Kirche im Wandel
Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre schossen in Litauen neue Kirchen und Gemeinden wie Pilze aus dem Boden. Nach vielen Jahren des strengen Atheismus lockerten sich die Zügel des Staates bis dann im unabhängigen Litauen volle Religionsfreiheit garantiert war. Aus der Pfingstgemeinde in Vilnius ging eine Gruppe junger Christen hervor, die 1988 „Tikėjimo žodis“, Wort des Glaubens, gründeten. Wie der Name ausdrückt, sah man sich als Teil der von Kenneth Hagin geleiteten „Glaubensbewegung“ (Word of Faith). Das „volle Evangelium“ mit Heilungen, Visionen und einem Versprechen von Wohlstand wurde gepredigt; ausländische Stars der Strömung wie Ulf Ekman aus Schweden waren häufige Gäste; durch intensive Evangelisation wuchs die Bewegung innerhalb weniger Jahre auf mehrere Tausend Mitglieder. Ein Netz von Zig Gemeinden im Land bildete sich. Nicht zuletzt wegen harscher antikatholischer Rhetorik war das Echo in den Medien jedoch fast nur negativ. Für die meisten war „Tikėjimo žodis“ nur die größte der vielen neuen Sekten.
Vor gut zehn Jahren nahm der damalige Leiter der Bewegung, Giedrius Saulytis, ein Theologiestudium an der angesehenen „Trinity Evangelical Divinity School“ in den USA auf. Dies wurde zu einem Signal für die gesamte Kirche: Geistbegabung allein reicht nicht; fundierte Kenntnisse in Bibelauslegung und Glaubenslehre sind nötig. Vom Leiter angeregt nahmen in den letzten Jahren zahlreiche Pastoren und Laien ein Studium am Ev. Bibelinstitut (EBI) in Šiauliai auf. Die dortige Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und unterschiedlich geprägten Studenten und Dozenten trug Früchte. Schon vorher begann sich „Tikėjimo žodis“ ganz von der „Glaubensbewegung“ zu lösen. Mit ins Sektiererische abgedrifteten Gruppen in Lettland und Russland arbeitet man schon lange nicht mehr zusammen. Das extremere charismatische Spektrum wird in Litauen nun von den „Ekklesia“-Kirchen abgedeckt.
In über 25 Jahren hat die Kirche manches erreicht: Noch vor der Bibelgesellschaft erschien 1995 eine erste Komplettausgabe der Bibel, die immer noch verlegt wird (die Übersetzung des Methodisten Kostas Burbulys). Heute unterhält man eine christliche Versandbuchhandlung und Zeitschrift, einen Verlag und ein Aufnahmestudio sowie in Vilnius eine christliche Schule bis zur 12. Klasse. 2012 wurde die Kirche Mitträger des EBI und beherbergt das Studienzentrum in Vilnius. Nun werden nicht mehr Hagin, Cho und Copeland verlegt, sondern Dietrich Bonhoeffer und John Stott; nun kommt nicht mehr Ekman zu Besuch, sondern der reformierte Theologe Willem VanGemeren, em. Prof. für Altes Testament in „Trinity“; nun wird nicht mehr auf die Katholiken eingedroschen, sondern Zusammenarbeit der Kirchen großgeschrieben.
Vor ein paar Jahren enthob die Kirchenleitung den Hauptpastor Saulytis (inzwischen Doktor der Theologie) von allen seinen Ämter wegen einer außerehelichen Beziehung. Damit begann man auch vom straff autoritären Führungskurs anzurücken, den vor allem Saulytis verkörperte. Neue Gemeinde- und Bundessatzungen entfernen sich langsam von der bisherigen Alleinherrschaft der Pastoren; man nähert sich einem pluralen Leitungsmodell. Abgeschaut von den Reformierten gibt es nun sogar eine „Synode“ der Pastoren und Gemeindevertreter. Einige Ortsgemeinden haben außerdem den Namen in „evangelische Kirche“ abgeändert.
In diesem Jahr nahm „Tikėjimo žodis“ den reformiert geprägten „New City Catechism“ als Teil der offiziellen Glaubensgrundlage an. Auf ihrer jüngst neu gestalteten Internetseite (evangelija.lt) wurden auch historische protestantische Bekenntnisse wie der Heidelberger Katechismus eingestellt, die als nützlich und hilfreich angesehen werden. Dort finden sich auch die Lausanner Verpflichtung und die Chicagoer Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel, die die Kirche ebenfalls anerkennt. In diesem Winter geben „Tikėjimo žodis“ und reformierte Kirche gemeinsam das Westminster-Bekenntnis heraus. Konkret wird eine offizielle Abendmahlsgemeinschaft der beiden Kirchen diskutiert.
„Tikėjimo žodis“ geht damit einen ähnlichen Weg wie die „Arche“, die Ev.-reformierte Freikirche in Hamburg. Allerdings hat die litauische Kirche viel mehr Ortsgemeinden, die durchaus unterschiedlich geprägt sind; längst nicht alle der Pastoren (und natürlich Mitglieder) fühlen sich der reformierten Theologie eng verbunden. Viele sind auch immer noch zufrieden mit dominanten Pastoren. Doch insgesamt ist die zweitgrößte protestantische Kirche im Land auf einem guten Weg.
Schließlich ist nur zu begrüßen, dass die Evangelischen in Litauen (eine Minderheit von etwa 1% der Bevölkerung) endlich in konkreter Weise enger zusammenrücken – wie schon in Polen-Litauen Ende des 16. Jahrhunderts.
(Bild o.: evangelistischer Marsch der Gemeinde „Tiesos žodis“ in Šiauliai Anfang der 90er Jahre; auf dem Banner: Wo Gottes Geist ist, da ist Freiheit [2 Kor 3,17].)