwa zweihundert Mitglieder. 1851 wurde in Memel ein eigener Kirchenbau, „Kapelle“ genannt, eingeweiht (s.o. Illustration und ganz o. ein Foto aus diesen Tagen; das Bethaus in Felde bei Westerstede gilt als das älteste noch erhaltene baptistische Gotteshaus in Kontinentaleuropa und wurde nur ein Jahr vorher errichtet, 1850). Typisch baptistisch missionierte man intensiv; zahlreiche Gemeinden im Memelland und im benachbarten Russischen Reich (Lettland, Litauen) wurden gegründet. Um 1900 gab es in ganz Ostpreußen sogar 37 Gemeinden. Auf Reichsgebiet dominierten die Deutschen, auch wenn in Memel bald zusätzliche litauische Gottesdienste durchgeführt wurden. In der 1889 in Kaunas (damals Russland) gegründeten Gemeinde gab es dagegen drei große Gruppen von Deutschen, Litauern und später Russen. In anderen kleineren Gemeinden überwiegte der litauische oder lettische Einfluß.

Die Wurzeln der lettischen Baptisten liegen übrigens auch in Memel/Klaipėda. Fricis Jekabsons, der erste lettische Baptist, wurde 1855 in der Gemeinde von Memel getauft; es folgten weitere Geschwister aus dem Nachbarland. 1867 konnte eine erste Baptistengemeinde in Riga gegründet werden. 1879 wurde der lettische Baptistenbund von der zaristischen Obrigkeit anerkannt. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges gehörten über einhundert Gemeinden und gut zwölftausend Mitglieder zum lettischen Bund (heute 85 Gemeinden). Bis heute gibt es im südwestlichen Kurland, relativ dicht am Memelland, zahlreiche baptistische Gemeinden.

Nach dem I Weltkrieg entstand 1923 die Gemeinde in Šiauliai, zu der nur Litauer gehörten. Im unabhängigen Litauen konnte der nationale Baptistenbund gegründet, die Arbeit konsolidiert werden. Die Jahrzehnte in der Sowjetunion brachten dann auch für die Baptisten eine große Zäsur. Manche Gemeinde verschwand ganz. Bundesleiter Jonas Inkenas wurde mit Familie nach Sibirien verbannt; nach seiner Rückkehr mussten sie eineinhalb Jahrzehnte in Lettland leben, da der Wohnsitz in Litauen verwehrt wurde. Pastoren gab es nur wenige (und die mußten ihr Geld woanders verdienen); man versammelte sich meist in Privathäusern.

istoriskosios-knygos2Die Geschichte der Baptisten Litauens ist ungewöhnlich gut dokumentiert. Dies ist vor allem  Albertas Latužis zu verdanken. 2009 erschien aus seiner Feder Po Jo sparnais (Unter Seinen Flügeln): die Geschichte der Baptisten Litauens 1841–1990. Latužis, verheiratet mit Nijole, Tochter von Jonas Inkenas, war viele Jahre Pastor der Gemeinde in Klaipėda und leitete den litauischen Bund, zu dem heute acht Gemeinden gehören. In den 90er Jahren arbeiteten wir viel mit ihm zusammen (er war off. Chefredakteur des Journals „Prizmė“, das wir in Šiauliai bei Neues Leben Medien / Nova Vita produzierten; 94, 95 und 99 führten wir mit der Gemeinde Klaipėda Evangelisationen durch, bei denen Evangelist Markus Pfeil von „Neues Leben“ predigte). Bis heute ist Latužis Vorstandsmitglied und Vizepräsident der Litauischen Bibelgesellschaft (in den 90er Jahren gehörte er zum Redaktionskomitee, das die Rubšys/Kavaliauskas-Übersetzung bearbeitete).

Kurz vor der Rente legte Latužis ein wirkliches Meisterstück vor. Über viele Jahre hinweg sammelten er und sein Frau Quellen und Fotos, werteten Tagebücher und private Archive aus, überprüften Angaben und Statistiken. Heraus kam dennoch kein trockenes wissenschaftliches Werk, sonden ein lebendiger Einblick in Freud und Leid der Baptisten. Konflikte, Spannungen und Spaltungen verschweigt der Autor in seinem Buch ebensowenig.

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Albertas und Nijolė Latužis

Die Geschichte der Baptisten im unabhängigen Litauen nach 1990 ist noch zu schreiben. Einige neue Gemeinden wurden gegründet. Hier traten vor allem amerikanische Missionare hervor. Die Freiheit ist so groß wie nie zuvor. 2001 wurde dem Bund als erster der ‘jüngeren’ Kirchen der Status einer „Anerkannten Religion“ zugesprochen. Allerdings ist die Einheit z.T. verloren gegangen: nur noch etwa jeder zweite Baptist ist in einer Bundesgemeinde; die „Freien Christen“ trennten sich 2003 ganz vom Bund (ihr Bund von sieben Gemeinden gehört seit 2014 zur ICOMB, dem int. Verband der Mennonitischen Brüdergemeinden). Und die ‘Muttergemeinde’ in Klaipėda mit ihrem beeindruckenden Gebäude macht eine Krise durch, ist auf ein paar Dutzend Gottesdienstbesucher geschrumpft.

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Baptistengemeinde in Ylakiai

Soweit es sein Krebsleiden zulässt, bei dem es 2016 zu einem Rezidiv kam, ist Albertas Latužis seit Jahren als Pastor der Gemeinde in Ylakiai tätig. Ganz im Nordwesten Litauens, nahe der lettischen Grenze, entstand 1905 eine Gemeinde auf dem Hintergrund der Brüderbewegung. 1907 wurde die Baptistengemeinde im kleinen Ort im heutigen Kreis Skuodas offiziell gegründet. Im vergangenen August feierte man 111 Jahre Gemeindegeschichte! 1931 schloss sich die kleine Nachbargemeinde aus dem Dorf Juodkaičiai an; gemeinsam errichtete man in dem Jahr das Kirchengebäude, das auch heute noch genutzt wird. Die ersten Jahre im russischen Reich gehörte die Gemeinde zum lettischen Baptistenbund, da die meisten Evangelischen am Nordwestrand Litauens zur lettischen Minderheit gehörten. Als 1922/23 mehrere Tausend lettische Baptisten nach Brasilien auswanderten, wurden die Gemeinden im Norden Litauens ebenfalls geschwächt. Seit den 70er Jahren werden in Ylakiai regelmäßig Gottesdienste in litauischer Sprache durchgeführt. Wie auch in den lutherischen Gemeinden in Nordlitauen ist das Lettische nun auch hier weitgehend verschwunden.

Die baptistische Gemeinde in Ylakiai ist übrigens die einzige im Land, die in der Sowjetzeit nicht vom Staat geschlossen wurde.

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In der Gemeinde von Ylakiai (ganz l. A. Latužis, zweiter von r. V. Sereda, Pastor der Bundesgemeinde in Kaunas)