Unser unsinniger Glaube
„Sie treffen sich jeden Freitag um zehn Uhr. Dann feiern die Angehörigen der ‘Kirche des fliegenden Spaghettimonsters’ im brandenburgischen Templin ihren Gottesdienst, natürlich nach angemessenem Zeremoniell: Piratenkappen als Kopfbedeckung sind die Regel, alternativ akzeptieren die Gläubigen auch Nudelsiebe.“
So hieß es vor einer guten Woche auf „Spiegel Online“ unter der Überschrift „Ausgenudelt“. Doch an den vier Ortseingängen des Ortes in der Uckermark dürfen die selbsternannten Pastafaris laut Gerichtsbeschluss nun doch nicht ihre Hinweisschilder auf die „Nudelmesse“ anbringen. Auch mit dieser Aktion wollten die Anhänger der satirischen Religionsgemeinschaft gegen die Bevorzugung der großen Kirchen protestieren.
Die Pastafaris geben vor, an die Existenz eines Fliegenden Spaghettimonsters (FSM), eines Ungetüms mit Nudel-Tentakeln und Frikadellen-Augen, zu glauben. Die Kirche um den Kult dieses Phantasiewesens wurde 2005 vom US-Physiker Bobby Henderson gegründet, der damit vor allem den angeblich zunehmenden Einfluss des Kreationismus auf den Schulunterricht kritisieren will. 2006 erschien sein The Gospel of the Flying Spaghetti Monster.
Inzwischen sind die Pastafari eine weltweite Bewegung. In Neuseeland ist die Pseudokirche seit vergangenem Dezember sogar als Religionsgemeinschaft anerkannt und darf daher kirchliche Trauungen durchführen. In Wellington hat jüngst das erste Paar der Pastafaris im Piraten-Outfit legal geheiratet (s. hier). Für die Hochzeit hat die „Kirche des Fliegenden Spaghetti-Monsters“ auch noch alle möglichen Traditionen erfunden.
Von Einhörnern und Teekannen
Das fliegende Spaghettimonster ist nicht die erste Religionspersiflage dieser Art. Schon vor Jahrzehnten dachten sich Kritiker des Christentums das „unsichtbare rosafarbene Einhorn“ aus. Dazu heißt es: „Der Sinn dieser Albernheit besteht darin, den Theisten vor Augen zu führen, dass ihre Predigten den Atheisten wahrscheinlich ebenso glaubwürdig und ernsthaft erscheinen wie ihnen selbst das Predigen des unsichtbaren rosafarbenen Einhorns durch die Atheisten […].“
Als Vater dieses Denkmusters gilt der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970). Der kämpferische Atheist sprach in seinem Essay „Is there a God?“ vom Glauben an eine fliegende Teekanne im Kosmos:
„Wenn ich behaupten würde, dass es zwischen Erde und Mars eine Teekanne aus Porzellan gäbe, welche auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreise, so würde niemand meine Behauptung widerlegen können, vorausgesetzt, ich würde vorsichtshalber hinzufügen, dass diese Kanne zu klein sei, um selbst von unseren leistungsfähigsten Teleskopen entdeckt werden zu können. Aber wenn ich nun zudem auf dem Standpunkt beharrte, meine unwiderlegbare Behauptung zu bezweifeln sei eine unerträgliche Anmaßung menschlicher Vernunft, dann könnte man zu Recht meinen, ich würde Unsinn erzählen. Wenn jedoch in antiken Büchern die Existenz einer solchen Teekanne bekräftigt würde, dies jeden Sonntag als heilige Wahrheit gelehrt und in die Köpfe der Kinder in der Schule eingeimpft würde, dann würde das Anzweifeln ihrer Existenz zu einem Zeichen von Exzentrik werden. Es würde dem Zweifler in einem aufgeklärten Zeitalter die Aufmerksamkeit eines Psychiaters einbringen oder die eines Inquisitors in früherer Zeit.“
Russells Teekanne wurde in Anlehnung an den ICHTHYS-Fisch der Christen als Aufkleber und Anstecker gestaltet: „RUSSELL“ statt „JESUS“.
Richard Dawkins dazu im Gotteswahn: „Russells Teekanne steht natürlich für eine unendlich große Zahl von Dingen, deren Existenz man sich ausmalen und nicht widerlegen kann. […] Russells entscheidende Aussage lautet: Die Beweislast liegt nicht bei den Ungläubigen, sondern bei den Gläubigen.“ Im Klartext: der Christengott ist so real wie Russells Teepott im All.
Dawkins geht aber natürlich noch einen Schritt darüber hinaus. Dass Christen Gründe für ihren Glauben vorlegen sollen, ist nachvollziehbar. Er spricht jedoch von Beweislast und gibt zu verstehen, dass für den christlichen Glauben keinerlei Beweise vorliegen. Daher sei dieser so vernünftig wie der Glaube an die kosmische Teekanne.
Der recht primitive Positivismus und Naturalismus des Briten hält aber selbst keiner genauen Prüfung stand. Die Existenz Gottes und der Glaube an ihn sind im strengen Sinn nicht beweisbar, woraus aber gerade nicht folgt, dass das Christentum Unsinn ist. Zahlreiche Dinge können wir nicht beweisen, ja alles außerhalb der Mathematik und Logik entzieht sich der Beweisbarkeit; auch in den Naturwissenschaften gibt es keine Beweise im eigentlichen Sinn. Unwiderlegbarkeit als solche besagt ebenfalls nicht viel. Dass nur das existiert, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann, lässt sich ebenfalls nicht völlig widerlegen.
Gewiss müssen Gläubige Argumente für die Wahrheit ihrer Überzeugungen auf den Tisch legen, aber dies gilt genauso für Atheisten. Beide Seite stehen vor der gleichen Herausforderung: Welches Glaubenssystem erklärt die Phänomene unserer Welt besser? Und beide Seiten müssen Offenheit für kritische Anfragen zeigen und falsche Immunisierung, d.h. Verschließen vor Kritik, meiden.
Der Glaube an Jesus ist Quatsch
Wie verlassen hier die philosophische Diskussion und gestehen mit den Fans des fliegenden Spaghettimonsters ein: Ja, ihr habt schon recht; es war schon immer so, dass der Glaube an den Christengott in den Augen vieler als Blödsinn erscheint.
Jede Zeit lässt dabei jeweils andere Lehren des Christentums ins Visier geraten. In der Aufklärung war es neben den Wundern die Dreieinigkeit. Immanuel Kant stellte im Streit der Facultäten (1798) dar, dass es Aufgabe der Philosophen ist, den Ursprung und Wahrheitsgehalt der christlichen Lehren „mit kalter Vernunft öffentlich zu prüfen und zu würdigen, ungeschreckt durch die Heiligkeit des Gegenstandes […].“ Der Königsberger Philosoph war sich sicher: „Aus der Dreieinigkeit… läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen […].“ Man könne daher getrost auf sie verzichten. Damals sprach Thomas Jefferson (3. US-Präsident) spöttisch vom „unverständlichen Kauderwelsch trinitarischer Rechenkunst“; dieses „künstliche Gerüst“ müsse nur abgerissen werden, und dann würden die „reinen und einfachen Lehren Jesu“ wieder zu Tage treten. Schon 1764 geizte Voltaire im Dictionnaire Philosophique nicht mit Spott über die Trinität.
Im römischen Reich zur Zeit der Apostel hatte man mit der Todesart Jesu große Probleme, und das ist noch gelinde ausgedrückt. Paulus gestand in 1 Kor 1,18 ein, dass das „Wort vom Kreuz“ keinen Sinn macht – „in den Augen derer, die verloren gehen“. Das gr. moria hier und z.B. in 1 Kor 1,23 wird meist mit „Torheit“ widergegeben; die NGÜ übersetzt heute angemessener mit „völliger Unsinn“.
Diese Wahrnehmung der christlichen Botschaft im 1. Jahrhundert ist tatsächlich nachzuvollziehen. Der jüdische Monotheismus, der Glaube an einen einzigen Gott, fand damals durchaus Anklang in der intellektuellen Elite des römischen Reiches. In den Spuren Platos lösten sich viele Nachdenkende von einer eher primitiven Art des Heidentums. Bernhard Kaiser schreibt hier:
„Der denkerische Aufstieg zur Ideenwelt und der Entschluß, den jenseitigen ethischen Idealen zu folgen, konnte die Griechen begeistern. Mit dieser Anschauung mußten sie nicht mehr zu den Tempeln laufen und vor stummen Götzen irgendwelche religiösen Übungen verrichten. Weise wollten sie sein, aufgeklärter als das primitive Volk mit seinen Tempeln und Opfern. Klüger auch als die Juden mit ihrem Tempel in Jerusalem und ihren Synagogen und ihrem für nichtjüdische Augen seltsamen Kultus mit seinen Reinheitsvorschriften, seinem Zeremoniell und seiner Gesetzlichkeit.“
Den Platonikern und Stoikern predigten die Christen aber keine ferne Ideenwelt und auch keinen „unbewegten Beweger“ (Aristoteles), sondern einen in der fernen Provinz gekreuzigten Juden, der dann auch noch von den Toten auferstanden sein soll. Eine absurdere Kombination konnten sich die damaligen Denker wohl kaum vorstellen. Schließlich war das Kreuz so verachtet, dass das Wort den Menschen damals noch nicht einmal über die Lippen kam. Und wozu soll eine leibliche Auferstehung gut sein? Ist doch der Körper das Gefängnis der Seele, das es hinter sich zu lassen gilt. Mit einem „denkerischen Aufstieg zur Ideenwelt“ hatte all das nichts, aber auch gar nichts gemein.
Kern der Guten Nachricht ist außerdem die Überzeugung, dass Jesus der einzige Weg zur Erlösung ist. Auch diese Botschaft von der Vermittlung des Heils durch einen einzigen Erlöser war schon damals äußerst anstößig. Keiner der Götter oder der halbgöttlichen Helden oder der vergöttlichten Imperatoren verlangte exklusive Anbetung, Verehrung und Loyalität. Damals wie heute müssen sich die Christen deshalb den Vorwurf der Intoleranz gefallen lassen.
„Alexamenos betet seinen Gott an“
Die Christen verkündeten dennoch unerschrocken das Wort vom Kreuz. Die Kreuzesbalken als Symbol ihres Glaubens setzten sich aber erst Jahrhunderte später durch. Selbst Kreuzesdarstellungen finden sich in der frühen Christenheit nicht. Jesus wird bevorzugt als Guter Hirte und Wundertäter dargestellt.
Die älteste bekannte Kreuzesdarstellung wurde im Jahr 1856 auf dem römischen Palatin entdeckt: eine Kritzelei an der Wand einer Kaserne aus dem Jahre 125. Auf dem Kreuz hängt eine menschliche Gestalt mit einem Eselskopf, darunter kniend ein Soldat und der Spruch „Alexamenos betet seinen Gott an“ (Alexamenos sebete theon). Ein römisches Graffito, ein Spottkreuz. Bei den Römern war ein Esel die hämische Darstellung eines Juden (vergleichbar mit der „Judensau“ des Mittelalters). Gott am Kreuz? Dieser Gott ist ein Esel, und wer ihn anbetet, ist es auch!
Menschen werden Menschen
Unsinn ist aber nicht gleich Unsinn. Mit manchen Vorwürfen oder Anwürfen ringen Christen bis heute wie die genannte Exklusivität. Vieles andere ist dem Wandel der Zeit unterworfen. Dass ihr Erlöser ein Jude war, stellte in den ersten Jahrhunderten ein großes Problem dar; später blendete man die Nationalität Jesu weitgehend aus. Die Wundertätigkeit Jesu wurde erst in der Neuzeit ein Anstoß, war es in der Antike aber ganz und gar nicht. Den Christen warf man in Antike sogar Atheismus vor, weil sie sich am Kult der Staatsgötter nicht beteiligten, existieren diese doch nicht. Die Religionskritik der Juden und Christen, die ersten ‘Atheisten’, wurde ab dem 19. Jahrhundert gegen sie selbst gerichtet.
Auch in der Sozialethik erschien der christliche Glaube in den ersten Jahrhunderten als purer Unsinn, brach er doch mit den Konventionen der Zeit. Drei Beispiele zum Abschluss.
Die heidnischen antiken Religionen entwickelten keine Sozialethik im eigentlichen Sinne, weil ihnen die Liebe zu Gottheiten und damit auch Nächstenliebe fremd war. Ganz anders im Christentum. In Antike Kultur und Neues Testament schreiben U. Victor, C.P. Thiede und U. Stingelin: „Die antike Religion ist im Wesentlichen ein Regelwerk, wie die Götter zu verehren sind. Außerdem ist sie der Weg, wie man sich ihres Wohlwollens versichert, wenn man Hilfe in den Wechselfällen des Lebens braucht. […] Den Göttern liegt daran, dass die Menschen sich ihnen gegenüber korrekt verhalten. Es ist ihnen nur ausnahmsweise wichtig, wie die Menschen sich untereinander verhalten. […] Ein Mensch konnte also fromm sein, aber gleichzeitig in seinem Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen vieles zu wünschen übrig lassen.“
Dagegen gehören im Judentum und Christentum Gottesverehrung, Gottesdienst, Herzensglaube und ethisches Verhalten zusammen. Der Soziologe Rodney Stark in The Rise of Christianity: Im Denken der Heiden „wurde die Einstellung, dass es die Götter kümmert, wie wir miteinander umgehen, als völlig absurd angesehen.” Selbst der französische Philosoph und Atheist Luc Ferry muss zugeben: „In moralischer Hinsicht hat das Christentum eine echte Revolution ausgelöst.“ (Apprendre à vivre)
Von dieser Revolution profitierten die Schwächsten in der Gesellschaft. So kannten Griechen und Römer die Vorstellung von unbedingt zu schützendem Menschenleben vor oder nach der Geburt nicht. Der Begriff der Menschenwürde war der Antike unbekannt, Abtreibungen daher an der Tagesordnung. In der Vision seines Idealstaates sah Platon auch das Verbergen von „irgendwie missgestalteten“ Kindern, ja die Beseitigung von Nachwuch vor (Der Staat, 460c). Der Philosoph nennt auch konkret Abtreibung und Sterbenlassen: „Wenn aber Frauen und Männer das Zeugungsalter überschritten haben, dann lassen wir die Männer ungehindert verkehren, mit wem sie wollen […]. Und dies alles erst, nachdem wir ihnen befohlen haben, eine Frucht womöglich überhaupt nicht austragen zu wollen, wenn sie empfangen ist; wird sie aber trotz allem geboren, dann ist sie so zu behandeln, als ob für ein solches Kind keine Pflege vorhanden wäre.“ (461b/c)
Das Aussetzen von unerwünschten Kleinkindern (ekthesis, expositio) war in der Zeit der frühen Christen nicht nur bekannt, sondern wohl auch recht weit verbreitet und in jedem Fall sozial akzeptiert. Das Haupt der Sippe, der paterfamilias, entschied letztlich über die Aufnahme der Neugeborenen in die Familie, und zwar in den ersten acht bis neun Tagen. Erst in diesem Alter fand die soziale Geburt statt, also etwas eine gute Woche nach der biologischen. Gründe für die Ablehnung von Säuglingen waren vielfältig und reichten von Armut über Illegitimität bis natürlich zur Behinderungen. Wie in so vielen Kulturen bis heute (man denke an China) führen solche Praktiken zu einem Überschuss an Jungen, so dass es auch zu Jesu Zeiten im Imperium deutlich mehr Männer gab.
Dank der Jesus-Bewegung wurden Kinder zu Menschen (s. dazu ausführlicher O.M. Bakke, When Children Became People: The Birth of Childhood in Early Christianity), ja alle Menschen erst zu vollgültigen Menschen. Doch man beachte: alle Menschen auch als Menschen anzusehen und zu behandeln, war vor zweitausend Jahren außerhalb des Judentums und Christentums ein wahrlich unsinniger Gedanken. (Natürlich löste die Kirche nicht sofort alle Missstände auf und sorgte z.B. nicht umgehend für eine allgemeine Sklavenbefreiung; dass aber Sklaven eindeutig und in jeder Hinsicht als Menschen anzusehen sind, war bald unstrittig.)
Neben dem Schutz von Leben war die Hilfe im Leid und die Krankenpflege ein wichtiger Aspekt der gelebten Barmherzigkeit. Gott zeigte seine Liebe, indem er um des Heils der Menschen willen seinen Sohn gab; daher sollen auch die Christen ihren Glauben in praktizierter Geschwister- und Nächstenliebe zeigen. Außerdem beteten die Christen einen leidenden Messias an, der seine Anhänger an die Unvermeidlichkeit des Leidens im Glaubensleben erinnerte. Das impliziert, dass Leiden kein Zeichen von Gottverlassenheit oder Versagen ist. Leiden wurde nicht mehr verdrängt, sondern in Theologie und Praxis integriert.
Rodney Stark schildert in The Rise of Christianity, dass selbst der berühmte Arzt Galen während einer Pestepidemie im 2. Jahrhundert so schnell wie er konnte aus Rom floh. „Galen fehlte der Glaube an ein Leben nach dem Tod“, so der Soziologe. „Es fehlten [den Römern] die lehrmäßigen Grundlagen und traditionellen Praktiken“ für ein System der Krankenfürsorge. Natürlich, so Stark, kannten auch die Römer Wohltätigkeit, aber dies hatte mit dem Dienst für die Götter nichts zu tun, d.h. Religion und Ethik waren, wie wir sahen, nicht verbunden. „Die heidnischen Götter straften kein unmoralisches Verhalten, weil sie selbst keine ethischen Forderungen stellten. Menschen verletzten die Götter nur durch Vernachlässigung oder Bruch der rituellen Standards.“
Ob nun Cyprian in Karthago oder Dionysius in Alexandrien – die Kirchenväter betonten unisono, dass die Epidemien keine Zeit der Verzweiflung sind, sondern der Freude, da Christen Hoffnung auf ewiges Leben haben und in dieser Hoffnung den Menschen dienen können. Daher flohen die Christen während der Pest nicht, sondern kümmerten sich um die Kranken. Berühmt wurden die Wortes des heidnischen römischen Kaisers Julian aus dem 4. Jahrhundert über die „verruchten Galiläer“, d.h. die Christen, „die nicht nur ihre eigenen Armen unterstützen, sondern auch unsere [also Nichtchristen]; jeder kann sehen, dass unseren Leute Hilfe von uns fehlt“. Christen wurden so zu Gründern der ersten Krankenhäuser.
Leidenden und Kranken helfen, die nicht zu meiner Sippe, zu meiner Klasse, zu meinem Volk, zu meiner Religion gehören – warum sollte man dies tun? Ist dies nicht völlig unsinnig?
Kein Ansehen der Person
Das Christentum schenkte der Welt die Idee des Individuums mit einer von Gott gegebenen Würde. Es ist jedoch keine individualistische Religion. Eine dritte revolutionierende sozialethische Idee war die über alle Standesgrenzen hinweg reichende Gemeinde.
Im ersten Jahrhundert gab es im römischen Imperium zahlreiche Vereinigungen (collegia) wie Zusammenschlüsse von Berufsgruppen oder die sehr populären Bestattungsvereine. Daneben wirkten auch nicht wenige kultische Gemeinschaften. Es ist aber zu beachten, dass diese Kultvereine, die sich um jeweils eine Gottheit scharten, nicht im Mittelpunkt des religiösen Lebens standen. Wie jüngst Larry Siedentop in Inventing the Individual zeigte, waren religiöse Kulthandlungen vor allem in der Familie und im Staat bzw. öffentlichen Leben angesiedelt. Frömmigkeit in den Kultvereinen trat hier nur als Ergänzung hinzu.
Im Christentum erhielt die Religion zum ersten Mal einen ganz eigenständigen sozialen Bereich – die Kirche als die Gemeinde der Gläubigen. Die Glaubensgemeinschaft als unabhängige Einheit neben Familie und Staat und gleichrangig mit ihnen war ein neues Phänomen. Wie im Heidentum gab es auch in den Gemeinden Rituale, aber das Verbindende waren nicht die Kulthandlungen im eigentlichen Sinne, sondern der gemeinsame Glaube an den Erlöser.
Die Christen versammelten sich frei und aus einem Geist der Liebe heraus, und das Allerwichtigste: in ihren Gemeinden wirkten Status, Herkunft, Nationalität, Geschlecht und alles, was der antiken Gesellschaft Struktur gegeben hat, nicht mehr als Mauer.
Heute ist nur noch schwer nachzuvollziehen, in welch hohem Maße die Gesellschaft im antiken Rom hierarchisch aufgebaut war. Alle Menschen waren streng nach Rang und Stellung bestimmten Schichten zugeordnet. Zu den wenigen honestiores ganz zuoberst zählten die Angesehensten, Mächtigsten und Reichsten, die natürlich selbst keine körperliche Arbeit verrichteten. Schon eine größere Gruppe machte den populus integer aus, die gehobene Mittelklasse, die (wir der Name schon sagt) schon etwas Integrität und Ehre beanspruchen konnten. Die große Masse der Bevölkerung wurden den humiliores zugerechnet: Arme, Bauern, einfache Handwerker, Sklaven; sie hatten keinerlei Ehre verdient. Die oberen Schichten verachteten die unteren und wollten mit ihnen natürlich möglichst wenig zu tun haben.
Das Christentum änderte dies radikal. In den örtlichen Gemeinden trafen Glaubenden aus verschiedenen Schichten aufeinander (wobei wohl nicht aus allen). Wenn in Apg 4,32 sogar betont wird, dass alle „ein Herz und eine Seele“ waren, dann war dies in der damaligen Kultur unerhört, ja nie dagewesen. Die christlichen Sakramente wurden zu echten Symbolen der Einheit, denn sie wurden allen, ob reich oder arm, Mann oder Frau, Sklave oder freier Bürger, gereicht. Und nicht zufällig wenden sich die meisten Briefe des Neuen Testaments ebenfalls an alle in den Gemeinden, denn alle unterstehen den Forderungen des Glaubens und der Ethik; alle sind zum Wachstum im Glauben berufen.
In 1 Kor 11 wird deutlich, dass es in den Gemeinden ernste Probleme durch die Spannungen zwischen Armen und Reichen gab. Auf dem Hintergrund der damaligen Gesellschaftsordnung überrascht dies überhaupt nicht. So sind auch die Warnungen im Jakobusbrief zu erklären, dass „Rang und Ansehen“ kein Kriterium für den Umgang der Christen sein dürfen (Jak 2, 1f). Man erinnere sich daran, dass dies in einer Zeit gefordert wurde, als die offene Verachtung der Armen sozial voll anerkannt war. Den Reichen mehr Ehre erweisen war das A und O der römischen Gesellschaft! Die ersten Christen schwammen gerade auch hier gegen den Strom.
Gemeinsame Grundüberzeugungen und Lehren, eine allen geltende Moral, gegenseitige Hilfe und Aufopferung; eine äußerst flache Hierarchie von die Gemeinde leitenden Ältesten als Diener aller Gläubigen, und daneben nur noch die Diakone, die sich um die Schwachen. Alten und Armen kümmern – es gab Vorbilder wie die Synagogengemeinden der Juden, aber dennoch war die christliche Gemeinde ein collegium ganz neuen Stils.
So bekam schließlich nicht zuletzt durch christlichen Einfluss der lateinische Begriff socius eine neue Bedeutung. Er verlor seinen rein politischen Sinn (die socii waren die militärischen Bundesgenossen Roms) und wurde dann in der Neuzeit zu unserem „sozial“ – das gemeinsame Leben und das Kümmern um den Anderen betreffende Dinge.
Menschenwürde für alle, Barmherzigkeit als Tugend und die Standesgrenzen überschreitende Gemeinde – was uns heute attraktiv und ganz unanstößig erscheint, war einst eine Torheit. Der Spott über das Christentum sollte sich daher in Grenzen halten, trifft man damit doch auch den Ast, auf dem man sitzt. Der christliche Glaube ist in allen Zeiten auf verschiedene Weisen provozierend und hinterfragt viele geltende Maßstäbe. Beweisen lässt er sich nicht, aber man kann gut zeigen, dass dieser Unsinn die Geschichte zum Positiven geprägt hat. Die Kirche des Spaghettimonsters muss diesen Beleg erst noch antreten – wenn sie denn will.
[…] Menschenwürde für alle, Barmherzigkeit als Tugend und die Standesgrenzen überschreitende Gemeinde – was uns heute attraktiv und ganz unanstößig erscheint, war einst eine Torheit. Der Spott über das Christentum sollte sich daher in Grenzen halten, trifft man damit doch auch den Ast, auf dem man sitzt. Der christliche Glaube ist in allen Zeiten auf verschiedene Weisen provozierend und hinterfragt viele geltende Maßstäbe. Beweisen lässt er sich nicht, aber man kann gut zeigen, dass dieser Unsinn die Geschichte zum Positiven geprägt hat. Die Kirche des Spaghettimonsters muss diesen Beleg erst noch antreten – wenn sie denn will. http://lahayne.lt/2016/04/22/unser-unsinniger-glaube/ […]