Licht aus dem Osten?

Licht aus dem Osten?

Viele Christen in Mitteleuropa sind beunruhigt angesichts der Erosion traditioneller Werte. Gerade die mitunter rabiate Durchsetzung der „Geschlechtervielfalt“ macht manchen große Sorgen. Die Publizistin Gabriele Kuby spricht von der Globalen sexuellen Revolution (so ihr Buchtitel), die uns gerade zu überrollen droht: christliche Grundwerte werden geschleift, Bibel und Christentum bleiben weitgehend ohne Einfluss.

Da wundert es nicht, dass konservative Christen geradezu sehnsüchtig gen Osten blicken. Pastor i. R. Dr. Dieter Müller aus Kiel beginnt seinen Beitrag „Der west-östliche Wertestreit“ (Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, 1/2015) mit der Feststellung: „Die tiefe gegenwärtige Beziehungskrise zwischen Rußland und dem Westen hat ihren Grund nicht nur in Macht-, sondern auch in Wertefragen. Völkerrecht haben beide gebrochen – der Westen und Rußland.“ Die westlichen Staaten und Russland seien „gelenkte Demokratien“, wenn auch „in unterschiedlichem Umfang“. Russland verteidige sich nun „mit seiner militärischen Stärke und der Identität stiftenden Kraft eines traditionellen, erneut religiös verwurzelten Menschenbildes.“

Die postmoderne Diktatur

Solche Sätze müssen jedoch ebenfalls große Sorgen machen. Dass jede Regierung der Welt auch Dreck am Stecken hat, sollte Christen nicht überraschen. Überall regieren Sünder. Und dass der Westen mit großen Problemen der verschiedensten Art ringt, ist offensichtlich. Warum aber die leichtfertige Relativierung der russischen Völkerrechtsverletzung? Der Kosovokrieg 1999 war tatsächlich auch völkerrechtswidrig, aber wir wissen, warum er begonnen wurde; und so war auch schon das Aufbringen von Sklavenhändlern im Atlantik durch die britische Navy im 19. Jahrhundert gegen geltendes internationales Recht. Der Westen kennt seit Jahrhunderten so etwas wie humanitäre Interventionen – militärische Eingriffe um der Freiheit anderer Menschen willen. Man spotte nicht voreilig darüber, nur weil auch dies in einer gefallenen Welt niemals in völlig moralisch reiner Weise und gänzlich uneigennützig geschieht. Kennt Putins Russlands aber überhaupt diese Kategorie? Einsatz für die Freiheit anderer, die nicht zu meinem Volk gehören? Um die einfachen Menschen, und seien es die Russen auf der Krim, geht es dem Präsidenten in Moskau zuallerletzt.

Überall „gelenkte Demokratien“? Müller vergisst darauf hinzuweisen, dass die Frage ist, wer lenkt oder genauer: wie viele lenken. In den Staaten des Westens wird um Einfluss und Lenkungsmacht in Regierung und Gesellschaft intensiv gerungen, und zwar von einem breiten Spektrum an Personen, Gruppen und Mächten. Peter Pomerantsev schildert in Nichts ist wahr und alles ist möglich: Abenteuer in Putins Russland, wie Lenkung im heutigen Russland funktioniert. Wladislaw J. Surkow, der ehemalige stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, später dann Vizeministerpräsident und Berater des Präsidenten in auswärtigen Angelegenheiten, hat, so Pomerantsev, „die russische Gesellschaft wie eine einzige große Realityshow inszeniert. Er klatscht einmal in die Hände, und schon ist eine neue politische Partei da. Er klatscht noch mal, und zack, hebt er Naschi aus der Taufe, das russische Pendant zur Hitlerjugend… Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung traf er sich einmal wöchentlich in seinem Büro im Kreml mit den Leitern der Fernsehsender und wieß sie an, wen sie zu kritisieren und wen sie zu verteidigen hatten, wer im Fernsehen erlaubt war und wer nicht, wie sie den Präsidenten präsentieren sollten und in welcher Sprache und in welchen Schablonen das Land zu denken und zu fühlen hatte.“

O-Ton Surkow: „Ich bin der Schöpfer oder einer der Schöpfer des neuen russischen Systems. Mein Aufgabenbereich im Kreml und in der Regierung umfasst Ideologie, Medien, politische Parteien, Religion, Modernisierung, Innovation, Außenbeziehungen und… moderne Kunst.“ Pomerantsev fasst zusammen: „Der Kreml möchte alle Formen des politischen Diskurses dominieren, damit nur ja keine unabhängige Bewegung außerhalb seiner Mauern entsteht. Sein Moskau kann beim Frühstück wie eine Oligarchie anmuten, beim Nachmittagstee wie eine Demokratie, beim Abendessen wie eine Monarchie und beim Zubettgehen wie ein totalitärer Staat.“

Und Kerstin Holm gestern auf FAZ online: „Zahllose Fernsehagitatoren, ein ganzes Heer bezahlter Internettrolle legen sich täglich ins Zeug, um die westliche Wertegemeinschaft der Heuchelei zu überführen, russische Regimekritiker zu schmähen, einheimische moralische und materielle Nöte kleinzureden. Dem stillen Gesellschaftsvertrag zufolge identifiziert der Kreml die jeweils akuteste Bedrohung, lenkt den stets überreichlich vorhandenen Volkszorn dorthin und bewirbt sich selbst als Schutzmacht. Das geschönte Bild des Staatschefs und ein einender Gegner sollen dem sich territorial-geopolitisch definierenden Land so etwas wie eine Identität geben.“

Das ist das Gesicht einer wahrlich gelenkten Demokratie.

Müller hat offensichtlich das Wesen der westlichen Demokratien nicht erkannt: die Rechtsstaatlichkeit. Es ist höchst gefährlich, wenn man ihre Wichtigkeit aus dem Blick verliert und sie so ungewollt relativiert. Der Staat unter dem Recht hat die Würde und die Freiheit des Einzelnen zu schützen. Auch hier glänzt im Westen nicht alles, was Gold ist. Aber eine simple Testfrage offenbart den wesentlichen Unterschied: Nehmen wir an, man selbst gerät in einen ernsten Konflikt mit den Organen der staatlichen Obrigkeit – in welcher „gelenkten Demokratie“ möchte man dann persönlich lieber leben? In der postmodernen Diktatur Putins? Oder dann doch lieber in einem Land des Westens?

Gemeingeist oder Individuum

Russland interpretiere die Menschenrechte „traditionell“, so Müller weiter, nämlich in der Weise „wie sie 1948 formuliert waren“. Damals wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen angenommen. Das Land „wehrt sich vehement gegen die westliche Auslegung, die seine überwiegende Mehrheit als dekadent und pervers empfindet.“ Der Punkt ist aber doch, dass diese Sicht genau der Polarisierung entspricht, die der Kreml erreichen möchte: die perverse westliche kontra unsere traditionelle Auslegung. Doch was soll an dieser Gegenüberstellung wahr sein? Natürlich gibt es die aus christlicher Sicht sehr problematische Umdeutung und Erweiterung der Menschenrechte, doch diese ist eben nicht die westliche – auch wenn sie zweifellos nach Dominanz strebt. Es gibt im freien Westen zum Glück immer noch genug andere Stimmen. Ständig versuchen die Machthaber in Moskau alle ihre Widersacher zu Gesinnungsgenossen der militanten LGTB-Front zu machen; im Hinblick auf die Ukraine war und ist das ja zu beobachten.

Deuten Staat und Kirche in Russland die Menschenrechte wirklich „traditionell“? Schön wär’s. Alexander Dugin, Kopf der Eurasischen Bewegung und vermutlich ein „Zuflüsterer“ Putins, meinte im Interview mit dem „Spiegel“: „Unterschiedliche Gesellschaften haben unterschiedliche Werte. Es gibt keine universellen Werte. Die, die dafür gehalten werden, sind eine Projektion westlicher Werte.“ Wohlgemerkt: universelle Werte, Werte für alle eben, werden abgelehnt. Die Idee als solche sei falsch; die Idee der Menschenrechte schmeckt Dugin & Co. grundsätzlich nicht. Denn im Zentrum der Menschenrechte steht eben der Schutz des Einzelnen, des Individuums.

„Rußland sucht seine nationale Identität neu durch die traditionellen Institutionen zu festigen“, so Müller. Die orthodoxe Kirche habe nun wieder „einen erheblichen ethischen Einfluß“ und werde als „Normen-Spender“ angesehen. Er zitiert Jutta Scherrer, die die orthodoxe Kirche als „Kern des nationalen und kulturellen Identitätsfindungsprozesses Russlands“ bezeichnet. Die Professorin in Paris schreibt in ihrem Beitrag aber auch noch anderes: „Die russische Identität wird von der Kirche dem Individualismus, Liberalismus und Säkularismus des Westens gegenübergestellt.“ Der russische „Gemeingeist“ (sobornost) sei „erster Wert der orthodoxen Eigenständigkeit Russlands“. Das zeigt, worin der Wertestreit zwischen West und Ost liegt. „Gemeingeist“ klingt gut, doch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aus Weißrussland, die heute, am 10. Dezember, ihren Preis erhält, redete im Gespräch mit der FAZ Klartext: Russland bringe „regelmäßig Super-Ideen hervor, die den Menschen zum Objekt machen, ihn sich unterwerfen, Individuen zum kollektiven Körper verbacken.“ Und im „Spiegel“ dieser Woche (50/2015): „Der postsowjetische und der sowjetische Mensch sind immer wieder ins Räderwerk der großen Geschichte geraten. Der Mensch hatte hier nie einen Wert, er bleibt immer zwischen den Mahlsteinen der Geschichte.“

Bei diesem Verbacken zogen Staat und Kirche in Russland über viele Jahrhunderte an einem Strang, und nun tun sie es wieder. Scharrer zitiert Putin aus der Fernsehansprache zum orthodoxen Weihnachten am 7. Januar 2004: „Dem Gesetz nach ist in unserem Land die Kirche vom Staat getrennt, doch in der Seele und Geschichte unseres Volkes gehören beide zusammen. Das war immer so und wird immer so sein.“

Und weiter: „Die Interaktion von Staat und Kirche zeigt sich darin, dass der Kreml der Kirche eine gewisse politische Autorität oder Macht zugesteht (die sich auch auf die Behandlung anderer Religionen sowie der Sekten erstreckt), während die Kirche der politischen Führung ihre religiöse Sanktion verleiht (was 2004 bis zur Unterstützung Putins bei der Wahl zum Präsidenten Russlands ging). Für ihre geistige Führung Russlands nutzt die Kirche die Geschichte auf ihre Weise, indem sie an die ‘großen Errungenschaften’ von Russlands Vergangenheit erinnert, um diese für seine Zukunft zu mobilisieren. Beschworen wird immer wieder die byzantinische ‘Symphonie’ der weltlichen und geistlichen Macht sowie die Idee von ‘Moskau, dem Dritten Rom’.“

Hans Albert sprach in Freiheit und Ordnung (1986) zusammenfassend von „zwei in politischer Hinsicht völlig verschiedenen Formen des Christentums“, nämlich einmal die orthodoxe, „in der diese Religion gewissermaßen das ideologischen Bindemittel orientalischer Despotien ist, und zum anderen die westliche Form, bei der Kirche und Staat nicht nur institutionell mehr oder weniger stark voneinander getrennt sind, sondern in der die Kirchen auch eine gewisse rechtlich gesicherte Autonomie und damit einen Handlungsspielraum haben, der ihnen unabhängige Einwirkungsmöglichkeiten auf das soziale Leben gibt.“

Die Kirche als das „ideologische Bindemittel orientalischer Despotien“ oder eines „Mafiastaates“, so die Worte Garri Kasparows („Der Spiegel“ 46/2015). Die Kirche „wurde [in Russland] ‘gleichsam zum Zement der zu rekonstruierenden nationalen Identität’“, so zitiert Müller Scharrer. Um im Bild zu bleiben: einzementiert in einer machtvoll vorgeschriebenen Einheitsidentität, und zwar durch einen Machtapparat, der über Leichen geht – soll das wirklich ein Vorbild sein? Katholische und evangelikale Gemeinden wissen, was es heißt, wenn man in Russland aus der Reihe tanzt.

Müller schließt seinen Beitrag wie folgt: „Es könnte sein, daß die russische Gesellschaft mit ihrer Fundierung in der orthodox-christlichen Spiritualität und ihren Identität stiftenden Institutionen (Nation, Familie, Ehe) sich am Ende als die robustere erweist.“ Gewiss, die Ordnungen Gottes für unser Zusammenleben schaffen Stabilität; und von der orthodoxen Theologie ist einiges zu lernen. Aber man gehe bitte der Propaganda aus dem Kreml nicht auf den Leim. Das klare Auseinanderhalten von Kirche und Staat ist ebenfalls eine biblisch gut begründbare Ordnung. Das Christentum hat die einzelne Person, das Individuum, mit seinem Glauben und seinem Gewissen in das Zentrum gerückt. Wenn Christen im Westen auf Individualismus, Liberalismus und Säkularismus eindreschen, weil sie nur den heutigen Missbrauch dieser hehren Prinzipien sehen, hinterfragen sie tatsächlich die großen Errungenschaften des Christentums.

„Perverser“ Westen und „spiritueller“ Osten? 

Die Faszination der Macht und der Stärke, auch der vermeintlichen geistlichen Stärke, ist groß. Christen im Westen sollten sich dies nicht zum Vorbild nehmen. Es gilt vielmehr die Faszination des Arguments und der Ideen wiederzuentdecken. Und hier hapert’s schon gewaltig. Ideen, echte Ideen, beanspruchen eo ipso Wahrheit, ansonsten sind sie nur Meinungs- oder Stimmungskundgaben. Wer anderen sagt, was er oder sie für objektive Wahrheit und Falschheit hält, muss sich nun vermehrt Hochmut vorwerfen lassen – von Christen. Das radikale Evangelium wird zu einem „so leben wie Jesus“ weichgespült, das gewiss niemandem wehtut. Wenn man sich dem Kampf der Ideen verweigert, muss natürlich ein „Wohlfühlchristentums“ (Norbert Bolz jüngst) dabei herauskommen. Daran ändert nun aber der Blick auf vermeintliches Licht im Osten nichts. Kirchen müssen sich auf ihr westliches Erbe besinnen und „unabhängige Einwirkungsmöglichkeiten“ (Albert) suchen, d.h. gegen den Strich bürsten und dem sozialen, politischen und religiösen Mainstream auch mal kritisch widersprechen. Leider bekommen wir oft nur „Greenpeace mit Handauflegen“ (Jan Fleischhauer) geboten.

Europa ist viel bunter, als Müller glaubt. Es stehen sich nicht einfach der „perverse“ Westen und der „spirituelle“ Osten gegenüber. Eindeutig dem Westen zugehörig fühlen sich auch postkommunistische Länder wie Lettland und Litauen, Polen und die Slowakei, die wahrlich nicht in allem Vorbilder sind – in der Flüchtlingsfrage gewiss nicht. Aber sie folgen mehrheitlich eben weder dem „Gender-Wahn“ mancher westeuropäischen Staaten noch der Politik der eisernen Hand eines Putin (Orban in Ungarn scheint jedoch immer noch davon zu träumen). Sie legen Wert auf nationale Identität, halten das eigene kulturelle Erbe hoch und überraschend stark an christlichen Grundwerten fest. Aber sie haben es eben auch satt, „Späne der Geschichte“ (Alexijewitsch) zu sein; sie wollen um keinen Preis mehr zurück in die Sklaverei und halten die Freiheit hoch. Können Deutsche wie Müller nicht endlich die Fixierung auf Russland aufgeben und diesen in vielem so anderen Teil Zentraleuropas wahrnehmen?

Zum Thema s. auch der Beitrag „Die unheilige Allianz“.

(Bild o.: Präsident Putin bei einer orthodoxen Weihnachtsmesse, Screenshot eines „RT“-Beitrages)