„Das Phänomen der Knappheit“
Am 16. November fand in Vilnius im Kempinksi-Hotel eine Konferenz des Litauischen Instituts für freie Marktwirtschaft (LLRI) statt, bei der ein Sammelband mit Texten des Forschungsprojekt zum Thema Knappheit („Scarcity, Morality and Public Policy“) vorgestellt wurde: Stokos reiškinys: būtis, žmogus ir bendruomenė / The Phenomenon of Scarcity: Being, Man and Society (s.o. Foto). Darin etwa ein gutes Dutzend Beiträge in litauischer und englischer Sprache wie auch Holgers „Blessings of Scarcity, Hope of Abundance“ (ab S. 110). Fast die Hälfte des 400-Seiten-Buches betrachtet das Thema aus theologischer Perspektive. Gott ist mit diesem Projekt in die Wirtschaftswissenschaften zurückgekommen.
Elena Leontjeva, 1990 Mitgründer des Instituts und heute Vorstandsleiterin, hielt einen Grundsatzvortrag. Es folgten u.a. Naglis Kardelis, Philosoph an der Universität Vilnius, und Alejandro Chafuen vom Atlas Network (zu dem auch das LLRI gehört). Eine Podiumsdiskussion wurde von Paulius Subačius, ebenfalls Uni Vilnius, moderiert. Während dieser wurde auch Holger zu einem Statement gebeten, hier in deutscher Sprache:
„Was haben Theologie und Wirtschaft gemein? Dieses Projekt hat gezeigt, dass sich diese beiden Zweige der Wissenschaft fruchtbar ergänzen können. Ich bin davon überzeugt, dass das Herz des Christentums, die Lehre über Christus, ein Fundament für unsere Freiheit im Allgemeinen und auch den freien Markt bildet.
Im Zentrum des Christentums steht Christus: der Sohn Gottes, der auf die Erde kam und Mensch wurde – wahrer Gott und wahrer Mensch. Im Jahr 451 wurde auf dem Konzil von Chalcedon ein Bekenntnis angenommen: Christus, die zweite Person der Dreifaltigkeit, ist eine Person mit zwei Naturen – einer göttlichen und einer menschlichen. Diese Naturen sind in ihm „unvermischt, ungewandelt, ungetrennt, ungesondert“.
Christus ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen, weil nur in ihm Gottheit und Menschheit zusammenkommen. Er ist der einzige Gottmensch! Dies bedeutet aber auch, dass Menschen, wie mächtig und einflussreich sie auch sein mögen, immer bloße Menschen bleiben. Die Führer und Machthaber in dieser Welt sind keine Götter oder Halbgötter oder über gewöhnliche Menschen erhobene Supermänner.
Aus diesem Grund sind menschliche Ordnungen und Institutionen nicht göttlich. In den antiken Kulturen dagegen war die staatliche Herrschaft von der Religion kaum getrennt. Pharaonen, Könige und Kaiser waren Götter, Söhne der Götter oder die Handlanger von Göttern, und oft führten sie religiöse Riten durch. Sie waren echte Mittler zwischen den Göttern und den Menschen. Das Christentum säkularisierte die irdische Macht. Diese hat nichts mit Erlösung zu tun; ihre Aufgaben sind auf die Wohlfahrt in diesem endlichen Zeitalter beschränkt, in diesem saeculum. Für die Ewigkeit ist die Kirche Christi zuständig.
Leider ist der moderne Säkularismus oft genug antichristlich; er leugnet die Existenz Gottes und drängt den Glauben aus dem öffentlichen Leben heraus. Dieses Vakuum füllt die moderne Vergötterung des Staates, engl. statism, Etatismus. Die staatliche Gewalt ist heute fast allgegenwärtig und strebt nach Allmacht. Politiker und Machthaber wurden zu „Gottspielern“ wie es der katholische Libertäre Roland Baader (1940–2012) treffend formulierte. Wie Gott will die Regierung aus dem Nichts schaffen: es werde Geld, und es ward Geld – fiat money. Auf diese Weise wird versucht Knappheit ganz zu beseitigen. Warum auch nicht, wenn wir gottgleich sind?
Auf der einen Seite dekonstruiert also die Inkarnation, die Menschwerdung Christi, alle menschlichen Ansprüche auf Gottheit und göttliche Kräfte. Denn Gott allein führt uns in die ewige Welt der vollkommenen Fülle ohne jeden Mangel. Auf der anderen Seite begründet oder bekräftigt die Menschwerdung Christi zutiefst das Phänomen der Knappheit. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14) – in diesem Bibelvers liegt die Antwort, warum Knappheit in dieser Welt eine grundsätzlich positive Sache ist.
Gott kam auf die Erde, fühlte Hunger, Durst und das Bedürfnis nach Schlaf, weinte in Trauer, sank nieder vor Müdigkeit und Erschöpfung und litt auf verschiedenste Weise. Er lebte in den Grenzen von Zeit und Raum, akzeptierte alle menschlichen Begrenzungen, trat vollständig (bis auf die Sünde!) in unsere menschliche Welt ein, in den Raum des Mangels und der Knappheit. “God did not overpower history but respected its constraints. He accepted for Himself the human condition”, schreibt Michael Novak in The Spirit of Democratic Capitalism.
In seiner Person bestätigte er die Gutheit der physischen, körperlichen, begrenzten und durch Knappheit gekennzeichneten Welt. Er überwand das Böse, besiegte die Sünde, aber er veränderte weder die zeitliche Ordnung noch die Struktur, d.h. das geschöpfliche Sein des Menschen. Deshalb verwandelte er, vom Teufel versucht, Steine nicht in Brot (Matthäus 4) – was er gekonnt hätte! Doch es war eben nicht seine Mission immer ein Wundertäter zu sein. Die politische Herrschaft versucht sich dagegen nun an Wundern.
Die Botschaft Jesu ist anders. Jesus Christus sagt uns allen heute: Arbeitet, verdient euer tägliches Brot und alles, was ihr braucht – solange ihr auf der Erde lebt; geht mit Knappheit und Mangel kreativ um, denn schließlich war ich auch ein kreativer Handwerker. Knappheit und Mangel werden bis zum Ende der Welt mit euch sein. Und ich werde euch durch die kreative Verringerung des Mangels – nicht durch seine Beseitigung! – segnen.
Dem LFMI bin ich dankbar für zahlreiche Denkanstöße. Auf diese Weise hat das Projekt meinen Glauben gestärkt. Vielleicht auch den Ihren.“