Die Moral der Abschreckung

Die Moral der Abschreckung

Kampfbomber vom Typ A-10-Thunderbolt üben Start und Landung auf estnischen Landstraßen (Bild o.); das Dutzend Panzerhaubitzen, die die litauische Armee jüngst von Deutschland erworben hat, wird auf einem Truppenübungsplatz im Bezirk Klaipėda erprobt; 10.000 Soldaten aus 13 Staaten nehmen an der Militärübung „Saber Strike“ in Estland, Lettland und Litauen teil. Und seit dem Nato-Gipfel vor einem Monat in Warschau ist es nun amtlich: jeweils ein Nato-Bataillon wird in Polen und den baltischen Ländern stationiert. Deutschland wird das Kontingent in Litauen anführen. Bei all diesen Maßnahmen geht es um eines: Abschreckung.

Einige der A-10-„Warzenschweine“, die von der USA im vergangenen Jahr nach Deutschland zurückverlegt wurden, stationierte man auch zeitweise im estnischen Ämari. Die Schlagzeile bei SputnikNews: „US-Bomber in Estland: Fünf Minuten Anflugzeit bis Petersburg“. Bei dem Propagandaorgan des Kremls überrascht dies nicht, aber auch die „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“ aus Russland bemühen sich keineswegs um objektive Darstellung. Nach der wahrlich tendenziellen Überschrift „Deutsche Soldaten nach Litauen: Nato beginnt Einkreisung von Russland“ heißt es: „Die Nato bereitet einen veritablen Truppenaufmarsch in Osteuropa vor: Deutsche Soldaten werden in Litauen tätig, die Briten übernehmen Estland und die US-Soldaten sollen Lettland schützen.“ Vom nun tatsächlich veritablen Truppenaufmarsch der russischen Armee z.B. in Kaliningrad erfährt man natürlich nichts.

„…dann schaudert mich“

Auch der Friedensbeauftragte der EKD, Renke Brahms, meldete sich im Sommer mehrfach zu Wort. Anlässlich des 75. Jahrestages des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion äußerte er sich besorgt über die zunehmende Zahl von Manövern auf Seiten der Nato und Russlands. „Es darf nicht sein, dass eine nach dem Ende des Kalten Krieges überwunden geglaubte Konfrontation in Europa wieder aufbricht.“ (Hier die Meldung.) Dummerweise ist die Wirklichkeit widerspenstig und macht den Wünschen des Kirchenleiters einen Strich durch die Rechnung; ständig brechen hier und dort neue Konflikte auf. Was tun, wenn nicht alle Menschen gute Willens und friedliebend sind?

Einen Monat später wird Brahms im Interview mit „evangelisch.de“ mit den Ergebnissen des Nato-Gipfels konfrontiert: „die Nato rüstet im Baltikum auf“. Der Schriftführer der Bremischen Kirche: „Wenn ich mir vorstelle, dass jetzt deutsche Soldaten in Litauen eingesetzt sind, was sehr nah an der russischen Grenze ist, dann schaudert mich, dass es 70 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg so weit kommen konnte. Was momentan schwer wiegt, ist die gegenwärtige Abschreckungstheorie und Sprache. Sie sind die des kalten Krieges.“

Brahms

Begriffe wie „Truppenverlegung“, „Abschreckung“ und das Motto der Nato-Abschreckung „Wer hier angreift, der muss einen hohen Preis bezahlen“, gefallen ihm ganz und gar nicht: „Das sind alles Sprachmuster aus dem Kalten Krieg.“ Brahms hat Verständnis dafür, „dass Polen und die baltischen Staaten aus ihrer geschichtlichen Erfahrung heraus Sorge und Angst haben.“ Und er gibt auch zu verstehen, dass Manöver irgendwie normal seien. Er kritisiert jedoch, „dass bei diesen Manövern die Ukraine und Georgien eingeladen wurden, daran teilzunehmen.“ Das würde Russland unnötig provozieren. Er sei aber „weit davon entfernt“, Russland in Schutz zu nehmen, will auf die Geschichte in der Region seit 1989 nicht „einlinig“ schauen. Dann jedoch zur westlichen Politik nach Ende des Kalten Krieges:

„Wir wollten abrüsten, entkrampfen, auf ein gemeinsames Haus Europa setzen und eigentlich sagen: Es gibt keine NATO-Erweiterung in Richtung Osten, stattdessen sollten die baltischen Länder ein neutraler Puffer sein. Das ist leider nicht weiter verfolgt worden. Von den einzelnen Staaten aus betrachtet ist das sicherlich eine Entwicklung, die man verstehen kann. Sie hat aber dazu geführt, dass es jetzt wieder so eine spannungsgeladene Situation gibt.“

Hier zeigt sich, dass sich das Verständnis für die geschichtliche Erfahrung Polens und der baltischen Staaten wahrlich in Grenzen hält, und das ist noch gelinde gesagt. Es wäre besser gewesen, so Brahms ja recht eindeutig, Zentraleuropa wäre ein neutraler Puffer geworden. So eine Sicht mag ja in Deutschland recht beliebt sein, in Zentraleuropa selbst läuft einer großen Mehrheit bei solchen Worten ein kalter Schauer über den Rücken. Brahms selbst nennt am Ende den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und die traurige Tatsache, dass die baltischen Länder „international im Stich gelassen worden“ sind. Ja, und deshalb war die Schlussfolgerung in Norden Zentraleuropas unisono: Bloß keine Neutralität; wir wollen gleichberechtigtes Mitglied von starken Bündnissen freier Staaten werden. – Warum ignorieren so viele in Westeuropa oberlehrerhaft die friedlichen Wünsche freier Völker? Ginge es nach Brahms und Co., sind es retrospektiv die Balten und im Blick auf die Zukunft die Ukrainer und Georgier, die sich gefälligst draußen vor der Tür einrichten sollen. Wer bestimmt eigentlich so etwas über die Köpfe der Bürger dieser Länder hinweg?

Gespräche statt Abschreckung?

Laut Brahms sei eine Politik zu unterstützen, „die eher auf Gespräch setzt, als auf Abschreckung. Aber mir scheint bei den Ergebnissen des NATO-Gipfels drängt alles auf Abschreckung. Und deswegen müssen wir alles tun, dass wir eher die unterstützen, die den Dialog suchen.“ Er freut sich über das „gegenteilige Zeichen“, das Friedensbewegungen am Rand des Nato-Gipfels setzten.

Brahms sieht Abschreckung offensichtlich per se in einem Gegensatz zu Gesprächen und Dialog. Doch warum sollte dies so sein? Nato-Generalsekretär Stoltenberg, wahrlich kein Hardliner und anders als sein Vorgänger ein Mann des bedachten Wortes, betont immer wieder, dass Dialog und Abschreckung sich gegenseitig nicht ausschließen. Abschreckung bedeute nicht Provokation eines Kriegs, sondern dessen Verhinderung. Einige Wochen vor dem Gipfel sagte er in einem Interview:

„Die Nato muss mit Stärke und glaubwürdiger Abschreckung auf Russland reagieren. Moskau hat illegal die Krim annektiert, unterstützt Separatisten in der Ostukraine und verletzt internationales Recht. Wir werden darum die Nato-Präsenz im östlichen Bündnisgebiet erhöhen […]. Wir sehen nicht, dass ein Angriff auf ein Nato-Land unmittelbar bevorsteht. Aber wir müssen vorbereitet sein, unseren Mitgliedern volle Solidarität versichern und gleichzeitig die Abschreckung stärken. Was wir tun ist angemessen, defensiv und im Einklang mit den internationalen Regeln.“

Der Sozialdemokrat bekräftigte, dass die Nato keine Konfrontation mit Russland suche. „Wir wollen keinen kalten Krieg. Wir wollen keinen Rüstungswettlauf. Wir reagieren mit unseren Maßnahmen auf die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine durch Russland. Es ist wichtig zu deeskalieren. Wir fahren einen zweigleisigen Ansatz: Wir müssen militärisch entschlossen, berechenbar und stark sein. Solange wir das sind, können wir uns auch in einen politischen Dialog mit Russland begeben.“ Was sollte an solchen Sätzen aus christlicher Sicht auszusetzen sein?

Die Nato kann im Ernstfall eine Invasion im Baltikum nicht verhindern; die Armeen der kleinen Länder ohne jeden Kampfpanzer und ohne moderne Kampfflugzeuge schon gar nicht. Bei all den eher symbolischen Übungen und Stationierungen geht es darum, das Risiko und die Kosten für einen Angriff in die Höhe zu treiben. Genauso funktioniert Abschreckung. Und genau auf diese Art sollen tatsächliche Kampfhandlungen, ein heißer Krieg, verhindert werden.

Die Führung der Nato hat damit die richtigen Lehren aus dem Ausbrechen der beiden Weltkriege gezogen. 1914 hätten mehr Gespräche tatsächlich geholfen. Vernünftige Krisendiplomatie damals – Fehlanzeige. So stürzten die Mächte Europas geradezu taumelnd in eine Katastrophe und begannen einen Krieg, den so recht kaum einer gewollt hatte.

Ende der 30er Jahre mangelte es dagegen nicht an Diplomatie. Im Herbst 1938 kehrte der britische Premier Chamberlain von der Konferenz in München zurück und verkündete „peace for our time“. Doch Hitlers Appetit war mit dem Sudetenland keineswegs gestillt. Die Beschwichtigungspolitik wurde auf Seiten des Westens im Frühjahr 1939 – nach Besetzung der Rest-Tschechei durch Deutschland – aufgegeben, aber glaubhafte Abschreckung wurde den Nazis in all den Jahren nicht signalisiert. Hitler pokerte weiter und griff Polen an; England und Frankreich erklärten den Krieg. Doch die eigentlich hochgerüsteten Franzosen beließen es bei symbolischen Angriffen auf das Saargebiet – über ein halbes Jahr „Sitzkrieg“ folgte (frz. drôle de guerre oder guerre bizzare – der wahrlich komische Krieg). Dabei hätte mutiges und entschlossenes Handeln, ein Vorstoß im Westen, Hitlers Krieg frühzeitig beenden können. Und wäre ihm schon frühzeitig wie z.B. nach dem Einmarsch ins Rheinland 1936 demonstriert worden, dass man die Armeen auch einzusetzen bereit ist, um die Wehrmacht zu stoppen, hätte man den Diktator also von immer weitergehenden Schritten abgeschreckt, wäre Europa wohl manches erspart geblieben.

An Brahms wäre also die Frage zu richten, was denn so schlimm an der Abschreckung sei. Warum sollte sie an sich unmoralisch sein? Und was spricht aus christlicher Sicht grundsätzlich gegen sie?

In Deutschland ist der Begriff seit dem heißen Herbst vor über 30 Jahren, seit Nato-Nachrüstungsbeschluss und Friedensbewegung, natürlich sehr belastet. 1984 schrieb dann der französische Intellektuelle André Glucksmann (1937–2015) in Philosophie der Abschreckung den Pazifisten viel Kritisches ins Stammbuch. Heinrich Böll konterte mit dem Beitrag „Erbauungsbuch für Abschreckungschristen“. Eine rationale Debatte ist seitdem kaum noch möglich.

Aus biblischer Perspektive bleibt unklar, warum Abschreckung mit einem Makel behaftet sein sollte. Denn schließlich beruht auch unsere innere Sicherheit und unsere Rechtsordnung zumindest in Teilen auch auf Abschreckung. Polizeikräfte und Strafverfolgung schrecken potentielle Verbrecher ab. Helmut Burkhardt sehr gut:

„Der christliche begründete Pazifismus ist eine menschlich ehrenwerte Einstellung. Aber sie ist unzureichend durchdacht und würde, konsequent durchgehalten, gefährlich in die Irre führen. Allerdings: in der Regel ist er gar nicht konsequent. Seine Inkonsequenz besteht darin, dass er einseitig die militärische Gewaltanwendung im Blick hat und etwa die polizeiliche völlig ausblendet oder meint, sie von der militärischen völlig abkoppeln zu können. Das aber ist eine Illusion. […] Ein genereller Verzicht auf Gewaltanwendungen im internationalen Bereich wäre genauso unverantwortlich wie im binnennationalen Bereich.“ (Ethik, II/1)

„Unzureichend durchdacht“ hat auch Konstantin Wecker seine Worte in einem Radio-Interview mit Bayern 2. Zu Gast war neben dem Liedermacher Margot Käßmann, mit der er sein im vergangenen Jahr erschienenes Entrüstet euch!: Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt. Wecker zur Kernvorstellung seines Pazifismus: „Ich möchte so weit gehen, dass ich mich lieber töten lassen möchte, als zu töten. Das würde ich niemandem zumuten und ich würde niemandem sagen, er soll das so tun, aber ich habe mich entschieden. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das wirklich so durchhalte, wenn es so weit wäre, weil ich ein sehr impulsiver Mensch bin.“

Sich lieber töten lassen als andere zu töten – das ist, s. Burkhardt, wirklich „eine menschlich ehrenwerte Einstellung“. In diesen Bereich der persönlichen Ethik gehört diese Art des Pazifismus (deren Sinn und Zweck in Abwägung mit der Selbstverteidigung hier nun gar nicht erörtert werden soll). Auch Wecker will es ja ausdrücklich dabei belassen: dies sei ganz seine persönliche Entscheidung und keinerlei Norm für andere. Warum, so muss man dann aber zurückfragen, ist Pazifismus dann das Gebot der Stunde? Für wen denn? Käßmann und Wecker geht es ja eben nicht nur um die Wehrlosigkeit des Einzelnen, sie träumen auch von einer pazifistischen Politik. Und wenn staatliches Handeln sich an den Idealen der beiden orientieren sollte, dann wird eben doch vielen Menschen etwas zugemutet, was sie nicht wollen: wehrlos dastehen.

Befürworter von Verteidigung und Abwehrbereitschaft müssen sich nicht in solchen Widersprüchen verheddern. Ein Staat kann (und sollte) Bürgern wie Wecker zugestehen, das Land im Angriffsfall nicht verteidigen zu müssen – um des Gewissens willen. Aber da die große Mehrheit einer Bevölkerung allermeist geschützt und verteidigt werden will, organisieren politische Gemeinwesen so gut wie immer ihren Schutz mit Waffen. Individuelle Pazifisten werden nicht gezwungen, eine Waffe zu benutzen, aber Bürger, die ihr Land schützen wollen, werden davon auch nicht abgehalten.

Dann singt doch wieder!

Auch der 1989 gegründete „Bund für soziale Verteidigung“ (BSV), der eine Abschaffung von Militär und Rüstung fordert, äußerte sich wenig überraschend ablehnend zum jüngsten Nato-Gipfel. In einer Presseinformation vom 12. Juli heißt es, mit dem Beschluss, Bataillone in der Region zu stationieren sei „ein weiterer Baustein der Verständigung zwischen der NATO und der Sowjetunion bzw. später Russland 1990 und in den Folgejahren niedergerissen worden: Nach der Osterweiterung der NATO werden jetzt auch Kampftruppen in Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes verlegt.“ Diese Truppen werden sogar als „Geiseln für die Verteidigungsbereitschaft der NATO“ bezeichnet. Auch sonst ist der Tenor gleich zu Beginn: Die Übeltäter sitzen in Brüssel – und nicht im Kreml.

Doch es kommt noch besser. Natürlich zeigt sich auch der BSV voller Verständnis, „dass in einigen osteuropäischen Ländern aufgrund der belasteten historischen Beziehungen Menschen Angst vor einer militärischen Aggression Russlands haben. Dass sie deshalb die Ankunft deutscher SoldatInnen begrüßen, wo Deutschland während des 2. Weltkriegs Millionen Menschen in diesen Ländern getötet hat, scheint rational schwer nachvollziehbar, aber zeigt auch, wie sich Beziehungen zwischen Ländern und Völkern trotz fürchterlicher Ereignisse in der Geschichte zum Positiven wenden können.“

Mit gesundem Menschenverstand kommt man da nicht so recht mit. Ja, Deutsche begrüßen französische Soldaten, Polen die Truppen aus Deutschland usw. usf. – die früheren Erzfeindschaften gelten kaum noch etwas, und auch in Litauen sind die alten Konflikte um Germanisierung in Klein-Litauen und das Memelland kein Thema mehr. Was soll also nur schwer rational nachvollziehbar sein? Natürlich ist es für einen Pazifisten schwer nachzuvollziehen, dass Soldaten begrüßt werden. Wer dies nicht tut, hat aber nicht etwa weniger Verstand, er sieht die Dinge eben nur anders – und zwar nicht durch die antimilitaristische Brille.

Anschließend wird dekretiert: „Wirkliche Sicherheit kann die NATO nicht herstellen – im Gegenteil: Es ist ein Spiel mit dem Feuer.“ Polen und die baltischen Staaten sollten sich vielmehr „darauf besinnen, dass es nichtmilitärische Instrumente der Herstellung von Sicherheit gibt, z.B. das Konzept der Sozialen Verteidigung, das für den Fall einer Besetzung auf die Nicht-Kooperation mit einem militärischen Aggressor setzt und diesem dadurch verunmöglicht, seine Kriegsziele zu erreichen. Ansätze dazu wurden bereits 1990 in den baltischen Staaten geplant und u.a. in der ‘Singenden Revolution’ auch ansatzweise praktiziert.“ „Die Expertise, wie so etwas gemacht wird, ist in der internationalen Friedensforschung vorhanden. Wir müssten nur gefragt und gehört werden“, so Christine Schweitzer, die Geschäftsführerin des BSV weiter.

Die Verteidigungsexperten beim BSV würden also dem litauischen Verteidigungsminister Olekas raten, es doch wieder mit dem Singen von Volksliedern und passivem Widerstand zu probieren – und bloß keine panzerbrechenden Waffen einkaufen! Man wage sich gar nicht vorzustellen, was jemand wie Vytautas Landsbergis, einer der Anführer der litauischen Unabhängigkeitsbewegung ab 1988 und erstes Staatsoberhaupt eines freien Litauens, zu solch besserwisserischen Tipps sagen würde. Natürlich gibt es Formen des Widerstands und der Verteidigung, die nichtmilitärischer Art sind! Den Litauern blieb 1987–1991 nichts anderes übrig, als sich darauf zu konzentrieren. Tatsächlich sollte Wandel innerhalb eines Staates nach Möglichkeit und so lange wie nur irgend denkbar mit gewaltlosen Mitteln vorangetrieben werden. Im Baltikum klappte dies vor 25 Jahren; nicht zuletzt, weil die Sowjetunion schon stark geschwächt war. 2016 geht es jedoch um eine Bedrohung von außen und die Frage, wie die genannte Besetzung verhindert werden kann. Hier nun die Methoden des gewaltlosen Kampfes gegen die Möglichkeiten des militärischen Schutzes ins Spiel zu bringen, verhöhnt das Ringen dieser Völker. Schließlich wären auch die BSV-Experten zu fragen, ob im Inneren auch Dieben mit diesen gesanglichen Methoden Einhalt geboten werden soll. Vielleicht lenkt sie dies von ihren räuberischen Zielen ab? Wenn wir aber zum Schutz im Land ein Mindestmaß an Gewaltandrohung brauchen, warum dann nicht auch in den Außenbeziehungen?

Die baltischen Spitzenpolitiker sind so töricht, dass sie sich nicht um die Expertise der internationalen Friedensforschung kümmern? Beim BSV mangelt es offensichtlich an Empathie für die inneren Hemmungen auf dem Weg zu einem waffenlosen Widerstand, wenn in der Presseinformationen solche konkreten Maßnahmen vorgeschlagen werden: „den Angehörigen der russischen Minderheit in den baltischen Ländern bei Streitfragen wie Staatsbürgerschaft oder der Nutzung der russischen Sprache in Bildung und Behörden entgegenzukommen.“ Wer sich die Mühe macht, die Situation in der Region zu verstehen, wird um die Parteilichkeit solcher Vorschläge wissen: in genau die Kerbe der angeblichen Unterdrückung der Russen im Baltikum und anderswo haut der Kreml gerne. Viele dieser Probleme sind aufgebauscht bzw. nur in einigen Ländern vorhanden, und Russisch als Amtssprache würde in Estland, Lettland und Litauen eine Art Kapitulation darstellen. In allen drei baltischen Ländern ist dies völlig undenkbar. – Hier werden wieder alte Befürchtungen wach, dass Teile der Friedensbewegung zu einer Art fünfte Kolonne Moskaus mutieren.

Gemeinsame Sicherheit

„Sicherheit kann es nicht voreinander, sondern nur als gemeinsame Sicherheit geben.“ Dieser Satz in der Presseinformation des BSV ist so, wie er da steht, wahr. Gemeint ist hier nur – wie so oft – die gemeinsame Sicherheit der Nato mit Russland. Aus dem Blick gerät leider meist, dass die Nato auf dem Pfeiler einer Sicherheit ruht, die sich die Mitgliedsstaaten gemeinsam gegenseitig zusichern, ja garantieren.

Dies Einstehen für gemeinsame Sicherheit bröckelt nun jedoch an der Bürgerfront. Laut ZDF-Politbarometer vom Juli lehnt eine Mehrheit der Deutschen eine Verstärkung der Nato zum Schutz der östlichen Mitglieder ab (77% der Anhänger der Linken und 65% der AfD-Sympathisanten). Die NZZ schrieb im Juni unter der Überschrift „Wenig Lust auf Bündnistreue“:

„Repräsentative Umfragen in Deutschland zeigten in den vergangenen Jahren eine geringe Bereitschaft, Nato-Partner im Ernstfall zu verteidigen. In einer in diesem Frühjahr von der Bertelsmann-Stiftung und dem polnischen Institut für öffentliche Angelegenheiten vorgelegten Studie sagten nur 31 Prozent der Befragten, Deutschland müsse seine Verpflichtungen als Nato-Mitglied und EU-Partner bei der Verteidigung eines angegriffenen Landes erfüllen. 57 Prozent sind gegen die Entsendung von Soldaten.“

Irgendetwas ist aus dem Lot geraten, wenn man Flüchtlinge in Millionenhöhe aus fernen Ländern willkommen heißt, aber den verbündeten und befreundeten europäischen Nachbarn im Osten nicht die zugesagte und erbetene Hilfe leisten will. So wundert es auch nicht, dass laut Studie der Bertelsmann-Stiftung kaum jemand in Deutschland eine engere Zusammenarbeit mit der Ukraine unterstützt. Gott sei Dank tun litauische Regierungsstellen und Bürgerinitiativen viel, um dem Land mit seinen vielen Problemen auf die Beine zu helfen. Gespräche zwischen Ost und West werden von Brahms und vielen anderen in den Reihen der Kirchen und anderer Friedensbewegter geradezu penetrant gefordert. Wäre es da nicht an der Zeit, Vertrauen zwischen Deutschen und Ukrainern aufzubauen?

Brahms Kollege aus Hannover, Landesbischof Ralf Meister, sagte vor einem guten Monat nach dem Brexit-Beschluss in einem Beitrag in der „Evangelischen Zeitung“, dass „der Wert eines friedlichen, freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Verbandes um ein Vielfaches, ich würde sagen unschätzbar höher [ist],“ als der von nationalen Interessen. Daher seien diese zurückzustellen und „schwächere Länder zu unterstützen“. Richtig. Frieden, Freiheit und Recht sind übergeordnet. Will man dann die Ukraine draußen vor der Tür lassen, wenn die Bürger dort zu den Bündnissen dieser Werte gehören wollen? Und wenn diese schwächeren Ländern militärischen Beistand erbitten? Ist dann die von Meister angemahnte „europäische Haltung“ gleich wieder Schnee von gestern? Sind die immer wieder genannten europäischen Werte nicht auch zu verteidigen – auch durch Androhung von Gewalt (Abschreckung) und unter Umständen durch Militär?