Lernen von Wittgenstein
Hier ein Beitrag zum heutigen Welttag der Philosophie (immer am dritten Donnerstag im November):
„Postmodernismus ist wie ein Chamäleon, denn manchmal erscheint er als ein Ungeheuer, ein anders Mal als das liebvollste Wesen, wieder ein anderes Mal als der Feind in neuer Form, und noch einmal wie ein im Leben noch nie gesehenes Gut“, so der Theologe James K. A. Smith in Who‘s Afraid of Postmodernism? Der Postmodernismus ist vielfältig und bunt, manchmal ernst und seriös, ein anderes Mal verspielt und irrational – und daher eben kaum zu greifen. Er hat viele Gesichter, anziehende und abstoßende, Stärken wie Schwächen. Und dies kann auch nicht überraschen, denn beide Aspekte kennzeichnen menschliche Kultur allgemein.
„Mönch, Mystiker und Handwerker“
Diese zwei Seiten der Postmoderne lassen sich gut im Denken von Ludwig Wittgenstein (1889–1951) aufzeigen. Wittgenstein ist einer der wenigen Philosophen, auf dessen Werk sich gleich mehrere Strömungen zurückführen wie der Logische Positivismus, die Analytische Philosophie und eben die postmoderne Richtung. Letztere beruft sich vor allem auf Friedrich Nietzsche, wohl zu Recht der Vater des Postmodernismus genannt. Neben Heidegger, Gadamer u.a. ist aber auch Wittgenstein eine wichtige Quelle der Postmoderne, so dass man ihn sogar schon „Prophet der Postmoderne“ genannt hat.
Wittgenstein gab also vielfältige Anstöße. Dies liegt einmal an den mehreren Phasen in seinem Denken wie auch an seinem teilweise sehr eigenwilligen Schreibstil, der mitunter mehrere Deutungen zulässt. Gläubigen fällt insofern die Beschäftigung mit Wittgenstein leichter, weil er sich nicht so radikal anti-christlich gab wie Nietzsche, im Gegenteil. Er war Zeit seines Lebens auf einer religiösen Suche, wandte sich wohl während des Weltkrieges vom Atheismus ab und dem Christentum zu (er verschlang damals Tolstois Kurze Darlegung des Evangeliums). Den „Symbolismus des Christentums“ bezeichnete der Philosoph als so „wunderbar“, dass keine Wörter dies beschreiben können. Man dürfe nur kein „philosophisches System“ daraus machen. „Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders als jedes Problem von einem religiösen Standpunkt aus zu betrachten…“ – auch ein Satz, der in wahrlich postmoderner Weise offen für viele Deutungen bleibt. Eindeutig ist, dass Wittgenstein Rationalismus und Dogmatismus in der Theologie ablehnte, sich von vielen Zeremonien angezogen fühlte.
Wittgenstein, aufgewachsen in Österreich, später britischer Bürger, war wohl die schillerndste Persönlichkeit in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, der, so sein Übersetzer ins Litauische, der Philosoph Rolandas Pavilionis (1944–2006), in seinem ganzen Leben zwischen Hellseherei und Verrücktheit hin und her schwankte. Sein Interesse reichte von der Technik über die Mathematik und Logik bis hin zur Sprache und Philosophie. Ein ordentliches Studium beendete er nie. Der 1918 abgeschlossene Tractatus logico-philosophicus (deutsch und dann englisch veröffentlicht 1921 bzw. 1922) blieb das einzige wichtige Werk, das zu seinen Lebzeiten erschien. Später erhielt er dafür in England den Doktortitel. Wittgenstein arbeitete als Volksschullehrer, tat sich als Architekt hervor, lehrte Philosophie in Cambridge. Im I Weltkrieg wurde der Offizier mehrfach ausgezeichnet. Der Sproß einer der reichsten Wiener Familien verschenkte einen Teil seines Erbes und verzichtete später ganz auf den Rest.
„Eine verblüffende Kombination von Mönch, Mystiker und Handwerker“, so der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton über Wittgenstein. Und in den Augen von Bertrand Russell, selbst einer der ganz Großen seines Faches, war dieser „vielleicht das beste mir bekannte Beispiel eines Genies im traditionellen Sinne – leidenschaftlich, tiefgründig, intensiv und dominant“. „Gegenüber seinen Lawinen wirken meine wie Schneebälle“, so der Philosoph sicher etwas gar zu demütig. Nüchtern hielt Russell aber auch fest: „Er hat den Stolz Lucifers“.
Die Welten der Sprachspiele
Der Tractatus machte Wittgenstein, nicht zuletzt dank Hilfe Russells, international bekannt. In ihm vertrat er die sogenannte Abbildtheorie der Wahrheit: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit“ (4.01). Mit dem Werk glaubte er die Probleme der Philosophie im wesentlichen gelöst zu haben. Auf das Denken dieses „frühen“ Wittgenstein gehen wir hier nicht weiter ein, denn in ihr zeigt sich der ‘postmoderne’ Wittgenstein noch nicht.
Erst zwei Jahre nach Wittgensteins Tod erschien 1953 sein zweites Hauptwerk, die Philosophischen Untersuchungen – eines der einflussreichsten philosophischen Bücher nach dem II Weltkrieg überhaupt. Russell erschien das Spätwerk Wittgensteins jedoch „völlig unverständlich“; nichts Interessantes fand er in den Untersuchungen, ja er spürte sogar eine „überwältigende Abneigung“ gegen dies Denken. Dem früheren Freund warf er in My Philosophical Development sogar „geistige Faulheit“ vor – letzteres sicher kein faires Urteil.
In den Untersuchungen vertrat Wittgenstein eine deutlich gewandelte Auffassung: Es geht ihm im Zentrum immer noch um die Sprache, doch er fragt nicht mehr nach einer Welt der Tatsachen, die durch die Sprache abgebildet werden soll. Die Welt, in der wir leben, ist die Welt unserer Sprache. Die Bedeutung unserer Begriffe wird durch ihren Gebrauch innerhalb der sozialen Gemeinschaften oder Kulturen bestimmt: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (§43) – vielleicht der wichtigste Satz im ganzen Werk.
Die für den Tractatus typischen Begriffe wie „Bild“, „Darstellung“ und „Abbildung“ werden abgelöst durch „Gebrauch“, „Verwendung“ und „Anwendung“. „Die Sprache ist ein Instrument“ oder Werkzeug (§569), so Wittgenstein nun. Gleich zu Beginn kritisiert er die „primitive Vorstellung“, dass „jedes Wort eine Bedeutung [hat]. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.“
Die Kehrtwende des „späten“ (oder „zweiten“ wie Russell sich ausdrückte) Wittgensteins war tatsächlich eine radikale. Meinte er noch im Tractatus: die Struktur der Realität bestimmt die Struktur der Sprache, so lehrte er nun: die Struktur der Sprache bestimmt, wie wir die Realität wahrnehmen und über sie denken. Er löste sich damit von einer alten philosophischen Tradition, dass Wörter eine wesensmäßige Bedeutung haben; dass sie sich auf Ideen (z.B. Platon) oder Dinge und ihre Abbildung (z.B. Positivisten) beziehen und eben dies ihr Wesen ausmache. Nun bei Wittgenstein beziehen sich Wörter in erster Linie auf andere Wörter; eine wesensmäßige Bedeutung haben sie nicht mehr.
Beim „späten“ Wittgenstein gewinnt damit auch die soziale Dimension der Sprache große Bedeutung. Da jede Gemeinschaft ihre eigene Sprache spricht, schafft sich jede je ihre eigene Welt oder ihre eigenen „Sprachspiele“ (§7) – ein weiterer Schlüsselbegriff in den Untersuchungen. So gibt es so viele Welten wie es soziale Gemeinschaften gibt. Gemeinsam sind nur noch „Familienähnlichkeiten“ (§67) zwischen den einzelnen Spielen. Philosophie beschreibt nun nicht mehr die Welt, sondern nur noch die sprachliche Darstellung der Welt: „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“ (§109). „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Es gilt zu verstehen, nach welchen Regeln die Diskurse in den Gesellschaften funktionieren. Philosophie heißt Einsicht bekommen in das Arbeiten unserer Sprache.
Das Denken des „späten“ Wittgensteins ist daher von einer neuen Vielfalt, Flexibilität und Dynamik gekennzeichnet. Sprache ist nämlich nicht eindeutig, sondern mehrdeutig. Es gibt alle Arten von Spielen, und ein Werkzeug – das ist ja nun die Sprache im wesentlichen – kann man ja für ganz verschiedene Aufgaben benutzen. In §23 der Untersuchungen:
„Welche Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‘Zeichen’, ‘Worte’, ‘Sätze’ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache , neue Sprachspiele , wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.“
Wenn sich Sprachspiele begegnen und in Konflikt geraten, dann sind solche Konflikte, so Wittgenstein, nicht durch Bezug auf eine gemeinsame Realität zu lösen. Es geht dann nicht um Angabe von Gründen und um Überzeugung durch Hinweis auf Fakten, sondern um Überredung durch Wörter; man versucht die eigene Interpretation durchzusetzen. Sprachspiel sozusagen.
Das Sprachspiel, so Wittgenstein in einem weitern posthum erschienenen Werkt, ist „etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben“ (Über Gewißheit, §559). Evidenz beruht demnach nicht auf Übereinstimmung mit Sinnes- und Beobachtungsdaten mit den Fakten, sindern auf Konvention. Dies ist ein zu einem bestimmten Zeitpunkt gespieltes Sprachspiel, dem wir eine bestimmte Wirklichkeit zugestehen.
„Die Welt spricht nicht“
Die durchgehende Rationalität der Moderne wurde hier also aufgelöst, die Haltung der Kritik durch die des Spiels abgelöst. Die eigentlichen postmodernen Philosophen haben diese Gedanken Wittgensteins dann weitergeführt – vor allem Lyotard in Das postmoderne Wissen (1979) – und radikalisiert (Wittgensteins Denken wurde ausserdem von der „Philosophie der normalen Sprache“ weitergeführt). Jacques Derrida zum Beispiel: „es gibt nichts außerhalb des Textes“, d.h. Sprache verweist wiederum auf andere Sprache. Oder Richard Rorty: „Die Welt spricht nicht“, d.h. wir können über Sprache nicht hinausschreiten. Aussagen über die Welt sind nicht Weltbeschreibungen, sondern Selbstbeschreibungen. Die Wahrheit ist nicht „dort draußen“, weshalb es auch nicht die eine Wahrheit für die ganze Welt geben könne.
Roland Barthes prägte schließlich den Begriff vom „Tod des Autors“ – weg vom Autor und seinen Aussageabsichten hin zum Leser. Worte beziehen sich auf andere Worte, beschreiben nicht die Wirklichkeit an sich; ein Wort verweist auf andere, aber niemals auf die Wirklichkeit selbst. Ähnlich schon Friedrich Nietzsche: „wenn Gott tot ist, dann ist alles Interpretation“.
Christen können diese Schritte sicher nicht ganz mitgehen. Die Sprache ist wichtig, und ihre Neuentdeckung zu begrüßen. Doch all die Konsequenzen sind nur dann schlüßig, wenn Gott tatsächlich tot ist, was nicht zuletzt Nietzsche ja begriffen hatte.
„Die wahrhaft großartige und heilige Wissenschaft“
Es dürfte somit klar sein, dass Christen eine radikale Interpretation der Thesen des späten Wittgensteins nicht möglich ist. Wer an Gottes Existenz festhält, hält auch an einer Beziehung zwischen Welt und Sprache fest. Doch eine ‘weiche’ Interpretation, gerade des Konzepts des Sprachspiels, kann für Christen durchaus fruchtbar gemacht werden, und zwar vor allem in Reaktion auf Positivisten, Materialisten und radikale Empiristen. Denn nicht wenige atheistische Verehrer der Wissenschaft behaupten: es gibt nur eine Wirklichkeit, und das ist die natürliche, den [Natur]Wissenschaftlern zugängliche Welt; alles andere existiert „in Wirklichkeit“ nicht, weshalb es auch keine Wahrheiten der Religion geben kann und theologische Rede immer Unsinn sei.
So schreibt der berühmte Astrophysiker Carl Sagan (1934–1996) in The Demon-Hunted World (1996): „Wissenschaft spricht über die komplexesten Fragen der Herkunft, der Natur und der Bestimmung – unserer Spezies, aller Lebensformen auf dem Planeten, ja des Universums. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können wir einige dieser Dinge wirklich verstehen.“ Sagan glaubt natürlich (ganz anders als Rorty&Co.), dass es eine echte Beziehung zwischen der Sprache, konkret Sätzen der Wissenschaft, und der Welt ‘da draußen’ gibt. Und er hat natürlich auch darin recht, dass wir gewaltige Erkenntnisfortschritte erreicht haben. Aber überschätzt er sich nicht gewaltig? Gab es vor dem Siegeszug der modernen Wissenschaft keinerlei Erkenntnisse und Wissen? Ja, die Wissenschaft ist wie eine „Kerze im Dunkeln“ (Science as a Candle in the Dark, so der Untertitel des Buches), aber gibt es nicht noch weitere Kerzen? Tappte man ohne die moderne Wissenschaft ganz im Dunkeln? Wäre Sagan nicht daran zu erinnern, dass es noch andere Sprachspiele gab und gibt? Dass auch sie Sinn, Orientierung, Wahrheit vermittelt haben (wie unvollkommen auch immer)?
Noch viel schärfer als Sagan formuliert natürlich R. Dawkins in The God Delusion / Der Gotteswahn. Wissenschaft bezeichnet er darin „die gewissenhaften und systematischen Versuche die Wahrheit über die uns umgebende Welt herauszufinden.“ Das ist soweit richtig, doch leider versucht der britische Biologe auf fast jeder Seite außerdem klar zu machen, dass die Religion überhaupt nicht dazu in der Lage ist Wahrheit über die Welt zu erkennen. Mit der Wirklichkeit hat sie nichts zu tun, sie sei eben pure Illusion. Die Naturwissenschaft hat die Theologie vom Thron gestoßen, nun (hier zitiert er seinen Freund Michael Shermer) „ist die Wissenschaft wahrhaft großartig und heilig [!]“. ‘Echte’ Antworten – dafür ist allein die Wissenschaft zuständig. Dawkins kommt es gar nicht in den Sinn, dass auch die Religion ihren eigenen, spezifischen Erkenntnisbeitrag leisten könnte. Dafür hat er nur Spott übrig: „Wenn die Wissenschaft auf eine entscheidende Frage keine Antwort finden kann, warum denken dann einige Leute, dass die Religion dies könne? Ich denke, dass keiner der Astronomen aus Cambridge oder Oxford glaubt, dass die Theologen einzigartiges Wissen besitzen, das ihnen die Möglichkeit gibt, auf ungelöste Fragen der Wissenschaft zu antworten.“
Dawkins ist heute der vielleicht wichtigste Apologet der darwinistischen Evolutionslehre. Sie hält er schlicht für eine Tatsache – genauso wie es eine Tatsache ist, dass Neuseeland auf der Südhalbkugel liegt (so sagt er tatsächlich). Evolution sei nicht nur eine mehr oder weniger gut belegte Hypothese, sondern Fakt, so auch in The Greatest Show on Earth aus dem Jahr 2009:
„Jenseits vernünftigen Zweifels, jenseits ernsthaften Zweifels, jenseits gesunden, informierten, intelligenten Zweifels, jenseits jeglichen Zweifels ist Evolution eine Tatsache. Der Beweis [evidence] für die Evolution ist mindestens so stark wie der Beweis für den Holocaust…“
Der baptistische Theologe R. Albert Mohler hat auf seinem Blog ganz richtig festgestellt, dass hier nicht der Wissenschaftler Dawkins spricht, sondern der „Evangelist der Evolution“. Dawkins stellt hier implizit die Leugner der Evolution in die Reihe von Leugnern des Holocaust. An einer anderen Stelle werden die Gegner der Evolutionshypothese „Leugner der Geschichte“ genannt. Man beachte, dass die Leugnung der historischen Judenvernichtung in einigen Ländern eine Straftat ist. Es fehlt nicht viel und Dawkins ruft auch dazu auf, gegen Evolutionsleugner vorzugehen.
Weltbilder als Mythologien
In The Greatest Show on Earth bezeichnet Dawkins die Evolution als „the only game in town“. Diese englische Redewendung (wörtl. „das einzige [Glücks]Spiel in der Stadt“) meint hier den einzigen Kandidaten für eine vernünftige Antwort. Alle anderen sind von vornherein ausgeschlossen. Hier könnte ihn nun Wittgenstein daran erinnern, dass es noch andere language games, Sprachspiele, gibt. Sie sind „Systeme der Verständigung“, und Dawkins bewegt sich eben nur in seinem eigenen.
Wittgenstein betonte, dass alles Begründen und Auseinandersetzungen sich in dem durch unser Weltbild gesteckten gemeinsamen Rahmen abspielen: „Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems.“ (Über Gewißheit, §105) Dawkins bewegt sich in seinem System oder Weltbild, in dem alle Zweifel verschwinden; nur in diesem System kann er so selbstsicher auftreten, machen seine extrem festen Behauptungen und angeblichen Beweise Sinn und erscheint ihm in der Folge alles andere völlig fremd.
In Über Gewißheit befindet sich ein weiterer sehr wichtiger Abschnitt (§94–99), der so beginnt: „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“ Meine Weltsicht, die ich beim Wahrnehmen und Deuten schon mitbringe, entscheidet darüber, was ich als richtig und falsch ansehe. Es gibt daher keine völlig neutrale und unvoreingenommene Bewertung. Schon längst haben ja auch Wahrnehmungspsychologen bestätigt: unsere Erwartungen beeinflussen unser Wahrnehmung; oder vereinfacht gesagt: wir sehen das, was wir sehen wollen.
Wittgenstein fährt fort: „Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören“ (§95). Damit will er sicher nicht sagen, dass es völlig egal ist, ob wir an die Götter Homers oder an die Lehren Einsteins glauben. Er will damit klarmachen, dass unser Weltbild wie eine Mythologie ein einheitliches System von Überzeugungen darstellt. Und so ein Gebäude lässt sich z.B. durch widersprechende Erfahrungssätze nicht so ohne weiteres erschüttern. Denn Weltbilder wie Mythologien sind mit Lebenspraxis verknüpft. Sehr gut über den Systemcharakter unseres Weltbildes schreibt er auch hier: „Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen .. Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.“ (Über Gewißheit, §141–142)
Wittgenstein erinnert außerdem daran, dass wir nicht so sehr über Fakten, sondern über ihre Interpretationen reden. Es gibt keine nackten, reinen, uninterpretierten Fakten, wie Dawkins ständig impliziert. Man kann als Christ durchaus zugestehen, dass die Welt in gewisser Weise offen für die atheistische Interpretation ist. Aber sie ist eben auch offen für die theistische, was Dawkins jedoch von vornherein ausschließt. Genauso würde er den Gedanken ablehnen, kad der Gläubige wie der Ungläubige in unterschiedlichen Welten, d.h. in unterschiedlichen Interpretationswelten leben. Dawkins sollte einmal Paul Feyerabends (1924–1994) Against Method / Wider den Methodenzwang studieren, wo dieser andere große österreichische Denker schreibt:
„Die Geschichte der Wissenschaft besteht ja nicht bloß aus Tatsachen und Schlüssen aus Tatsachen. Sie enthält auch Ideen, Deutungen von Tatsachen, Probleme, die aus widerstreitenden Deutungen entstehen, Fehler und anderes mehr. Bei genauerer Untersuchung stellt sich sogar heraus, daß die Wissenschaft überhaupt keine ‘nackten Tatsachen’ kennt, sondern daß alle ‘Tatsachen’, die in unsere Erkenntnis eingehen, bereits auf bestimmte Weise gesehen und daher wesentlich ideel sind. Und damit ist die Geschichte der Wissenschaft so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend wie die in ihr enthaltenen Ideen… “
„Lösen von Rätseln“
Im Braunen und im Blauen Buch (Vorlesungsmitschriften aus den 30er Jahren) vergleicht Wittgenstein die Aufgabe des Philosophen mit dem Lösen eines Puzzle-Spieles. Auch dies ist ein sehr fruchtbares Bild. Die Teile liegen alle vor uns, wir sehen sie alle. Im Hinblick auf die Wissenschaft ist also nicht so sehr das Problem, dass uns Daten und Erfahrungen fehlen (Puzzleteile), sondern dass wir ein System finden müssen, in dem alles zusammenpaßt wie in einem Puzzle. Dann in den Philosophischen Untersuchungen: „Die Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten“ (§109; Thomas S. Kuhn griff dann in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen diesen Vergleich auf und bezeichnete die Arbeit des Wissenschaftlers als puzzle-solver, im Deutschen meist „Lösen von Rätseln“). Dawkins dagegen unterstellt Gläubigen dagegen ständig, dassie sich gegenüber den Fakten verschließen; daß sie nicht hinschauen wollen, blind für die Erkenntnisse der Wissenschaft sind. Nein, kann man da mit Wittgenstein nur sagen; wir sehen dieselben Puzzle-Teile – wir setzen sie nur anders (und vielleicht besser?) zusammen.
Schließlich betonte Wittgenstein die Notwendigkeit des Lernens sprachlicher Ausdrücke und auch der Sprachspiele. Sie stellen sogar gewisse „Lebensformen“ (Philosophischen Untersuchungen, §19, 23). Daher muß man in die Gesamtheit der Praktiken einer Sprachgemeinschaft hineinwachsen. Ein Verstehen der Sprache ohne Einsicht in die Tätigkeiten, in denen sie verwoben ist, ist nicht möglich. Auch von unserer Lebenform hängt es ab, was uns fremd und was uns vertraut vorkommt.
Diese Gedanken werfen viel Licht auf Dawkins und sein Vorgehen. Dieser ist eben in seine Sprachgemeinschaft hineingewachsen und hat dieses System erlernt; neue Erfahrungen bestätigen es nun gleichsam wie von selbst. Nun sei es ihm ja gestattet, dass ihm andere Weltbilder und Lebensformen fremd vorkommen – anders kann es nach Wittgenstein ja auch nicht sein. Aber er will ja nicht einmal die Möglichkeit zulassen, dass solch andere Weltbilder (und damit ‘Welten’) existieren.
Verschiedene Zugänge zu Wirklichkeit
Wir halten an dieser Stelle fest: Die radikalen Interpreten Wittgensteins kappen die Beziehung zwischen den Sprachspielen und der Realität ganz. Nach der gemäßigten Deutung ruhen die Sprachspiele durchaus auf den Tatsachen, aber auf derselben Welt ruhen eben unterschiedliche Deutungen. Dies schafft Raum für eine gesunde Pluralität. Es gilt zu betonen, daß die Naturwissenschaft die Wirklichkeit nicht allein und nicht umfassend und erschöpfend erkennt, denn die Realität ist vielschichtig, reich an Facetten. Auch schon die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft erfordern notwendigerweise unterschiedliche Methoden und Begriffe, stellen in gewissem Sinne verschiedene Sprachspiele der jeweiligen Sprachgemeinschaft dar. Wie kann z.B. der für die Medizin grundlegende Begriff der Gesundheit allein mit Konzepten aus der Physik oder Chemie definiert werden? Und wer legt von vornherein fest, dass allein die Wissenschaft einen verläßlichen Zugang zu allen Aspekten der Realität bietet? Dawkins lässt noch gnädigerweise die Kunst zu, aber warum schließt er die Religion aus? (Interessanterweise findet bei ihm auch so gut wie keine ernste Auseinandersetzung mit der Philosophie statt.) Noch einmal Paul Feyerabend:
„Die Wissenschaft ist nur eines der vielen Mittel, die der Mensch erfunden hat, um mit seiner Umwelt fertig zu werden. Sie ist nicht das einzige, sie ist nicht unfehlbar, und sie ist zu mächtig, zu aufdringlich und zu gefährlich geworden, als daß man sie sich selbst überlassen könnte.“
[…] einige Illustrationen. Hier gibt uns Wittgenstein neben der Vielfalt der Sprachspiele (s. Teil 1 hier) eine zweite große Lektion; dort geht es um den Prozess der Erkennens und die Vielfalt der […]