Wo das Reich ein Ende hatte

Wo das Reich ein Ende hatte

List auf Sylt ist heute die nördlichste Siedlung in Deutschland. Bis zum Ende des letzten Weltkrieges hörte Preußen (und damit nach 1871 das Deutsche Reich) im Norden knapp zwanzig Kilometer nördlich von Memel auf. Im kleinen Ort Nimmersatt endete die Reichsstrasse 132. Jenseits des Zollhauses lag das Zarenreich, unweit der Kurort Polangen.

MitteleuropaR56Tilsit1941-01Memel

Nördliche Spitze des Memellandes vor dem letzten Krieg

„Nymmersatt“ wird schon um 1430 erwähnt. Der Name leitet sich wohl vom kurischen Namen Nemira und dem Wort seta für Hof, Gehöft ab; eingedeutscht wurde daraus Nimmersatt. Der litauische Name ist Nemirseta. Mit einem nicht zu stillenden Hunger hat der Ortsname also nichts zu tun.

Auf der Höhe der Siedlung führte fast ein halbes Jahrtausend die nördliche Grenze Preußens bzw. Ostpreußens an die Ostsee. 1422 hatten der Deutsche Orden und das Großfürstentum Litauen nach vielen Jahrzehnten des Krieges den gemeinsamen Grenzverlauf im Vertrag von Melnosee (Meldensee) festgeschrieben. Bis 1919 hatte diese Grenze von Schmalleningken/Smalininkai an der Memel im Osten bis Nimmersatt im Nordwesten Bestand. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert trennte die Linie Preußen und Litauen, im 19. Preußen und das Zarenreich. Und rund fünfzig Jahre galt: „Nimmersatt, wo das Reich ein Ende hat“.

Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm der Völkerbund die Aufsicht über das Memelland, französische Soldaten wurden stationiert. 1923 besetzte Litauen jedoch den Gebietsstreifen (im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes fiel Memel/Klaipeda wieder an Deutschland). 1945 wurden das nördliche Ostpreußen und Litauen Teil der Sowjetunion und die uralten Grenzen in der Region Geschichte.

Nimmersatt 4

Im Deutschen Reich profitierten viele Küstenorte der Gegend vom aufkommenden Badetourismus. Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus dem kleinen Bauerndorf mit 200 Einwohnern ebenfalls ein Kurort, wenn auch ein ganz kleiner. Es gab sogar das Kurhaus Karnowsky, einige Hundert Meter vom Strand entfernt. Natürlich lebte der Ort auch vom Grenzverkehr. In einem „Spiegel Special“-Beitrag zu Ostpreußen:

„In Nimmersatt kostete die Grenzkarte 0,10 Mark für den Übertritt ins nahe Zarenreich, das seine Gäste, nur ein paar Minuten Fahrt mit dem Pferdefuhrwerk entfernt, durch einen Kosakenkordon an der “Tamoschnje”, der Zollstation, in Empfang nahm. Nach der Rückkehr, so warben Fremdenverkehrs-Profis von damals, würde sich der Reisende um 13 Tage jünger fühlen – des in Russland geltenden Julianischen Kalenders wegen.“

1958 wurde Nimmersatt in die Stadt Palanga eingemeindet. Der Ort verlor immer mehr Bewohner. Heute stehen nur noch das frühere Zollhaus und die einstige Gaststätte, die zusehends verfällt. Dennoch erlebt Nemirseta eine Art Renaissance – als eine Art ruhiger touristischer Außenbezirk von Palanga, das im Sommer vor Urlaubern nur so überläuft. Direkt gegenüber des alten Kurhauses befindet sich nun ein schicker Campingplatz; und auf dem früheren Ortsgebiet entsteht ein Feriendomizil nach dem anderen.

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Das alte Kurhaus verfällt

All das ist kein Zufall. Die wellige Dünenlandschaft bei Nemirseta ähnelt der auf der Kurischen Nehrung. Nur ein paar Kilometer südlich vom Rummel in Palanga kann man dort die Ruhe und den Strand für sich genießen. Und anders als bei der Nehrung muss man nicht mit der Fähre übersetzen; außerdem spart man die horrende Gebühr von nun schon 20 Euro pro Pkw (in der Hauptsaison) für eine Einfahrt in den Nationalpark Neringa, der den größten Teil der Nehrung einnimmt.

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Strand bei Nemirseta