Wenn‘s um die Wahrheit geht

Wenn‘s um die Wahrheit geht

 „Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind“

In einer der letzten Predigten von „JesusHouse“ im Jahr 2007 berichtete Torsten Hebel von Überlegungen im Leitungsteam der evangelistischen Jugendveranstaltung. Es war um die Frage gegangen, ob man überhaupt noch über Sünde in den Ansprachen reden solle. Man sei dann nach Diskussionen zu dem Schluss gekommen: Ja, sie müsse immer noch thematisiert werden.

Die Sünde hat‘s heute nicht leicht. Sie steht selbst bei Evangelisten auf der Kippe, ja unter Rechtfertigungszwang. Damals rang man sich nach interner Debatte, nach Abwägen von Für und Wider, dazu durch, Sünde anzusprechen. Schon vor gut acht Jahren durfte man skeptisch sein, was aus so einer zögerlichen Haltung herauswachsen würde.

Im Herbst des vergangenen Jahres erschien Hebels Buch Freischwimmer, begleitet von so manchen Presseterminen und einer professionellen PR-Kampagne (Lesungen wie auf der Frankfurter Buchmesse). In diesem Zusammenhang erschien vor einigen Wochen ein Interview auf jesus.de, das Redakteur Rolf Krüger mit Hebel geführt hatte: „Torsten Hebel: ‘Woher kommt unser Hochmut zu meinen, wir hätten die Wahrheit?’“

Eingangs kritisiert Hebel darin „die  psychologische und pädagogische Vermittlung von Glaubensinhalten“ in vielen Gemeinden, die auf der „Grundannahme“ beruhe, „der Mensch sei schlecht und böse, worüber theologisch ja durchaus zu streiten ist. Aber eben nicht psychologisch und pädagogisch. Es ist nicht gut, Menschen kleinzumachen. Im Gegenteil müssen wir sie aufwerten und ihnen sagen, wie wertvoll sie sind. Dabei ist das ja auch ein Kernanliegen des Christentums. Aber es wird viel zu selten betont. Viele junge Menschen leiden darunter, dass sie als Persönlichkeit nicht ernst genommen werden.“

Im Interview führt er etwas später dazu aus: „Ich glaube nicht, dass wir Menschen defizitär unterwegs sind. Ich glaube, dass Gott den Menschen gemacht hat und ‘siehe, es war gut’. Dann kam zwar laut Bibel der Sündenfall, aber deshalb ist doch der Mensch an sich wertvoll und geschätzt von Gott. Sonst hätte er sich nicht für uns geopfert. Ich opfere mich nur für jemanden, der mir wahnsinnig wertvoll ist. Das ist der Punkt, den ich anprangere. Theologisch kann ich mit vielen Aussagen mit, aber das sagt nichts über die subjektive Wertigkeit eines Menschen. Von daher ist es kein Widerspruch für mich, dass der Mensch in Gottes Augen ‘gefallen’, aber gleichzeitig wertvoll ist. Unsere Aufgabe als Menschen ist laut Römer 2: Richtet nicht! Das ist doch mal ‘ne ganz klare, taffe Aussage. Wenn ich das ernst nehme, dann darf ich es mir als Mensch nicht leisten, andere Menschen für defizitär zu halten.“

Hebel sagt hier natürlich viel Richtiges. Der Mensch wurde gut geschaffen und ist wertvoll. Persönlichkeiten sind ernst zu nehmen. Menschen „kleinmachen“ im Sinne von runter- oder gar fertigmachen – wer hält das für gut? Und tatsächlich haben manche christliche Gemeinden in der Vergangenheit vielfach im Hinblick auf die Lehre vom Mensch leider nur das Sündersein betont. Dass der Mensch eine natürlich Größe als Ebenbild Gottes besitzt, nur wenig niedriger als Gott ist (Ps 8); dass er oder sie über hervorragende Gaben wie Sprache und Verstand, Kreativität und Imagination usw. verfügt, wurde viel zu wenig gelehrt und beachtet.

Es will Hebel jedoch nicht gelingen, die Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen hier irgendwie angemessen einzuordnen. Wie es scheint, will er am Gefallensein festhalten, aber mit Begriffen wie „schlecht und böse“ kann er offensichtlich nur wenig anfangen. Hebel gibt zu verstehen: Wer den Menschen direkt als sündig und böse bezeichnet, macht ihn klein; wir sollten jeden Menschen aber „im Gegenteil“ „aufwerten“.

Menschen seien nicht „defizitär“ oder „defizitär unterwegs“, so Hebel wiederholt. Hier ist zurückzufragen: Hat der Mensch an sich nicht doch irgendeinen Mangel, wenn die Rede vom Sündenfall und seinen ernsten Folgen noch irgendeinen Sinn haben soll? Wie steht der unerlöste Mensch vor Gottes Angesicht nun da? Einzig und allein als wertvoll und geliebt? Hebel erwähnt das Opfer Gottes für uns. Aber warum war dies nötig? Wenn Gott nur seine Liebe darin ausdrücken wollte, hätte er sich dann nicht eine wenige blutige Prozedur einfallen lassen können?

Vieles bleibt in dem Interview unklar wie die Beziehung von Theologie („Theologisch kann ich mit vielen Aussagen mit…“) auf der einen Seite und Psychologie und Pädagogik auf der anderen („theologisch“ sei über das Böse im Menschen „durchaus zu streiten“, „psychologisch und pädagogisch“ ausdrücklich nicht – umso schlimmer für die Theologie?). Im Podcast „Hossa Talk“ vom 11. Januar des vergangenen Jahres gab Hebel aber ausführlichere Antworten zu dem angesprochenen Themenkomplex. Hier ein interessanter Abschnitt im Gesamtzusammenhang und ganzen Wortlaut (ab 51:50):

„Hängt das aber nicht alles an der Frage, ob man daran glaubt, dass Menschen verloren gehen, also in die Hölle kommen, und dass Menschen in den Himmel kommen, gerettet werden? Das ist doch die Kasus-Knacktus-Frage. Wenn es stimmt, dass Menschen in die Hölle kommen und Menschen in den Himmel kommen und dass es ein Entscheidungskriterium gibt, welches auch immer das dann auch ist […] dann ist es doch wirklich so… dann macht das wirklich Sinn den Glauben weiterzugeben. Sollte es das aber nicht geben, wovon ich ausgehe – das Leben als Weg begreifen, der eine ist da, der andere steht da, und es kommt daraus an, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen, dass wir Liebe teilen, dass wir Salz und Licht sind für diese Welt usw. – dann hast du natürlich eine ganz andere Herangehensweise. Dann braucht du nämlich auch keine Entscheidung, dann brauchst du Lebenshilfen, Motivation, Förderung, Coaching, Beratung, Lebensrichtung, weite Herzen, Räume, um sich auszutauschen, Räume, um Fehler zu machen, Räume, um sein zu dürfen und dieses ganze Paket. Das heißt, wenn ich sage, ich bin, ich glaube…  Ich sag‘ das jetzt mal so… ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. Das glaube ich. Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn zu bekehren. Aber ich glaube auch, dass es in der Diesseitigkeit einen Riesenunterschied macht: wofür setzt du dein Leben ein? Einmal für dich persönlich, aber auch für die Gesellschaft und für deine unmittelbaren Mitmenschen. Und da sehe ich Bekehrung, also diese Umkehr hin zu dem Anderen, diese Hinwendung, Mensch zu werden wie es eigentlich gedacht war, – das empfinde ich schon als eine Art Bekehrung. Wenn das dann dazu dient, bin ich der erste, der wieder zur Bekehrung aufruft.“

Auch wenn er sich in diesem Abschnitt verbal erst an seine Hauptaussagen herantastet – hier redet Hebel wirklich Tacheles. Ruhig, aber bestimmt und ohne danach gefragt worden zu sein bekräftigt er: Alle Menschen sind bei Gott. Punkt. Und falls jemand meint, dieses „bei Gott“ könnte auch noch irgendwie mit herkömmlicher evangelikaler Theologie in Einklang gebracht werden, so zieht diese Karte nicht: Hebel macht unmissverständlich deutlich, dass es die grundlegende Alternative, die Wegscheidung, zwischen Himmel und Hölle (oder zwischen dem, wofür diese Begriffe stehen), seiner Ansicht nach nicht gibt („Sollte es das aber nicht geben, wovon ich ausgehe…“). Jeder Mensch lebt schon in Frieden mit Gott, weshalb eine inhaltliche Weitergabe des Glaubens und ein Aufruf zur Entscheidung und Umkehr folgerichtig auch nicht sinnvoll sind.

Mit dem traditionellen Verständnis von Bekehrung kann Hebel also nichts mehr anfangen, aber er will den Begriff und die Vorstellung nicht ganz verwerfen. Bekehrung zum Anderen, zum Menschen, Bekehrung zum Handeln und zu einem neuen Lebensstil – dafür setze er sich immer noch ein. Auch von Buße ist noch nie Rede – „eine neue Software fürs Leben“ aufspielen. Doch wozu eigentlich? War die alte so schlecht? Der zitierte Podcast ist überschrieben „Ex-Evangelisten unter sich“, aber auch „Evangelisation“ wird nun mit ganz neuem Inhalt gefüllt. Blogger David Jäggi aus der Schweiz zu Hebel:

„In meinen Augen ist er kein Ex-Evangelist. Er ist gerade darin ein Evangelist, wenn er sich um die Armen und Marginalisierten kümmert, weil er wie Mutter Theresa in den den Augen der Armen Christus erblickt. Er ist einer, der den Glauben nicht hat, sondern auf dem Weg des Vertrauens ist, sich dabei ehrliche Fragen stellt und dennoch die Güte Gottes durch sein helfendes Handeln für andere sichtbar macht. Er ist ein Brief Christi im Dreck Berlins…“

Ist jeder, der sich um Arme kümmert und/oder seinen Glauben lebt, ein Evangelist – gerade darin Evangelist? Nun mag soziales Handeln von Christen eine evangelistische Dimension haben, doch macht so eine Ausweitung wirklich Sinn? Was gibt solch ein Evangelist neuen Typs weiter, der „den Glauben nicht hat“? Kann solch eine Redeweise noch irgendwie biblisch-theologisch begründet werden? Ähnliches wäre zur Bekehrung als Hinwendung zum Anderen zu bemerken. Liegt eine biblische Bekehrung vor, wenn diese Wandlung geschieht, aber die Anstiftung zur Hinwendung durch irgendeine andere Religion, Ideologie oder Weltanschauung geschehen ist? Hebel will am „wozu“ einer Bekehrung festhalten, aber eine Ethik der Menschenfreundlichkeit haben hier auch andere Lehrsysteme als das Christentum zu bieten. Wovon weg soll man sich bekehren? Kann dieser Aspekt von Bekehrung einfach ignoriert werden?

Die Sätze Hebels im Podcast haben bei den Gastgebern Gottfried „Gofi“ Müller und Jakob „Jay“ Friedrich keinerlei Rückfragen oder Skepsis, geschweige denn Widerspruch ausgelöst (Müller war jahrelang mit der evangelistischen Initiative „Friends“ unterwegs; Friedrich war die eine Hälfte des evangelistischen Musik- und Komikduos „Nimm zwei“). Seine Ausführungen blieben auch auf jesus.de nichtkritisiert im Raum stehen (wenn auch in den Kommentaren diskutiert). An Hebel wäre jedoch die Frage zu richten, ob er sich noch in irgendeinem nachvollziehbaren Sinne mit der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz „zur völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen“, bekennt. Gleiches gilt für die Hölle, die in der deutschen Glaubensbasis zwar nicht direkt genannt wird, wobei die Alternative hier dennoch klar ist: Auferstehung zum ewigen Leben oder zum Gericht (die britische Allianz spricht seit 2005 vom „ewigen Leben der Erlösten“ und präziser von der „ewigen Verdammnis der Verlorenen“).

Pelagius unchained

Vor Jahren schrieb Matthias Matussek in einer Titelgeschichte des „Spiegel“: „Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden. Sie hat sich neue Papiere, neue Identitäten besorgt. Von ‘Sünde’ spricht keiner mehr… Die Sünde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.“ (7/2010)

Die Sünde ist auch zu einem theologischen Fliegengewicht verkommen. Sie wird selbst von Evangelikalen allzu gerne nicht mehr ernst genommen. Man muss womöglich sogar sagen: Die Sünde ist selbst unter den Frommen heimatlos geworden. Nach und nach dringt ein Denken ins evangelikale Kernland vor, das mit einem radikalen Sündenverständnis nichts mehr anfangen kann. Die Saat so mancher postevangelikaler Autoren geht langsam auf.

So hält Doug Pagitt die Lehre von der völligen Verderbnis des Menschen und der Erbsünde für eine Erfindung Augustinus und der Kirchenväter des 4. Jahrhunderts. Damit sei griechisches, unbiblisches Denken übernommen worden. In A Christianity Worth Believing betont er, dass wir nicht so sehr die Verderbtheit des Menschen, sondern seine Gottähnlichkeit betonen sollten. Das mag ja noch angehen, doch er leugnet die Erbsünde rundheraus, lässt nur konkrete Sünden übrig und bestreitet nicht einmal die Nähe zu Pelagius (um 400), den man wegen seiner Irrlehre (Pelagianismus) nicht hätte exkommunizieren sollen. Auch der Brite Steve Chalke leugnete in The Lost Message of Jesus die Erbsünde, was zu einer breiten und ernsten Diskussion unter den britischen Evangelikalen führte.

Sünde wird nicht mehr in erster Linie in Bezug auf Gott definiert, sondern auf den Menschen selbst. Spencer Burke: „Es ist nicht so, dass sich die Menschen nun als perfekt ansehen; nur die Sprache, um sich selbst zu beschreiben, hat sich gewandelt. ‘Gebrochen’, ‘fragmentiert’ oder ‘Mangel an Ganzheit’ – so werden heute auf neue Weise unsere geistlichen Bedürfnisse ausgedrückt. Worum es geht, ist ein Gefühl der mangelnden Verbundenheit.“ (A Heretic‘s Guide) Sünde wird fast nur noch auf der horizontalen, menschlichen und zwischenmenschlichen Ebene gesehen. In einer Predigt Mitte November definierte Hebel Sünde als „dauerhaften Lebensstil, der wegführt von der Liebe“.

Der Pelagianismus erlebt eine Renaissance. Seine Rehabilitation begann schon mit dem Evangelisten Charles Finney im 19. Jahrhundert. James I. Packer bemerkte treffend: „Pelagianismus ist die natürliche Häresie von eifrigen Christen, die an Theologie kein Interesse haben.“ Und schon Johannes Calvin in seiner Institutio: „Der Menschengeist hat nichts lieber, als wenn man ihm Schmeicheleien vormacht“. In Kapitel II,1 erläutert der Reformator die Erb- oder „Ursünde“, die damals wie heute äußerst anstößig ist: „Dem gemeinen Menschenverstand ist nichts so befremdlich, als dass wegen der Schuld eines Menschen alle schuldig sein sollten“. Unsere Sünde besteht nicht nur in der Nachahmung Adams, wie Pelagius lehrte. Wir sind nach dem Fall nicht nur unvollkommen, krank, verführbar; das Übel ist viel radikaler: der Mensch ist geistlich tot. – Alle großen Theologen in den Spuren Augustinus waren sich dessen bewußt, dass wir Menschen defizitär unterwegs sind.

„Anstatt eines gefallenen Menschen…“

Was ist der Mensch? Und wo liegt die Ursache für die Übel und das Böse in der Welt? Viele Grundoptionen einer Antwort liegen hier nicht auf dem Tisch. Menschen brauchen, so Hebel, „Lebenshilfen, Motivation, Förderung, Coaching, Beratung, Lebensrichtung“. Gewiss brauchen sie dies, aber eben nicht nur dies. Eine Abkehr vom zutiefst Bösen in uns, ein Sich-heraus-rufen-lassen aus einer radikalen Verderbnis, ist eine „ganz andere Heransgehenweise“, die Hebel leider nicht (mehr) vertritt.

Hebels Aussagen sind zweifellos geprägt von der Arbeit in der „blu:boks“, die der Wahl-Berliner leitet. Dort werden Kinder und Jugendliche mit schwierigem sozialem Hintergrund pädagogisch in kreativen Projekten betreut. Diese Arbeit ist nicht Thema dieses Beitrags und soll hier nicht untersucht oder bewertet werden. Es sieht aber ganz danach aus, dass Überzeugungen der Reformpädagogik die theologischen Äußerungen Hebels tief geprägt haben. Man fühlt sich erinnert an Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman Emile. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles verdirbt unter den Menschen“, so lautet der berühmte erste Satz des 1000-Seiten-Werks, das ungeheuer einflussreich werden sollte. Ganz in den Bahnen der Aufklärungsphilosophie sagt Rousseau hier, dass der Mensch von Natur aus gut ist – erst andere Menschen, die Gesellschaft, verderben ihn.

Diese Linie führt zur Schwedin Ellen Key, die 1900 Das Jahrhundert des Kindes herausgab – ein Titel mit Programm. An vielen ihrer Thesen gibt es kaum etwas auszusetzen, im Gegenteil. Key war wichtig, dass Kinder in Liebe und Achtung aufgezogen werden; sie hatte eine Vision des „heilen Heims“ und erkannte die Wichtigkeit der frühen mütterlichen Liebe. Wie alle Reformpädagogen ging sie davon aus, dass man sich an den individuellen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen des Kindes orientieren müsse. Doch auch sie konnte mit einem sündigen Wesen des Menschen gar nichts anfangen: „Anstatt eines gefallenen Menschen sieht man einen unvollendeten, aus dem… ein neues Wesen werden kann.“

„Ganz gewiß muß ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um für den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden.“ So Luther in den Thesen der Heidelberger Disputation von 1518. Hebel würde in solchen Worten sicher Kleinmacherei entdecken. Und tatsächlich haben so manche Postevangelikale äußerst beengende und kleinmachende Gemeinden erlebt (Brian McLaren fällt einem hier ein). Doch warum das Kind mit dem Bade ausschütten? Ist jede Rede von Verzweiflung an den Möglichkeiten der Selbstrettung verwerflich? Was soll falsch daran sein, wenn man jemandem, der im Sumpf feststeckt, zuruft: „Vergiss es, du ziehst dich da nicht selbst aus!“? Und macht es nicht Sinn, die tiefe Ursache für den „Dreck Berlins“ tief im menschlichen Herzen zu suchen – im Herzen aller Menschen, auch im Herzen von Kindern? Wie ist es denn zu diesem Dreck gekommen? Wer ist dafür verantwortlich? Die Verhältnisse? Die Gesellschaft? Das System? Aber handeln in diesen nicht Menschen, gefallene Menschen, oftmals ihre Bosheit nur zu deutlich zeigende Menschen?

„Da haben wir die freie Wahl“

Wie ist Hebel zu seinen Auffassungen gelangt? In einem Abschnitt des Interviews erläutert er seinen methodischen Ansatz der Bibelinterpretation:

„Wie ich die Bibel lese und damit meine Theologie bekomme, hängt ganz an meiner subjektiven Wahrnehmung. Mir hat da sehr die Frage nach meinem Leitmotiv geholfen: Worauf du hinauswillst, entscheidet stark darüber, wie du bestimmte Bibelstellen oder bestimmte biblische Aussagen einordnest. Wenn ich die Liebe als Grundmotiv des Christentums sehe, dann kann ich es mir nicht leisten, Menschen auszugrenzen. ‘Die Liebe glaubt alles, die Liebe hofft alles’, das ist sehr integrativ. Da habe ich gar keinen Spielraum, irgendwelche Menschen auszugrenzen. Aber ich bekomme natürlich Probleme mit bestimmten Dingen, wenn ich als Leitmotiv habe: ‘Der Mensch ist verloren, und er wird nur errettet, indem er bestimmte Dinge tut und glaubt.’ Welches Leitmotiv ich also habe, mit welchem Auslegungsschlüssel ich die Bibel aufschließe, entscheidet über die Botschaft. Und da haben wir die freie Wahl, denn ich glaube, dass die Bibel so oder so zu lesen ist. Ich habe mich auf Grund der pädagogischen und psychologischen Erfahrung, die ich gerade hier in meiner Arbeit mit Teens in der Blu:Box Berlin mache, für die Liebe als Leitmotiv entschieden.“

Es ist unbestreitbar, dass unsere subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen unser Verständnis der Bibel und damit von Theologie überhaupt beeinflussen, ja ein Stück weit prägen. Dass die Theologie aber „ganz“ daran hängt, folgt ganz und gar nicht aus dieser Erkenntnis! Diese Überzeugung öffnet vielmehr der Willkür in der Hermeneutik Tür und Tor, und Hebel spricht selbst von der „freien Wahl“ in der Festlegung des Leitmotivs. So frei wohl aber doch wieder nicht, denn wer „Liebe als Grundmotiv des Christentums“ anders deutet als Hebel, wer immer noch meint, Menschen als Verlorene ansprechen zu müssen, der hat ja wohl das falsche Leitmotiv gewählt. Wenn die Bibel wirklich „so oder so“ zu lesen sei, warum wird dann aber in Wahrheit doch zu verstehen gegeben „so und besser nicht anders“, nämlich angeblich ausgrenzend, diskriminierend, lieblos usw.?

Die Bibel muss selbst bestimmen, wie sie ausgelegt werden will. Sie selbst legt ihr Leitmotiv fest. Wir haben nicht die Freiheit, ein uns genehmes herauszupicken. Die biblische Theologie untersucht diese Linien im Wort Gottes und formuliert Zusammenfassungen wie z.B. der Baptist James Hamilton: „The glory of God in salvation through judgement“ (s. auch hier). Über solche Formulierungen kann natürlich gestritten werden, aber solche Debatten kreisen um die Frage, wie die Selbstaussagen der Bibel besser in menschliche Worte zu fassen sind. Wir werden hier nie zu einem definitiven Abschluss kommen, weil tatsächlich Erfahrungen, Kultur und Subjektives Einfluss nehmen. Hebel hat sich dagegen aus diesem Diskurs verabschiedet und für seine Deutung der Liebe entschieden, an der er auch nicht mehr rütteln will. Das macht ihn fast schon unangreifbar – wer ist schon gegen die „Liebe als Grundmotiv“? Doch er weiß doch selbst viel zu genau, dass sich auch die althergebrachten Prediger von Sünde und Hölle von der Liebe geleitet sehen.

Schon in der Überschrift des Interviews wird der Hochmut angesprochen. Trotz des Wortes „unser“ ist natürlich der Hochmut der anderen gemeint. Hier ist zurückzufragen: Woher kommt Hebels Hochmut zu meinen, er hätte die Liebe definitiv auf seiner Seite?

Unser „konstitutionelles Erfahrungsdefizit“

Hebel hat sich aufgrund der Erfahrungen in seiner Arbeit für seine Version des Leitmotivs entschieden. Argumentativ ist ihm da kaum noch beizukommen. Offensichtlich räumt er dieser Erfahrung eine hohe Autorität ein. In Kombination mit dem Glauben, die Bibel sei „so oder so“ zu lesen, würde jede Diskussion schnell auf diese oder ähnliche Weise enden: Ich lese die Bibel eben auf diese Art, weil ich diese und jene Erfahrung gemacht habe und du wohl nicht.

Weil der Mensch tief gefallen ist, ist jedoch auch unsere Erfahrung gefallen, und das heißt vor allem auch: Wir deuten unsere Erfahrungen mitunter höchst fehlerhaft. Erfahrung kann sehr trügerisch sein. Die reformatorische Theologie hat diese Erkenntnis eigentlich sehr gut bewahrt. Sie macht nur Sinn auf dem Hintergund des Festhaltens an der radikalen Verderbtheit des Menschen. Und hier schließt sich natürlich der Kreis: Wird der Mensch in immer rosigerem Licht gesehen, wie bei Hebel, so verlässt man sich immer mehr auf die Autorität der eigenen Erfahrung.

Der katholische Philosoph Robert Spaemann erinnert auch die Evangelikalen: „Es gibt heute eine Überbetonung der Erfahrung im Bereich des christlichen Glaubens. Diese Überbetonung muss unvermeidlich zu Frustrationen und Enttäuschungen führen. Der Glaube ist nämlich gerade die Antwort auf ein konstitutionelles Erfahrungsdefizit im status viatoris [Pilgerstand]. Er behebt aber dieses Defizit nicht.“ (Das unsterbliche Gerücht)

Spaemann nennt u.a. das Beispiel der Sünde. Natürlich erfahren wir die Folgen menschlicher Schuld; dass wir Menschen schuldig werden, ist jedem klar. Aber „die absolute Dimension unserer Verfehlungen“, unsere Trennung von Gott, und auch die „absolute Dimension der Vergebung“, unsere Einheit mit Christus, sind nicht „unmittelbar erfahrbar“. Wir glauben, dass nach dem Fall der Mensch tot in Sünden ist, weil Gott selbst dies offenbart hat. Mit dem Christwerden kommen neue Dimensionen des Wissens und Erfahrens hinzu, doch auf dieser Erde leben wir weiterhin im Glauben und nicht im Schauen. Deswegen ist der Glaube nicht nur die Eintrittskarte ins christliche Leben, sondern bleibt im gesamten weiteren Dasein in dieser vergänglichen Welt unser Hauptinstrument.

Die sichtbare Welt, so wie sie sich uns darbietet, ist eben offen für verschiedene Deutungen und Erfahrungen, auch die gottlose. Die Bibel selbst macht ja deutlich, dass sich selbst vorbildlich Gläubige mitunter als von Gott verlassen erfahren, Gottesferne spüren. Welche Erfahrungen machte Joseph wohl im ägyptischen Gefängnis? Er erfuhr wahrlich nicht die Führung Gottes, aber er wurde von Gott geführt, und wir können davon ausgehen, dass er an diese glaubte, weil er am Glauben festhielt. Erfahrung, auch die christliche, ist nicht abgeschlossen, vielmehr mehrdeutig, ein Stück weit interpretationsoffen, und deshalb bleibt der feste Glaube so wichtig. Und dieser hält sich fest am offenbarten Wort Gottes.

Wird dies nicht beachtet, kommt man im Hinblick auf die anderen Religionen schnell in Teufels Küche. Denn auch der Muslim erfährt natürlich seine Religion, und auch der Buddhist macht gewiss spirituelle Erfahrungen der Erlösung und Befreiung. Hat subjektive Erfahrung das letzte Wort, bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als diese tolerant stehen zu lassen – und auf Mission zu verzichten. Oder sie zu einem bloßen Erfahrungsaustausch herunter zu definieren: Ich hab da ‘ne interessante Erlösungserfahrung – wir wär‘s damit? Und was habt ihr zu bieten?

Erfahrung als solche hat keine erkenntnistheoretische Priorität und in sich ruhende Autorität. So knüpften z.B. die Apostel in ihren Predigten vor Heiden natürlich an deren Erfahrungen an; doch sie verkündigten ihnen Dinge, die ihre Erfahrungswelten weit überstiegen und sprengten. Erfahrung muss in ein Gesamtkonzept, ein Modell, eine Weltanschauung, ein Paradigma eingeordnet werden. Dessen Kerninhalte sind von der Bibel allein autoritativ festzulegen. In manchen Fällen bindet Gott Menschen in sein offenbarendes Handeln mit ein; man denke an die Befreiung aus Ägypten und die Erfahrungen der Jünger mit dem Auferstandenen. Aber auch diese Erfahrungen werden von Gottes Wort autoritativ gedeutet.

Deutlich wird dies in der Episode der Emmaus-Jünger in Lk 24. Jesus korrigiert dort die Erfahrung der Enttäuschung und Traurigkeit der zwei Jünger – indem er mit ihnen ein langes Bibelstudium macht. Dadurch machen sie neue Erfahrungen, Gott spricht dadurch ihr Herz an. Jesus zeigt sich interessanterweise nicht in seiner Auferstehungsherrlichkeit. Stärker als hier könnte die Erkenntnispriorität des Wortes nicht ausgedrückt werden. In dem gesamten Erkenntnisprozess ist die Erfahrung durchaus beteiligt und übt ihren Einfluss aus, und unsere Erkenntnisse wirken zurück auf die Erfahrung. Aber wenn Gott sich in seinem Wort klar offenbart hat, dann haben wir Menschen uns nach dieser Vorgabe zu richten – unsere Erfahrung inklusive.

„Nathan“ reloaded

Am Ende des Interviews spricht Krüger das Thema Wahrheit an: „Wie gehst du dann heute mit dem Wahrheitsanspruch Jesu um? Ausgrenzung hängt ja meist daran, dass man sich selbst als Besitzer der Wahrheit versteht – und Jesus sagt selbst: ‘Ich bin die Wahrheit’ …“

Hebels Antwort überrascht: „In der Bibel steht nicht, dass Jesus die Wahrheit ist. Das ist in der deutschen Übersetzung so, aber der verwendete griechische Begriff bedeutet, auf Menschen bezogen: ‘Ich bin wahrhaftig’ oder ‘Ich bin aufrichtig’. Weil er das Maximum an Kontakt zur Liebe und zu den Menschen gelebt hat, das jemals gelebt wurde. Jesus meint also nicht: ‘Ich habe uneingeschränkt recht’, sondern er meint: ‘Lebt so aufrichtig, wie ich gelebt habe.’ Und das wiederum hat bestimmte Konsequenzen…“

Hier kommt man nun wahrlich ins Stutzen, ja man fragt sich: Wer hat ihm denn so einen Unsinn gesteckt? Mir ist keine einzige Bibelübersetzung bekannt, die Joh 14,6 mit „Ich bin wahrhaftig“ statt „Ich bin die Wahrheit“ wiedergeben würde. Beides steht natürlich in keinem Widerspruch: Jesus ist die Wahrheit und vollkommen wahrhaftig. Wieso behauptet er aber kategorisch – und schrecklich besserwisserisch „In der Bibel steht nicht, dass Jesus die Wahrheit ist“? Es ist geradezu absurd: Jesus wird bei ihm zu einem unanstößigen Moralprediger, aber er selbst korrigiert mal eben arrogant die Bibelübersetzer in einem Ton des „ich habe uneingeschränkt recht“.

Hebel fährt fort: „Woher kommt nur unser Hochmut zu meinen: ‘Wir haben die Wahrheit’? Woran willst du das denn festmachen? All die subjektiven Erlebnisse, die wir im Glauben haben, die haben doch andere Menschen in anderen Religionen genauso. Aber da komm ich jetzt und sage: ‘Ihr liegt alle falsch, und ich liege richtig’? Das ist der völlig falsche Weg. Uns bleibt nur, das zu leben, was Jesus gelebt hat, um herauszufinden, ob Jesus ‘echt’ ist. Und dann werden wir bei der Liebe landen. Ob die Sache mit Jesus wahr ist, entscheidet sich nicht an einer philosophischen oder ideologischen Grundsatzdiskussion, sondern es entscheidet sich an den Früchten.“

Dieser Gedankengang kommt einem bekannt vor. Es ist Lessings Moral in dessen Stück Nathan der Weise aus dem Jahr 1779. Ob der Christ, Jude oder Muslim recht hat, muss sich an der tätigen Liebe zeigen. Jeder lebe nach den höchsten Maßstäben seiner Religion, behaupte aber nicht, dass die anderen falsch liegen. Im Grundsatz skizziert Hebel hier nichts anderes als die Apologetik des theologischen Liberalismus. Er schließt mit dem Satz: „Ich würde niemals mehr jemandem sagen: ‘Ich kenne die Wahrheit, und du kennst sie nicht.’“

Was soll man zu all dem sagen? Sicher ist hier manches schrecklich selbstwidersprüchlich. Wie wir schon sahen, nimmt Hebel durchaus in Anspruch einige Wahrheiten zu kennen, und auch in der Ablehnung anderer Auffassungen wird er hier und da deutlicher – wenn auch implizit: Du kennst die Wahrheit nicht, dass es in erster Linie darum geht, so zu leben wie Jesus; dass die Liebe das oberste Grundmotiv der Bibel ist; dass die Bibel nicht sagt, Jesus ist die Wahrheit; dass wir nicht defizitär sind usw.

Die Wahrheit wollen heute viele nicht mehr „haben“, sondern nur noch „leben“. Gerne wird nun Verwirrung gestiftet. Peter Rollins, von Atheisten gefragt, wie er nur glauben könne, dass seine eigene religiöse Tradition, das Christentum, wahr sei, meinte provokant: „I don‘t“. Ich glaube nicht, dass ein Glaubenssystem wahr ist, und das gelte selbst für sein eigenes (How (not) to speak about God). Auf ähnliche Weise Christina Brudereck in Freischwimmer: „Ob es Gott gibt? Keine Ahnung.“

Vom Wissen will man nichts mehr wissen. Kant lässt grüßen, der schon das Wissen u.a. in theologischen Fragen zur Seite schob, um für den Glauben Raum zu gewinnen. Woher kommt nun aber unser Wissen um Wahrheit? Erfrischend präzise und klar antwortete jüngst Kardinal Müller auf Fragen der „Zeit“ (1/2016): „Für uns Katholiken und auch für die evangelischen Christen ist das Wort Gottes die Wahrheit. Und in Wahrheitsfragen gibt es keinen Kompromiss. Denn wir sind nicht die Verhandlungspartner Gottes, sondern Hörer seines Wortes.“ Der Chef der Glaubenskongregation im Vatikan: „Zweifellos ist die Wahrheit kein Besitz zu unserer Verfügung, sondern ein Schatz, der der Kirche anvertraut worden ist. Die Kirche ist kein Philosophenklub, der sich der Wahrheit annähert, sondern die Offenbarung ist uns gegeben, um sie zu bewahren und treu auszulegen. Die Wahrheit will nicht nur  gesucht werden. Sie verlangt auch die Entscheidung zu ihr.“ Frage der „Zeit“:  „Woher wissen Sie, was die Wahrheit ist?“ Müller: „Indem wir die Heilige Schrift als Wort Gottes nach den Regeln einer theologischen und historischen Hermeneutik auslegen… Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit. Und die Kirche verkündet keine andere Botschaft als jene, die ihr von ihrem Herrn übertragen worden ist.“

Die Kirche Roms hat die vertikale Dimension allgemein besser bewahrt als viele Evangelische, die inzwischen ganz in der Horizontalen aufgehen. Sünde, Gnade, Evangelium usw. werden vom katholischen Lehramt in erster Linie im Hinblick auf Gott definiert, und dieser hat sich gleichsam von oben herab in unsere Welt hinein offenbart. Er hat seinen Sohn, die Wahrheit in Person, gesandt, und er hat Wahrheit mitgeteilt, die wir kennen, wissen, glauben und weitergeben können. Unser angeblich hochmütiges Wissen von Wahrheit ruht auf Offenbarung.

Wenn die autoritative Offenbarung Gottes aber in der Hand zerbröselt, bleibt nicht mehr viel. Nobert Bolz in seinem SWR2-Beitrag „Gnadenlose Neuzeit“ Ende November: „Kennt die evangelische Kirche überhaupt noch den Unterschied zwischen Christentum und einem diffusen Humanitarismus? Sie ersetzt den Skandal des Gekreuzigten zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit… Was dann noch bleibt, ist die Sentimentalität einer unrealistischen Menschenfreundlichkeit.“

„Bei der Wahrheit verstehen viele keinen Spaß“

Leider ist heute beim wichtigen Thema Wahrheit die Konfusion groß. Die Postmoderne hat ihre Spuren hinterlassen. In den vergangenen Wochen entspann sich eine Diskussion zwischen Michael Diener, dem Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz, und Ulrich Parzany, dem altgedienten Evangelisten, über den Kurs der evangelikalen Bewegung. Auslöser war – wen überrascht‘s – der Umgang mit dem Thema Homosexualität. Tobias Faix dazu auf seinem Blog: „da wird schon deutlich, es geht um mehr, es geht um die Wahrheit. Und bei der Wahrheit verstehen viele keinen Spaß, denn es gibt nur eine und die habe zufällig ich und damit haben alle anderen, die anderer Meinung sind, diese folgerichtig nicht und sind falsch.“ Er fordert „mehr Ambiguitätstoleranz“ und lobt Diener als „ambiguitätstolerante Person“, der – besser als Parzany – Spannungen aushalten könne „ohne darauf aggressiv zu reagieren“.

Parzany hatte auf Dieners öffentliche Äußerungen in der „Welt“ in einem offenen Brief reagiert und diesem in Teilen widersprochen. Ist so ein Verhalten intolerant? Mangelt es Parzany an Ambiguitätstoleranz? Wie schon bei der „sozialen Gerechtigkeit“ kann ich nicht erkennen, was der Zusatz „Ambiguität“ (Mehrdeutigkeit) hier bringen soll. Was Gerechtigkeit ist, weiß jedes Kind (F. Bastiat), aber wie „soziale Gerechtigkeit“ sinnvoll zu definieren ist, ist kaum noch klar. Gerechtigkeit ist vielmehr an sich schon ein soziales Phänomen.

Was Toleranz bedeutet, ist (oder war einmal) klar. Man toleriert den Menschen und Mitbürger, der eine andere Religion, eine andere Auffassung zu bestimmten Dingen, eine andere Weltsicht usw. hat. Man lässt den anders Denkenden und Glaubenden neben sich leben (klingt heute selbstverständlich, war es aber nicht), lässt ihn seine Position frei vortragen und verbreiten, geht ihm nicht aggressiv an die Gurgel. Toleranz ist deshalb nötig, weil die Wirklichkeit mehrdeutig ist. Wie „sozial“ in der „Gerechtigkeit“, so steckt „Ambiguität“ schon in der „Toleranz“.

Toleranz ist wesentlich Personentoleranz, aber nicht Ideentoleranz. Spaemann hat es vorbildlich klar ausgedrückt: „Ideen sind ihrer Natur nach intolerant, auch sogenannte liberale Ideen. Eine Idee, die einen Wahrheitsanspruch erhebt, führt immer die binäre Unterscheidung zwischen wahr und falsch ein. Menschen dagegen können und sollen im Umgang mit Menschen, die andere – ihrer Meinung nach falsche – Ideen haben, tolerant sein. Denn nur so können sich Ideen enstprechend der ihnen eigenen geistigen Kraft mit anderen Ideen messen.“ Der Katholik Spaemann macht sich – wie auch große liberale Denker und Agnostiker wie von Mises oder Hayek – für den Kampf der Ideen stark, der von der Personentoleranz nicht zu trennen: „Nur tote Ideen existieren in der Form der friedlichen Koexistenz nebeneinander. Allerdings… kann es nur dort zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen religiösen Überzeugungen kommen, wo Menschen, die ihre Religion ernsthaft praktizieren, miteinander friedlich koexistieren.“

Diese Zusammenhänge werden bei Faix und Hebel überhaupt nicht deutlich. Den schwarzen Peter haben bei ihnen all diejenigen, die Widerspruch einlegen; die sagen „so nicht!“ und Aussagen als falsch bezeichnen; die angeblich Gräben aufreißen und Einheit zerstören; die sich erdreisten, in ihren Augen falsche Ideen – oh Graus! – doch tatsächlich bekämpfen und nicht ‘tolerant’ stehen lassen zu wollen.

„Es wäre so schön, wenn wir aufhören, uns darüber zu streiten, wer nun recht hat.“ An Sätze wie diesen eines christlichen Bloggers hat man sich inzwischen gewöhnt. Nun soll man wahrlich nicht bei jeder Gelegenheit Zankereien vom Zaun brechen. Schon die Bibel warnt davor. Doch um der Wahrheit – und bei ihr hören nicht nur der Spaß, sondern auch noch ernstere Sache auf – willen müssen wir den Streit wohl wieder erst lernen.

Viele wäre noch zur Wahrheit zu sagen. An dieser Stelle sei nur auf den Vortrag von Os Guinness bei der Lausanner Konferenz in Kapstadt 2010 hingewiesen. „Why truth matters“ ist ein großes und eindrückliches Plädoyer, die Wahrheit ernst zu nehmen. Guinness findet auch deutliche Worte für die (post)modernen Verächter der Wahrheit unter den Christen heute.

Ein anderes Evangelium

Ein nicht zu langes Interview und eine lange Kritik – viel Aufhebens um wenig Anstößiges? Viel Lärm um fast nichts? Wie man‘s sieht. Auch wenn man Diskussionen um die Hermeneutik und die Wahrheit als vielleicht spitzfindig empfindet – beim Evangelium hört der fromme Spaß nun endgültig auf. Hebels Zusammenfassung der „Botschaft Jesu“ lautet so: „Ich glaube, das Evangelium dreht sich nur um eine Sache: Werden wie Jesus. Punkt. Lebt so, wie Jesus gelebt hat!“ Oder an anderer Stelle: „[Jesus:] Lebt so aufrichtig, wie ich gelebt habe.“

Leider ist das nicht das Evangelium der Bibel. Es ist ein anderes Evangelium, überhaupt keine gute Nachricht. Hebel präsentiert uns hier Gesetz, nicht Evangelium, forderndes Wort, nicht befreiendes Wort. Im Heidelberger Katechismus ist er gleichsam in den dritten Teil gesprungen – „Von der Dankbarkeit“, in den Teil über das christliche Leben der Heiligung. Natürlich sollen wir Jesus immer ähnlicher und damit auch immer menschlicher werden. Aber noch einmal: das ist nicht das Evangelium, das ist nicht die Kernzusage, die Gott uns macht. All dies ist Frucht des Evangeliums, natürliche und notwendige Folge, Ziel der Guten Nachricht.

Hier schließt sich noch einmal ein Kreis. Ist der Mensch nach dem Fall nicht tief gefallen und gänzlich verdorben, so kann er oder sie natürlich auch so leben, wie Jesus gelebt hat. Er oder sie hat dann die natürlichen Fähigkeiten, diesem Gebot (mit etwas göttlicher Assistenz natürlich) auch tatsächlich zu folgen. Reformatorische Theologie hat dem schon immer vehement widersprochen: Nein, das kann der Mensch eben nicht, weil unser Wille im Bösen gefangen ist. „Kleinmacherei!“ schalt es einem da entgegen. Sei‘s drum. Manche Wahrheiten werden nicht deswegen falsch, weil sie demütigend sind.

 

PS: Ein persönliches Nachwort. Torsten Hebel ist für mich eigentlich nicht „Hebel“, sondern „Torsten“. Wir gehörten beide zum Studentenjahrgang 1990 des Neues Leben Seminars (nun TSR), drückten beide oft genug nebeneinander die dortige Schulbank und haben uns damals recht gut verstanden und nicht wenig Zeit zusammen verbracht. In den letzten gut 20 Jahren haben wir uns ziemlich aus den Augen verloren. Aus der Ferne beobachtet scheint mir doch, dass Torsten seinen beruflichen Weg gefunden hat. Bei dem nun ja auch in die breite Öffentlichkeit getragenen Glaubensweg hätte ich große Anfragen. Sicher muss jeder persönlich seinen eigenen ‘theologischen’ Weg finden und gehen, aber die intensive mediale Präsenz hat eben auch wegweisenden Chararkter für andere. Und ich glaube nicht, dass diese Richtungsangabe wahr und hilfreich ist. In den obigen Sätzen habe ich einen sachlichen und eher unpersönlichen Stil gewählt, da Torstens Aussagen ja auch auf recht breiter Front in den Medien kursieren. Öffentliche Äußerungen sollten inhaltlich auch öffentlich erörtert werden.

Ich habe viel Sympathie für all diejenigen, die sich aus beengten, unterdrückenden, kleinmachenden Gemeindetraditionen befreien mussten. Mir, einem in der ‘normalen’ Landeskirche und in einem ‘weiten’ und vorbildlichen pietistischen Elternhaus Großgewordenen, fehlt diese Erfahrung. Freischwimmen ist eine gute Sache. Nur hängt viel vom richtigen Bademeister ab. Bei Torsten ist dieser Bademeister im wahrsten Sinne des Wortes womöglich mit der Hand zu greifen. Vor nun bald 25 Jahren standen auf seinem Regal die Completed Works von Francis Schaeffer, die ich mir zuvor auch schon zugelegt hatte. Vielleicht stehen sie da immer noch? Schaeffers L‘Abri fellowship weist gerade für all diejenigen, die Kreativität und Kultur hochschätzen und die unter der kulturellen Enge vieler Kirchen leiden, einen anderen Weg. (Mich haben Schaeffers Werke zur Theologie geführt und ließen mich meine bisherigen Studien in Kunst und Design mit dem christlichen Glauben in Einklang bringen.) Einen Weg nämlich, der aus einer falschen Enge herausführt und mit einer hohen Sicht der biblischen Autorität und mit einer hohen Sicht der Wahrheit („true truth“ bei Schaeffer) vereinbar ist. Obwohl ich Freischwimmer noch nicht gelesen habe, befürchte ich, dass die dortigen Gesprächspartner ihn wohl eher in eine andere Richtung gewiesen haben.