Wenn die Gnade keine Grenzen kennt

Wenn die Gnade keine Grenzen kennt

Missionarische Zentren in der Lüneburger Heide gibt es wahrlich nicht zu viele. Hier denkt man sofort an Krelingen zwischen Celle und Verden. Mitten in der Heide liegt die Kleinstadt Hermannsburg, wo Mitte des 19. Jahrhunderts der Erweckungsprediger Ludwig Harms wirkte. 1849 wurde die Hermannsburger Mission gegründet. Unweit des Ortes öffnete 1971 das Haus Lutterloh in Trägerschaft der Gruppe 153 seine Türen. Hier wirkte auch Eckhard Krause, der im Johanneum studiert hatte und Jugendevangelist in der Landeskirche war. Später wurde Krause zum Pastor ordiniert und baute ab 1979 das Missionarische Zentrum Hanstedt in der Nordheide auf. Verantwortlich für das Zentrum ist der Freundeskreis Missionarischer Dienste (FMD e.V.) innerhalb der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Krause ist seit einigen Jahren im Ruhestand, leitet aber weiterhin den Arbeitskreis Weltmission im Vorstand des FMD.

Krause war der bisher älteste Gast beim Podcast „Hossa-Talk“ mit Jay und Gofi. Der Niedersache erzählt den Hessen von seinem Weg zum christlichen Glauben. Er berichtet auch von seiner aktuellen Tätigkeit in einem evangelistischen Projekt in den neuen Bundesländern. Einen Anstoß dazu gab ein Treffen mit Torsten Hebel, Autor von Freischwimmer. Krause empfand eine „ganz tiefe Seelenverwandtschaft“ mit dem Leiter der blu:boks aus Berlin.

Etikettenschwindel

Der altgediente Evangelist will weiterhin die „Lust des Glaubens“ wecken. Krause grenzt sich dabei aber recht scharf von einer in seinen Augen falschen Art der Evangelisation ab: „Es geht nicht darum, Leute fertig zu machen.“ Man solle nicht (mehr) sagen: Wenn du dich nicht bekehrst, wanderst du in die Hölle. Es gehe vielmehr darum, „Menschen mit Wohlwollen und Achtung zu begegnen und ihnen mitzuteilen, dass sie längst von Gott Geliebte und Erlöste sind. Sie müssen’s nur wissen und sich daran freuen. Und da waren wir plötzlich [mit Hebel] auf einer Ebene“.

Gewiss sei auch heute noch zu missionieren, doch das „Anpredigen funktioniert nicht mehr“. Mit Hebel und einem Team ist Krause nun in den neuen Bundesländern mit einem „eigenartigen Konzept“ unterwegs; da wird „nicht so frontal“ verkündigt, und es geht vor allem darum, „Wertschätzung rüber[zu]bringen“.

Krause ist überzeugt, dass diese Diskussion um Methoden vor allem eine Frage der Theologie ist, und diese müsse sich ändern. Wir müssen „gründlich nachdenken“ und uns fragen, „ob wir eine reformatorische Theologie haben“. Er gibt Röm 5,8 wieder (verortet den Vers aber in Röm 3) und meint: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die geliebte Kinder Gottes sind, und das wissen sie nicht.“ In der Evangelisation sind die Plätze aufzusuchen und aufzuzeigen, „wo Gott in ihrem Leben längst präsent ist – sie können es nur nicht erkennen“. Auf diese Weise gehe man anders mit jemandem um, „als wenn man ihn erlösen will, damit er nicht in die Hölle kommt. Ein total anderer Umgang. Und ich denke, da muss gearbeitet werden.“

„Für mich ist Luther ganz nah im Leben verwurzelt“, so Krause. Für ihn steht  „reformatorisch“ keineswegs für ein „ganz starres Denkgebäude“ wie Gastgeber Gofi dies empfindet. Er will, ganz lutherisch und protestantisch, das „allein aus Gnaden“ wieder in den Mittelpunkt rücken.

Hossa-Talker Jay kommt noch auf die „Frage nach dem Gottesbild“ zu sprechen. Krause gibt nun der gesamten Evangelisation einen interessanten Dreh: Er will nach der „Bedürftigkeit Gottes“ fragen. Es sind gar nicht so sehr wir, die Gott brauchen – Gott braucht uns. Er will daher in der missionarischen Verkündigung Gott diese Welt wieder zurückgeben, ja auf diese Weise „Gottes Leiden mindern“.

Folgt man Krauses Anweisung und beginnt tatsächlich gründlich nachzudenken, kommt man nun endgültig ins Stutzen. Wenn alle schon Kinder Gottes, Teil seiner Familie, sind, warum leidet Gott dann noch? Aber noch ernster: Ist das reformatorische Theologie? Nicht in erster Linie wir brauchen Gott, sondern Gott braucht vor allem uns? Also fehlt ihm etwas in ganz objektivem Sinne? Bedeutet Gottes vollkommene Liebe, dass er ohne erlöste Menschen unvollkommen ist? Benötigt er, um wirklich ganz Gott zu sein, möglichst viele oder alle seine personalen Geschöpfe, die Menschen, in versöhnter Einheit mit ihm? Haben wir seine Liebe so zu verstehen?

Man mag so einen Gott irgendwie sympathisch finden, und wir finden daran wohl eine Art Gefallen – Gott braucht uns. Aber was heißt das? Hat Krause selbst einmal darüber nachgedacht, was solche Sätze bedeuten? Um wirklich Gott zu sein, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Menschen zu erlösen. Um Gott zu sein, um ‘erfüllt’, befriedigt, ganz Gott zu sein, musste er demnach rettend handeln. Absurderweise geht damit die Gnade selbst verloren. Dabei ist Gnade doch die freie Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf. Gott hat tatsächlich nicht die Möglichkeit in sich selbst ein ungnädiger Gott zu sein – er muss ein Gott voller Gnade sein wie er auch sonst allen seinen Eigenschaften treu ist und sie mit Notwendigkeit besitzt. Doch dies heißt nicht, dass er konkrete Handlungen außerhalb seiner selbst in Schöpfung und Neuschöpfung ausführen musste und muss. (Hier kommt die Kunst der Unterscheidung zum Tragen, die nun aber gerne diffamiert wird, s.u.) Auch Gottes Selbstbindung an Versprechen widerspricht dem nicht. Er bindet sich eben frei an sein eigenes Wort. Gott ist in sich an sein Wesen gebunden (er kann nicht Nicht-Gott sein), aber er handelt frei.

Im Rahmen der sog. allgemeinen Gnade ist Gott allen Menschen gnädig, aber nicht, weil er dies muss. Nach der Flut hat er den Menschen den Bestand der Regelmäßigkeiten auf Erden frei zugesagt, und davon hat jeder Mensch auf unterschiedliche Weise Nutzen (s. Mt 5,45). Gott ist aber nicht verpflichtet es über jedem gleich viel regnen und gleich lang die Sonne scheinen zu lassen. Und er ist schon gar nicht verpflichtet jeden zum Nutznießer seiner speziellen Gnade, die Heil schafft, zu machen. Wenn hier in Allgemeinheit etwas geschehen muss, so ist es keine Gnade. Und noch schlimmer: Bei Krause ist Gott letztlich sich selbst gegenüber gnädig. Den allergrößten Gefallen tut er sich im Erlösungshandeln selbst. Und der Mensch kann auf einmal mit echten Verdiensten bei Gott aufwarten, denn er bringt Gott etwas, was dieser wirklich braucht und was ihm nur der Mensch geben kann. Echte Verdienste sind aber mit vollkommener Gnade unvereinbar. Die Gnade soll groß gemacht werden, doch sie wird zerstört. Noch einmal: Ist das etwa gut reformatorisch?

Dieses Gottesbild erklärt natürlich die neuartige Evangelisationspraxis. Alle Menschen seien als Kinder Gottes, als Erlöste, anzureden. Sie sind es schon, wissen es aber subjektiv noch nicht. Der Mensch ist nicht Rebell, sondern Unwissender. Sah Paulus das wirklich genauso??

Es scheint, dass Krause den EKD-Grundlagentext „Für uns gestorben – Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi“ studiert hat. Dort heißt es: „Wer glaubt, fängt nicht erst an, sich mit sich selbst, anderen und Gott zu versöhnen. Vielmehr fällt es ihm in hellen Augenblicken wie Schuppen von den Augen, dass er schon mit Gott versöhnt ist… Ich kann einfach anerkennen, dass ich schon längst versöhnt bin.“

Betrachtet euch als Versöhnte! – Ist das der evangelistische Ruf, den wir im Neuen Testament finden? Hier wird die Aufforderung zu Glaube, Buße und Umkehr banalisiert. Krause polemisiert gegen die Höllenpredigt, aber wie sieht dann die Frucht seines gründlichen Nachdenkens über die einschlägigen Texte im NT aus? Die von Gott Erwählten, für die Christus gestorben war, sind dennoch bis zum Moment der Umkehr in der Finsternis (Eph 5,8), tot in Sünden (Eph 2,1.5; Kol 2,13). Oder etwa nicht? Gott ruft dann aus dieser Finsternis heraus (1 Pt 2,9), werden so aus „Fremden“ „Gottes Hausgenossen“ (Eph 2,19). Auch diejenigen, die einmal bewusst mit dem Glauben beginnen, sind vorher nicht schon Gerechtfertigte oder Versöhnte.

Wenn also in der Apostelgeschichte Menschen die inneren Augen aufgetan werden, wenn es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt, dann erkennen sie eben nicht: „Oh, wir sind Versöhnte! Welche ein Glück!“ Nein, es ist eher schon ein verzweifeltes „was sollen wir jetzt [bloß] tun?“ wie nach der Pfingstpredigt (Apg 2,37). Was sollen wir tun angesichts des eigenen Elends? Um getrost und selig sterben zu können, ist nach dem Heidelberger Katechismus zuerst zu erkennen, „wie groß meine Sünde und Elend ist“ (Fr. 2). Ich kann hier keine Kontinuität mit dem biblischen Text und dem reformatorischen Erbe erkennen. Wenn Krause seine neue Theologie als reformatorisch bezeichnet, würde ich dies schlicht Etikettenschwindel nennen.

„Er ist hier, in dir“

Sich als Versöhnte anzuerkennen – genau dies ist übrigens auch die gute Nachricht à la Roger Schutz. Der Gründer der Kommunität von Taizé betonte: „In jedem menschlichen Wesen wohnt der Heilige Geist“. Wiederholt lehrte er, dass die Menschen begreifen müssen, dass „das Wesentliche“ (und das meint doch wohl die Versöhnung mit Gott) im Menschen, in jedem Menschen, schon geschehen sei. Daher fragt er rhetorisch: „Ist die Kirche im Herzen Gottes nicht so weit wie die Menschheit?“ (Kathryn Spink, Frère Roger – Gründer von Taizé).

Auch in Dieu ne peut qu‘aimer (Gott kann nur lieben) schreibt Schutz: „Einige erfahren aus der Heiligen Schrift, dass der Heilige Geist in ihnen lebt. Es gibt auch diejenigen, die dies noch nicht wissen. Und dann sind da schließlich diejenigen, die dies nicht mehr auf dieser Erde erkennen, es aber im ewigen Leben finden werden.“ Die Botschaft ist also eindeutig: Keiner geht wirklich verloren; es ist nur eine Frage des bewussten, subjektiven Wissens um die schon geschehene Erlösung. Evangelisation im eigentlichen Sinne ist daher auch nicht nötig.

Der Bestseller The Shack, dt. Die Hütte, lehrt im Grunde nichts anderes. C. Baxter Kruger, Freund des Hütte-Autors W. P. Young, fasste den theologischen Gehalt des Romans in Revisiting the Shack zusammen. Der deutsche Titel dieses Buches zeigt gut, worum es geht: Wie wir Gott begegnen: DIE HÜTTE und das neue Bild von Gott – genau: ein neues Bild von Gott. Kruger meidet zwar auch das Etikett „Universalist“, betont aber mehrfach: „Durch Jesus wurde der Heilige Geist auf die gesamte Menschheit ausgegossen…“ Wir alle sind schon in das Leben der Dreieinigkeit aufgenommen, alle sind „geliebt, anerkannt, in Ewigkeit umarmt und adoptiert“. Für manche ist dies nur noch nicht Lebensstil oder lebensbestimmende Wirklichkeit geworden. Krugers missionarische Gespräche gestalten sich so, dass er Ungläubigen zusagt: „Er [Jesus] ist hier, in dir“.

Nicht zufällig hält auch Krause viel von Taizé. Und wie heute schon fast üblich kann er nicht mehr viel mit der Allmacht Gottes anfangen, dieser „bittet, bettelt, buhlt“ bei ihm nur. Ganz gewiss ist dies nicht der Gott Augustins, Anselms und Aquins, nicht der Gott Luthers, Zwinglis und Calvins. Von einem souveränen Lenker von Welt und Geschichte keine Spur.

Dem traditionellen Gott kreiden viele nun die Erwählung an – sie ist der Stolperstein, wegen dessen eben nicht alle erlöst sind. Gott wird vergeben, und zwar jedem, „denn das ist schließlich sein Geschäft“, so Voltaire (und ähnlich auch Heinrich Heine). Liest man die Bibel nüchtern, kommt man im Leben nicht auf solche Gedanken. Erwählung durchzieht sie von vorne bis hinten, wobei Erwählung natürlich in mehreren Weisen gebraucht wird. Es gibt Erwählung in der Geschichte, d.h. von Menschen oder Völkern zu bestimmten Aufgaben, und eine ewige Erwählung zum Heil (Eph 1,4). So ist ein Jude Mitglied des auserwählten Volkes, aber nicht unbedingt zum Heil erwählt. Das zugrundeliegende Prinzip ist aber dasselbe: Gott schenkt aus Gnade Auserwählten etwas, anderen nicht.

Die Erwählungslehre erfreut sich keiner Beliebtheit in den Gemeinden, Prädestination ist für viele sogar ein massiver Stein des Anstoßes. Wir sind heute schon so von einem falschen Egalitarismus angesteckt, dass wir frech fordern: Gott hat gefälligst alle gleich zu behandeln, völlig gleich. Es gehe ja wohl nicht an, dass er dem einem gnädig ist und dem anderen nicht. Wir sind schon so mit unserem Glauben an Anspruchsrechte durchseucht, dass wir überzeugt ist: Wir haben auch auf Erlösung ein Recht. Doch Gnade, die ein Rechtsanspruch ist, ist keine Gnade mehr.

Die Erwählung ist aus der Bibel kaum herauszufiltern. Im NT finden wir die Begriffe eklego / ekloge 21 Mal, meist im soteriologischen Kontext. An einigen Stellen wie in Apg 13,48 wird sie gleichsam wie nebenbei berührt; woanders schreibt Paulus wie in Eph 1,3–6 ausführlicher. (S. auch Röm 8,28–39; Eph 1,3–14; 1 Thes 1,4–5; 2 Thes 2,13–14; 1 Tim 5,21; 2 Tim 1,9–10; 1 Pt 1,1; 2,9; Of 13,7–8.) Die Erwählungslehre wird von allen reformatorischen Kirchen in ihren Bekenntnissen klar gelehrt, seien es nun die Lutheraner, Anglikaner oder die Reformierten. Aber wen jucken schon Bekenntnisse?

„Die ganzen Dogmen mal weglassen“

Krause ermahnt die Christen, sie sollen doch endlich in der Postmoderne ankommen. Er will dem Philosophen Lyotard aber nicht folgen, der vom Ende der Großen Erzählungen sprach. Wir sollten vielmehr die Große Erzählung von Jesus in den Mittelpunkt stellen, dabei jedoch „die ganzen Dogmen mal weglassen“. Er fordert auf ins Zentrum zu gehen: Jesusgeschichten erzählen, keine Lehre verbreiten – „das ist die Mitte; da müssen wir hinkommen“. Ein Evangelist habe die Haltung eines Diener anzunehmen, „nicht [die] eines Herren, der lehrt“.

Gofi pflichtet ihm bei und ergänzt: „Die Bindung ans Dogma geht immer einher mit Angst“. Man müsse unterscheiden zwischen Bindung an ein Bekenntnis und an eine Person. Krauses Position gibt er so wieder: Es geht um die Person Gottes, „und über den Rest können wir reden“. Jay weist darauf hin, dass Jesus keine systematische Theologie verkündet hat. Er plädiert für ein Gegründetsein in der Liebe Gottes; wir sollten „undogmatisch an der Person Gottes hängen“ – „das fehlt uns Christen ganz oft“. Auch er hält nichts von einer „bekenntnishaften Bindung“, denn so würden Bekenntnisse und Dogmen zu Mittlern, nicht Jesus.

In einem Exkurs in die aktuelle Politik (Stichwort Rechtsruck) wird bei den „einfältigen Leuten“, die AfD wählen und Pegida toll finden, das starke Sehnen nach Einfachheit und Klarheit diagnostiziert. Krause sieht aus dem rechten Lager (das bei ihm gleich braun erscheint) „nur destruktive, zerstörerische Ansätze“ kommen. „Hier müssen wir Antworten finden“. Ähnliches gilt aber auch für die gerade von den dreien skizzierte theologische Position. Die Ablehnung der Bekenntnisse, die Verachtung alles Dogmatischen, die Zurücksetzung jeder Lehre, ist gespeist von einer Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit, und sie ist im Ergebnis für den Glauben destruktiv und zerstörerisch.

Denn man fragt sich: Wie soll diese dogmen- und bekenntnisfreie Verkündigung aussehen? Es scheitert ja schon bei den kleinesten Anfängen. Undogmatisch an der Person Gottes hängen – was ist die „Person Gottes“ anderes als eine Lehre, ein Bekenntnis, ein Dogma? Die genauere Formulierung der Personalität Gottes war bekanntlich die Frucht theologischen Nachdenkens (der Begriff Person für Gott, gr. prosopon, befindet sich ja nicht in der Bibel) und wurde in Bekenntnisse gefasst. Warum an seinem Personsein festhalten, sich daran binden? Warum nicht dann den Mut haben und einfach sagen: Glaub doch an irgendeinen Gott wie an eine unpersönliche Kraft – an was immer du dir unter Gott vorstellst.

Gleich kommt aber Jesus ins Spiel. Wir sollen uns dennoch an ihn binden. Und eine Person ist der ja wohl gewiss. Warum aber an ihn? Warum nicht an jemand anderen? Weil er Gott ist! Weil er der Herr ist! Weil er der Retter ist! All das liegt nicht auf der Hand, ist nicht offensichtlich und daher auch umstritten (C. Brudereck, s.u., mag „Herr“ nicht). Alles ist Dogmatik, Lehre, Bekenntnis. „Jesus ist der Herr“ ist das christliche Urbekenntnis. Es gibt eben nicht den puren, reinen, den dogmatikfreien Jesus. Sich an Jesus binden – an welchen denn? An den der Zeugen Jehovas? Oder der Mormonen? Oder der Muslime? An den aus den Schriften von Deepak Chopra oder den des Dalai Lama? Können wir uns da etwas aussuchen?

Die Bindung an Jesus kommt nicht aus ohne die Frage, wer dieser Jesus war und ist. Ein Gott? Ein Halbgott? Nur ein besonders begabter Mensch? Jeder darf sich binden an wen oder was er oder sie will; die Frage ist natürlich der Nutzen dieser Bindung. Welche Bindung rettet? Und damit sind wir, ob wir es nun wollen oder nicht, automatisch mitten in der Lehre und der Dogmatik. Die Forderung, Dogmen einfach mal wegzulassen, ist schlicht und einfach Pegida-dumm.

Natürlich soll man bei der evangelistischen Verkündigung nicht in eine Dogmatikvorlesung hineinrutschen, und gewiss darf man Zuhörer, die erst noch für den Glauben gewonnen werden sollen, nicht mit systematischer Theologie überhäufen. Doch haben die großen Prediger von Spurgeon über Lloyd-Jones bis hin zu Billy Graham und Anton Schulte Elemente der Lehre gemieden? Waren sie deshalb etwa in den Augen Krauses Anprediger? Wie sehr sie sich im Verlauf der Geschichte auch wandeln mag – kommt der Glauben nun nicht mehr aus der Predigt?

Krause findet es schlimm, dass selbst Christen sich nach rechts wenden. „Wer AfD wählt, ist kein Christ“, so entfuhr es ihm bei einem Gemeindevortrag. Und er gesteht selbst ein, dass er dies so nicht hätte sagen dürfen. Was wir aber in diesem theologischen Zusammenhang sagen können, ist dies: Wer einen bekenntnis- und dogmenfreien Jesus verkündet, ist kein Evangelist, denn der Christus, der das Evangelium ist, ist nicht irgendeiner – er ist ganz Gott und ganz Mensch, der Sohn Gottes, die zweite Person der Trinität, geboren, gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgenommen, der Schöpfer, Retter und dereinst Richter der Welt. Er ist der Jesus der Bibel, der Lehre und der Bekenntnisse.

Gresham Machen (1881–1937) ging in seinem Klassiker Christianity and Liberalism (1923) auf diese Zusammenhänge ein (auch auf dt. vorliegend: Christentum und LiberalismusWie die liberale Theologie den Glauben zerstört). Im zweiten Kapitel („Doctrine“, Lehre) betont der Presbyterianer, dass es nutzlos ist, von einem Vertrauen in die Person zu sprechen, ohne die Botschaft des Neuen Testaments zu glauben. Denn wir brauchen die Deutung der Heilsereignisse: „‘Christus starb’ – das ist Geschichte, ‘Christus starb für unsere Sünden’ – das ist Lehre. Ohne diese beiden Elemente, verbunden in unauflöslicher Einheit, gibt es kein Christentum.“ Für das Heil nötig sind die Berichte über die historischen Ereignisse und ihre Deutung. Laut Machen ist Lehre die Darstellung der grundlegenden Tatsachen des christlichen Glaubens mit ihrer wahren Deutung, d.h. so wie sie die Bibel vornimmt. Sein Schluss: „Christliche Lehrsätze bilden die Wurzel des Glaubens.“ (S. dazu auch die Nr. „Doctrine Matters“ des Credo Magazine.)

„Am Ende war Gott ein Brücke“

Die grenzenlose Gnade war auch das Thema von Christina Brudereck in ihrem Vortrag „Ich möchte nicht das Aber sein, sondern das Und“ beim diesjährigen Emergent Forum in Niederhöchstadt bei Frankfurt im September.

Gott versöhnte die ganze Welt mit sich, so die Theologin und Autorin aus Essen, „Gott versöhnte uns ganz“. „Der Mensch neigt wohl zum Einteilen, Verurteilen und Zerlegen; das gibt ihm Sicherheit“. Sie setzt aber noch einen drauf: „Unterscheiden, abgrenzen, ausgrenzen, trennen, werten, urteilen, richten: das ist die gedankliche Basis für Rassismus, Sexismus, Krieg, Apartheid, Homophobie und Vorurteile. Abgrenzung ist ein mieser Götze.“

Weiter im Hinblick auf das Heil: „Es gibt nicht die anderen, die verloren gehen, und uns, die gerettet sind – weil wir was? Uns für Gott entschieden haben? Weil wir was – geisterfüllter waren? Schlauer, schneller frömmer? Gerechter, besser, in Westeuropa geboren? Zufällig in einer christlichen Familie aufgewachsen? Glück hatten, getauft worden zu sein oder ja sagen konnten? Weil Gott uns lieber hatte? Wieso?“ Sie betont, dass Gott keinem von uns fern, dass Gottes Liebe nie an Bedingungen geknüpft ist. Natürlich gibt Brudereck auch Gal 3,28 wieder, ein Schlüsselvers für jede egalitaristische und inklusivistische Agenda. „Die jesuanische Gemeinde hat Platz ohne Aber“.

Die Verwerfung allen Einteilens hat in Bruderecks Augen auch eine „hochpolitische Dimension“: „Staaten teilen eifrig ein und grenzen brutal aus“. Gerade bei der Frage der Einwanderung wird immer mit Kategorisierungen gearbeitet, was sie natürlich ablehnt. Man möchte gleich zurückfragen: Sind Landesgrenzen und Staatsbürgerschaften und Einwanderungsregeln damit etwa an sich moralisch verwerflich und Sünde?

Gnade ist für sie das Verbindende, das Und. Sie will das Trennen ganz verlernen, aber auch am Zorn Gottes und am Gericht festhalten. Sie vertraut aus tiefstem Herzen darauf, dass die Gnade auch die Hölle leerlieben wird. (Etwas seltsam erscheint der Glaube „an die verwandelnde Kraft des Fegefeuers“.) Bruderecks bekräftigt ihre „Absage an den Dualismus“, und diese Absage „an das Trennen und Spalten erreichte Gott selbst“. Sie ertrage es in Gottesdiensten kaum noch, wenn von Gott nur als Vater, Herr, Hirte die Rede ist; sie will zur Mutter beten. Gnade soll die Gottesrede weiten, man solle Gott nicht festlegen.

Einmal wieder erweist sich Brudereck als Wortmeisterin, bei der jeder Satz sitzt. Ihre geschliffenen Ausdrücke ändern nichts daran, dass hier eine Torheit nach der anderen angepriesen wird. Unterscheiden, werten und urteilen sind im Leben unvermeidliche Handlungen, die wir tagtäglich praktizieren (ich gehe davon aus, dass auch Brudereck zwischen „mein“ und „dein“ unterscheidet, spätestens dann, wenn es ums Honorar geht); diese Handlungen mit den aufgelisteten heutigen Lastern in einen Topf zu werfen, ist nichts anderes als töricht. Ich würde auch das Gegenteil behaupten: Um nicht populistischen Rattenfängern zu folgen, müssen wir selbst die Kunst der Unterscheidung möglichst gut beherrschen; andernfalls lassen wir uns durch plumpes Gerede und bloße Phrasen beeindrucken. Wie soll denn dem von Krause beklagten Rechtsruck beizukommen sein, wenn das Vermögen der Wertung, Unterscheidung, Einordnung, Differenzierung nicht gelernt wird??

Die von Brudereck geforderte Absage an den Dualismus ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Alle Tyrannen und Diktatoren, alle Menschenverächter der Geschichte an den Spitzen der Macht, waren Monisten. In ihnen fiel angeblich alles in eins: Recht, Macht, der Wille des Volkes, Schicksal und die Gottheit. Ohne Dualität keine Freiheit, kein Recht, keine Individualität!

Die grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen Gott und seiner Schöpfung; aus ihr strömen gleichsam die anderen Unterscheidungen heraus. Und sie ist die ‘Erfindung’ von Juden und Christen. Die Welt ist nicht Gott, sondern von ihm gemacht. Daher sind Menschen, und seien sie noch so mächtig, auch keine Götter. Ist die Welt nicht göttlich, öffnet sich Raum für die Unterscheidung von Mensch und dem Rest der geschaffenen Welt – Menschen sind selbst Teil von Gottes Welt, stehen ihr aber auch gegenüber, sollen sie kultivieren.

Jan Assmann erinnert daran, dass die „Nichtunterscheidung von Gott und Welt“ das Wesen des antiken Heidentums ausmachte. Dessen Polytheismus nennt er lieber „Kosmotheismus“, denn dort lässt sich „das Göttliche nicht aus der Welt [dem Kosmos] herauslösen“. Der Ägyptologe aus Heidelberg:

„Diese scharfe Trennung zwischen Schöpfer und Schöpfung [durch die Hebräer bzw. Juden] stellte in der Alten Welt eine ungeheure Umkehrung und Umwertung aller vertrauten Denk- und Glaubensformen dar. Schöpfung galt damals als eine Verbindung, nicht eine Trennung von Gott und Welt. In der Schöpfung manifestierte sich der Schöpfer. Diese enge Verbindung konnte sich in Ägypten bis zu der Vorstellung steigern, dass die Welt der Körper Gottes sei, den er von innen beseelt. Im hellenistischen Synkretismus fanden solche Ideen weite Verbreitung, insbesondere in der stoischen, neuplatonischen und hermetischen Kosmotheologie.“ (Die Mosaische Unterscheidung)

Assmann weist darauf hin, dass sich im Monotheismus so nicht nur Gott quasi von der Welt emanzipierte und ihr als eigenständige Größe gegenübertrat. Auch der Mensch emanzipierte sich, kann zwischen sich und der Welt unterscheiden und eine gewisse Distanz zu ihr entwickeln. Er gewinnt Freiheit, von der im Polytheismus und Animismus noch fast gar nichts zu sehen ist. Eine Freiheit in der Beziehung zur geschaffenen Welt, ohne die z.B. echte Wissenschaft nicht möglich ist.

Der Dualismus begründet die Unterscheidung von Menschen, von Ich und Du; ohne ihn kein Individualismus und keine personale Menschenwürde. Ohne ihn auch keine Grundlage für die Unterscheidung von wahr und falsch, von wahren Ideen und falschen Ideen, von wahrer Religion und falscher Religion (hieran knüpft dann Assmanns recht scharfe Kritik am Monotheismus an; H. Hempelmann hat sich damit gut auseinandergesetzt). Schließlich ist auch die Theologie eine große Kunst der rechten Unterscheidung (hier mehr). Luther (aber nicht nur er!) unterschied bekanntlich zwischen Gesetz und Evangelium; D.A. Carson unterscheidet sehr gut mehrere ‘Arten’ der Liebe Gottes (in The Difficult Doctrine of the Love of God); und auch im Hinblick auf die Gnade gilt: die totale, absolute Gnade, die sich über alles, aber auch wirklich alles, wie eine sämige Soße ergießt, ist deshalb nicht eine bessere oder christlichere Gnade. Gott ist gnädig, wem er will; er macht den Unterschied. Das ist der Grund, warum es die einen gibt, die gerettet werden, und andere, die verloren gehen.

(Es ist zuzugestehen, dass Dualismus eher nicht oder meist nicht der passende Ausdruck  für die hier vertretene Sicht über grundlegende Unterscheidungen darstellt. Religionshistorisch kennen dualistische Systeme ewige Polaritäten, die nicht aufeinander zurückzuführen sind; Beispiele sind in der Gnosis und im Manichäismus, später bei den Katharern zu finden. Ellis Potter nennt in 3 Theories of Everything die ewige Dualität von Ying und Yang; auch Michael Horton gebraucht den Begriff in seiner Dogmatik The Christian Faith negativ. Im Christentum gibt es keine ewigen Gegensätze, da alle Wirklichkeit auf den dreieinen Gott zurückzuführen ist, der die Grundlage jeder Einheit und Vielfalt ist. Dualismus ist also eher zu meiden und in jedem Fall biblisch zu füllen. Meist ist besser von Unterscheidungen wie Schöpfer-Geschöpf zu reden, auch von  Dualität, Grenzen oder mitunter Komplementarität. Problematisch ist, dass Unterscheidungsgegner mit schöner Regelmäßigkeit der traditionellen Position einen geradezu manichäischen Dualismus unterstellen wie jüngst Martin Dreyer in Der vergessene Jesus: „Im christlichen Fundamentalismus finden wir einen extremen Dualismus. Unsere Welt wird in zwei Hälften geteilt. Der eine Teil gehört zu Gott, der andere zum Satan. Dazwischen gibt es keine Grauzonen… Ein Weltbild, ebenso einfach wie gefährlich. Denn wer der jeweiligen Lehre nicht folgt, der gehört auch nicht dazu. Er ist draußen. Er ist verloren. Er ist in der Hölle!“ Ich fühle mich von solch einer bösen Karikatur überhaupt nicht angesprochen.)

Brudereck hat sich jedoch für den Antidualismus entschieden, und damit ist der Wurm drin. Sie berichtet von einem interreligiösen Dialog in Sarajewo, bei dem die Vertreter der monotheistischen Religionen auch zusammen beteten wie z.B. auf einer Brücke. „Am Ende war Gott ein Brücke.“ Sie ist sich sicher: „Unsere [christlichen] Häuser sind nicht die einzigen, in denen gebetet wird; wir sind nicht die einzigen, die von Gott erzählen, Gott verehren…, wir sind nicht alleine seligmachend – Halleluja! Gott sei Dank!“ Brudereck hofft, alle Teilnehmer wiederzusehen, „wenn nicht hier, dann in Ewigkeit“. „Ich glaube nicht an ein letztes Aber“, an einen „doppelten Ausgang der Geschichte“; sie glaubt, dass „am Ende alles gut ist – für alle und mit allen, ohne Aber.“

Dies sei nicht nur eine Frage des Vertrauens, sondern „eine Frage des Respekts“, und zwar vor Gott selbst: „Entweder ist Gott der größte Versager oder er kommt mit seiner Schöpfung zum Ziel“. So etwas kennen wir von Rob Bell. Wenn Gott nicht alle, aber auch wirklich alle bei sich aufnimmt, dann hat er versagt – hier macht der Ton dem Töpfer Vorschriften (s. Röm 9). Die Liebe hat das letzte Wort – „das ist Evangelium“, so Brudereck. Christus sei „der Meister der Grenzüberschreitung“, und so ist die Frage, „ob du am Ende ‘alle’ denken kannst“.

Was will man der Theologin raten, die mit der Rede von Gott als dem Vater, Herrn und Hirten Probleme hat? Mit Allmacht und Unterscheidungen wie von Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Hölle, Glaube und Unglaube, Kirche und Welt, Rettung und Verdammnis, erwählt und verworfen nichts mehr anfangen kann? Schaff dir ein neues Bekenntnis, ein Bekenntnis des Und und der Ganzheitlichkeit, des Antidualismus. Nur zu! Es wäre nur ehrlich und konsequent. Natürlich wird dies nicht geschehen, denn Bekenntnisse tun ja genau dies: unterscheiden zwischen dem, was man glaubt und was man nicht glaubt. Es hätte einen Vorteil: Man würde klarer erkennen, dass diese Form des Glaubens mit dem Christentum des „Ja!“ der Gnade Gottes, nicht des Und und nicht des Aber, kaum etwas zu tun hat.

(Bild o.: Lucas Cranach, Gesetz und Gnade)