Emigrant, Präsident, Menschenfreund
Am 3. November 1926 wurde in Kaunas Voldemaras Adamkavičius geboren. Einige Monate später fand die Taufe in den Amtsräumen des Regierungschefs von Litauen statt, denn Taufpate des Sohnes eines hohen Beamten war niemand anderes als Augustinas Voldemaras, der Ministerpräsident. Die Eltern des kleinen Voldemaras (oder kurz Valdas) ließen sich bald scheiden. Mutter Genovaitė heiratete wieder; Valdas wuchs mit der deutlich jüngeren Stiefschwester Violeta auf.
Adamkavičius Jun. besuchte das Aušros-Gymnasium in Kaunas. Während der deutschen Besatzung (41-44) war er mit Freunden konspirativ im Untergrund tätig. Die jungen Männer wie Liūtas Grinius, Sohn des letzten demokratischen Präsidenten, und Gabrielius Landsbergis-Žemkalnis, Bruder des späteren Führers der Unabhängigkeitsbewegung, gaben Flugblätter heraus („Jugend, sei auf der Wacht!“).
Die Familie floh vor den nahenden sowjetischen Truppen im Sommer 1944 nach Deutschland. Wie so viele Flüchtlinge aus Zentral- und Osteuropa lebte der junge Litauer in Lagern für „Displaced Persons“, DPs. Im bayerischen Eichstätt richteten Litauer ihr eigenes Gymnasium ein, das Adamkavičius 1946 beendete. Dort lernte er auch seine spätere Frau Alma kennen, die mit Familie aus Telšiai geflohen war. Während der Jahre in Deutschland glänzte Adamkavičius mit besten Ergebnissen in der Leichtathletik und im Basketball. Die Begeisterung für Sport sollte ihn nie wieder verlassen.
Ein Jahr studierte Adamkavičius an der Universität in München, wechselte dann aber als Mitarbeiter des amerikanischen YMCA in das DP-Lager in Augsburg. 1949 siedelte er in die USA über und landete in Chicago. Die Stadt am Michigansee war ein Zentrum der US-Litauer, da sich dort schon Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Landsleute angesiedelt hatten und in den Schlachthöfen und Fabriken arbeiten (hier mehr).
In Chicago trafen sich auch Valdas und Alma wieder. 1951 heirateten beide; die Ehe blieb kinderlos. Anfang der 50er Jahre wurde Adamkavičius in die US-Armee eingezogen, musste jedoch nicht nach Korea in den Krieg, da er in der Heimat andere Soldaten Russisch unterrichtete. Bald verkürzte er seinen Nachnamen zum für Amerikaner wesentlich leichter auszusprechenden „Adamkus“.
Die Emigranten der Nachkriegszeit wurden von den alteingesessenen Litauern unterstützt, aber auch im Traumland Amerika wurde niemandem etwas geschenkt. Adamkus musste direkt mit harter Fabrikarbeit beginnen, verdiente anfangs weniger als einen Dollar in der Stunde. Nebenher studierte er und erwarb 1960 einen Abschluss als Bauingenieur, arbeitete für Unternehmen aus dem Bereich.
Ende der 60er Jahre gelang Adamkus der Wechsel in den Staatsdienst. Ab 1971 war er für die Umweltbehörde der USA tätig; 1981 stieg er sogar zum Leiter der gesamten 5. Region des Mittleren Westens auf. Zu Adamkus Aufgaben gehörte die Reinigung des Michigansees, der in den 70er Jahren in einem schlimmen Zustand war. Dies Kunststück gelang ihm und seinen Mitarbeitern. Bis 1997 arbeitete Adamkus unter sechs US-Präsidenten, was sonst kaum ein hoher Verwaltungsbeamter fertigbrachte (zahlreiche Staatsbedienstete werden bei einem Machtwechsel in Washington ausgetauscht).
Alma war in der Verwaltung von Unternehmen tätig. In den 60er Jahren übernahm das Ehepaar von einem Litauer den Besitz der Ferienstätte „Tabor Farm“, zwei Autostunden östlich von Chicago in Michigan. In den Sommermonaten managte Alma den Betrieb. Tabor wurde somit auch zu einem Zentrum der Vereinigung „Santara-Šviesa“. Die Vereine „Santara“ und „Šviesa“ entstanden nach dem Krieg unter jungen Akademikern und Intellektuellen in Deutschland bzw. den USA. Dort vereinigte man sich 1957 und entwickelte eine rechte intensive Arbeit unter den Exil-Litauern, verlegte Journale organisierte Konferenzen und Diskussionsforen. Adamkus hatte viele Jahre den Vorsitz inne. Heute wirkt „Santara-Šviesa“ in Litauen. Bei der jährlichen Konferenz Mitte Juni taucht auch der alte Vorsitzende gerne auf.
Die Arbeit als Umweltexperte ermöglichte Adamkus Besuche in seiner alten Heimat. Denn trotz des Kalten Krieges war der Rat der US-Kollegen auch in der UdSSR gefragt. In den 70er und 80er Jahren reiste Adamkus regelmäßig in die Sowjetunion und konnte auch nach Litauen gelangen. Der Diplomatenkoffer war immer gefüllt mit Literatur aller Art für die litauischen Freunde.
Die Unabhängigkeitsbewegung begleitete Adamkus von Anfang an. Auch bei der ersten sehr großen Freiluftveranstaltung von „Sąjūdis“ am 23. August 1988 im Vingio-Park konnte er teilnehmen. Adamkus nutzte seine vielfältigen Kontakte in den USA, um Litauen beim Streben nach Freiheit und Souveränität zu helfen.
Politisch aktiv wurde Adamkus bei der ersten Präsidentenwahl in Litauen. Die Exkommunisten der LDDP schickten Algirdas Brazauskas ins Rennen, den letzten Parteichef der Sowjetrepublik. Adamkus leitete den Stab des Gegenkandidaten Stasys Lozoraitis. Dieser war Sohn des Diplomaten und ehemaligen Außenministers Litauens gleichen Namens. Lozoraitis Jun. wuchs in Berlin und Rom auf; in Italien verbrachte er auch die meiste Zeit des Lebens, später arbeitete er in Washington, wo er Adamkus näher kennenlernte. Gegen Brazauskas hatte er kaum eine Chance, musste der Exilant doch den ehemaligen Sowjetbürgern als recht fremd erscheinen.
Lozoraitis erreichte an den Urnen keine 40 Prozent. Vor der nächsten Wahl wurde aber auch Adamkus gedrängt, für das höchste Amt im Staat zu kandidieren. Wieder ein Exil-Litauer, und wieder musste ein Litauer, der Jahrzehnte im Ausland gelebt hat, gegen Vorurteile ankämpfen. Hinzu kam, dass Artūras Palauskas, sein wichtigster Gegenkandidat, gleich mehrere Pluspunkte für sich verbuchen konnte: gerade 44 Jahre jung (Adamkus war schon über 70), im System großgeworden, aber als erster Generalstaatsanwalt des neuen Staates auch um das unabhängige Litauen verdient.
Paulauskas versprach dem Volk, was dies hören wollte, gewann im ersten Wahlgang 45% der Stimmen und sah schon als der sichere Sieger aus. Doch mit gerade 14.000 Stimmen Vorsprung machte Adamkus am 4. Januar 1998 das Rennen. Im Februar zogen Valdas und Alma in den Präsidentenpalast am Daukantas-Platz in Vilnius ein.
Litauen hatte großes Glück mit diesem Präsidenten, der in Litauen deutlich mehr Macht hat als z.B. in den baltischen Nachbarländern oder in Deutschland. Der Präsident leitet die Außenpolitik, beeinflusst die Regierungsbildung und mischt auch sonst in der Innenpolitik mit. Auf internationalem Parkett machte Adamkus immer eine hervorragende Figur. Die Westintegration des Landes wurde weiter vorangetrieben. Ein Höhepunkt seiner ersten Amtszeit war sicher der Besuch von George W. Bush in Vilnius. Am 22. November 2002 sprachen beide Präsidenten vor dem Alten Rathaus in Vilnius (hier eine kurze Reportage). Noch einmal versicherte ein US-Präsident: Kein Jalta und Potsdam mehr! Nie mehr eine Spaltung Europas, die die Balten im Stich lässt!
Wie kaum jemand nach ihm vertrat Adamkus die Werte der westlichen Welt. Mit seinen liberal-konservativen Grundüberzeugungen war er immer ein Mann der Republikaner, aber er kam dabei auch allermeist sehr gut mit dem politischen Gegner aus, sei es nun Clinton in den USA oder die Linken wie Brazauskas in Litauen. „Freier Mensch, offene Gesellschaft, starker Staat“ (s.u. das Plakat) – Adamkus war von seinem Wahlspruch 1997/98 überzeugt. Freiheit und Offenheit ist auf politischen Ausgleich angewiesen. Der Polarisierung in der Politik hat er sich immer entgegengestellt.
Wie das in der Praxis aussieht, konnten wir einmal selbst live erleben. Bei einer Wahlveranstaltung im Dezember 1997 sprach Adamkus auch in Šiauliai, quasi-Heimat für ihn, da am Ort Verwandte wohnten, bei denen er gemeldet war. Der „Saulė“-Kinosaal war mit mehreren Hundert Interessierten proppenvoll. Recht viel Zeit an dem Abend nahm die Beantwortung von Publikumsfragen ein, die auf Zetteln eingesammelt oder direkt aus dem Saal gestellt wurden. Irgendwann meldete sich auch eine strenge Konservative zu Wort, eine Anhängerin von Landsbergis, dem sehr viele in Land jedoch vorwerfen, die Kolchosen der Sowjetwirtschaft ruiniert zu haben. Die Dame kam kaum zum Reden, so laut und fast schon aggressiv stellte sich die große Mehrheit im Saal ihr entgegen. Die Stimmung drohte ganz zu kippen. Adamkus zögerte nicht lange, ging stracks quer durch den Saal bis hin zu der Frau und hielt ihr das Mikro hin und kommentierte zuvor nur kurz: Hier, in diesem freien Land, kann jeder seine Meinung frei und ungestört vortragen! Auf einmal herrschte Ruhe.
So souverän und staatsmännisch trat Adamkus fast immer auf. Dennoch hatte er in der Innenpolitik nicht immer ein glückliches Händchen. Die von ihm 2000 zusammengezimmerte breite Koalition der „Neuen Politik“ zerbrach bald wieder. Und ausgerechnet Rolandas Paksas, dem auch Adamkus den Weg in die große Politik geebnet hatte, trat gegen ihn bei den Wahlen 2002/3 an – und gewann! Dieses Mal hatte es ein junger Populist geschafft. Im April 2004 war der Spuk jedoch schon wieder vorbei: Erstmals in der europäischen Nachkriegsgeschichte wurde ein Präsident in einem sauberen Verfahren durch Parlament und Verfassungsgericht seines Amtes enthoben. Bei den Wahlen im Juni 2004 trat Adamkus, obwohl schon 77, noch einmal an und siegte im zweiten Wahlgang gegen Kazimiera Prunskienė.
Im selben Jahr wurde Litauen in die EU und die Nato aufgenommen. Zwei Jahre lang bildeten Adamkus und Premier Brazaukas ein erfahrenes Tandem an der Spitze von Regierung und Staat – trotz aller politischen Differenzen. 2007 wählte das Wochenmagazin „European Voice“ den Litauer zum „Europäer des Jahres“. 2009 trat Adamkus mit 82 endlich in den Ruhestand. Dalia Grybauskaitė wurde seine Nachfolgerin.
Adamkus war ein großer Brückenbauer vor allem zwischen den Staaten in der Region; er verstand sich hervorragend mit Staatsoberhäuptern in Polen, der Ukraine und Georgien. Wie kein anderer betonte er die Achtung vor dem einzelnen Menschen, hielt die Würde und die Rechte des Individuums hoch. Genau das trennt ihn von den Machthabern in Moskau.
Mehrfach wurde Adamkus zu einem Vermittler in Krisensituationen. Im Herbst 2004 rief ihn der ukrainische Präsident Kutschma an – Adamkus war zu einer Konferenz in Šiauliai, aß im Restaurant. Der Amtskollege bat um Hilfe im heißen politischen Konflikt, der zur Orangenen Revolutionen werden sollte. Kutschma flehte Adamkus an, er möge doch sofort nach Kiew reisen. Dieser brachte noch Präsident Kwasniewski aus Polen und die EU, Javier Solana, ins Spiel. Der ‘Außenminister’ Europas zeigte jedoch wenig Gespür und Interesse für die Lage. Adamkus telefonierte hin und her – und nach einer halben Stunde gab er Kutschma das OK. Am nächsten Tag kamen der Pole und der Litauer nach Kiew.
In der ukrainischen Hauptstadt brachten Adamkus und Kwasniewski die Konfliktparteien an einen Tisch und verhinderten damals blutige Szenen wie Jahre später auf dem Maidan. Adamkus fragte schließlich den späteren Präsidenten Juschtschenko, ob er mit seinem Gegner Janukowitsch bisher schon einmal direkt geredet hätte. Dieser verneinte. Daraufhin organisierte Adamkus ein Pressefoto auf einem Sofa: auf der einen Seite Janukowitsch, auf der anderen Juschtschenko und dazwischen Adamkus. Am Ende erhob sich der Litauer und ließ die beiden allein zurück, die nun tatsächlich ein allererstes Mal persönlich miteinander redeten.
Auch in der EU wurden Adamkus diplomatische Künste geschätzt. Beim Gipfel im Juni 2007 wurde die neue Stimmenverteilung in der Union sehr kontrovers diskutiert. Die Polen um Präsident Kaczynski legten sich quer, sprachen im Stil von Ultimaten und schließlich mit gar niemandem mehr. Merkel bat Adamkus um Vermittlung – wer sonst könne die Polen noch erreichen? Mit seinem Team pendelte Adamkus dann bis um vier in der Nacht zwischen der EU-Spitze und der polnische Seite hin und her; eine Einigung wurde erreicht!
Adamkus verstand sich mit der deutschen Kanzlerin eigentlich sehr gut. Als es im April 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest um die Osterweiterung des Bündnisses ging, plädierte Adamkus dafür, den „Membership Action Plan“ für die Ukraine und Georgien zu starten. Das wäre noch keine Einladung gewesen, nur den Beginn von konkreten Gesprächen über eine Mitgliedschaft in der Nato. Deutschland und andere Länder widersetzten sich. Hier platzte sogar einmal Adamkus der Kragen, denn die Selbstbestimmung freier Völker liegt ihm naturgemäß am Herzen.
Heute ist Adamkus nur noch Elder Statesman und wohnt mit seiner Frau in der Präsidentenvilla im Vilniuser Vorort Turniskės. In diesem Jahr konnten beide diamantene Hochzeit feiern, und am 3. November und in den Tagen danach gab es viel Rummel um den Präsidenten, der seinen 90. Geburtstag begehen durfte. Anfang Januar 2014 wurde bekanntgegeben, dass der körperlich für sein Alter ungewöhnliche fitte Adamkus an Krebs erkrankt ist. Nach fast drei Jahren Behandlungen gilt die Krankheit seit dem Sommer dieses Jahres aber als überwunden.
Zum Gedenken an einen der bedeutendsten Litauer der letzten Jahrzehnte wurde 2011 in Kaunas die Valdas Adamkus-Bibliothek/Museum gegründet, in der regelmäßig Veranstaltungen stattfinden.