Theologen des Kreuzes und der Herrlichkeit

Theologen des Kreuzes und der Herrlichkeit

Wann begann die Reformation – in theologischer Hinsicht? Gewöhnlich setzt man den Beginn der Erneuerungsbewegung mit Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 an. Darin hatte der Wittenberger Theologieprofessor sicher den Nerv der Zeit getroffen, und das Neue des evangelischen Glaubens war auch schon aufgeblitzt. Dennoch blieb der Luther der Thesen inhaltlich noch weitgehend im Rahmen der damaligen Theologie. Die Kirche Roms hätte die Kritik der Thesen durchaus aufnehmen können ohne sich dabei dogmatisch grundsätzlich zu verändern.

Ein halbes Jahr später begegnen wir zum ersten Mal dem Reformator Luther in der Öffentlichkeit. Luther gehörte dem Mönchsorden der Augustiner an, und seine Ordensleitung rief ihn zu einer öffentlichen Disputation in der Universität Heidelberg auf. Am 26. April 1518 legte Luther seine Lehre in 40 Thesen und ihren Erläuterungen dar (28 theologische, die wir hier betrachten, und 12 philosophische). Die Disputation und die Thesen sind vor allem deswegen so bedeutsam, weil Luther darin nun einen wirklich erneuerten Glauben vertritt. Auch in der Schrift Zur Erforschung der Wahrheit und zur Tröstung der geängstigten Gewissen vom Juni 1518 begegnet uns dann ein ‘neuer’ Luther.

In der Disputation, an der auch viele aus der Universität teilnahmen, ging Luther nicht mehr auf die Problematik des Ablasses ein, die noch vor kurzem so im Mittelpunkt stand. Vielmehr behandelte er Kernthemen der Erlösungslehre: Gesetz, Werke, Glaube und Gotteserkenntnis und vor allem das Kreuz. Die Begriffe theologia crucis, die Theologie des Kreuzes, und im Gegensatz dazu theologia gloriae, der Theologie der Herrlichkeit, fallen in den Thesen direkt zwar nicht (Luther spricht immer von den „Theologen des Kreuzes“ bzw. der Herrlichkeit). Aber natürlich gilt das Dokument als Hauptquelle der lutherischen Kreuzestheologie.

Einige Theologieprofessoren reagierten kritisch auf Luthers Vortrag, vor allem junge Mitglieder der Artistenfakultät sowie Studenten zeigten dagegen begeisterte Zustimmung und wurden so für den evangelischen Glauben gewonnen. Mehrere spätere Reformatoren nahmen teil wie Johannes Brenz und Martin Bucer, der in einem Brief ausführlich schilderte, wie sehr ihn das Erlebnis beeindruckt hatte. Diese in Heidelberg gewonnenen Anhänger Luthers entfalteten ihre Wirkung vorwiegend im südwestdeutschen Raum, vor allem in den Reichsstädten. Unter ihrem Einfluss wurde hier die Reformation verhältnismäßig früh eingeführt.

Die Thesen der Heidelberger Disputation gehören zu den wichtigsten Schriften Luthers, finden heute jedoch leider viel zu wenig Beachtung. Sie haben zwar keinen Bekenntnisstatus gewonnen, sind aber immer noch eine theologische Schatzkiste, die es allerdings zu knacken gilt. Ihr Studium ist für protestantische Theologen und Geistliche bis heute unerlässlich. Hier nur ein einführender Überblick.

„Das Gesetz Gottes… kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit bringen“

Die Thesen lassen sich in vier Teile gliedern. 1–12 behandeln die guten Werke. Hier hält Luther gleich eingangs fest: „Das Gesetz Gottes, die heilsamste Lehre des Lebens, kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit bringen.“ (1) Das Gesetz ist gut und von Gott gewollt, aber es ist nicht das Evangelium. Auch die Werke des Menschen bringen uns nicht zur Gerechtigkeit, so These 2. In der folgenden setzt Luther noch einen drauf: „Die Werke der Menschen, wenn sie auch noch so sehr in die Augen fallen und gut zu sein scheinen, müssen doch als Todsünden gelten. Die Werke der Menschen glänzen nach außen, aber innen sind sie verdorben“, weil sie aus Unglauben kommen. „Nicht in dem Sinne sind die Werke der Menschen Todsünden…, daß sie Verbrechen wären“ (5), räumt Luther ein. Er betont, dass „die Werke der Menschen Todsünden“ sind, „wenn sie ohne Furcht in unverfälschter und böser Selbstsicherheit getan werden… Denn wo keine Furcht ist, da ist keine Demut; wo keine Demut ist, da ist Hochmut und da sind Zorn und Gericht Gottes“ (8). Was also nach Außen gut und moralisch aussieht, kann dennoch Sünde sein, weil ohne Glauben und Gottesfurcht getan. Im großen Kontrast dazu sind die Werke Gottes diejenigen, die „nicht in die Augen fallen und schlecht zu sein“ scheinen (4). Im Kommentar zur vierten These:

„Der Herr demütigt und erschreckt uns durch das Gesetz und den Anblick unserer Sünde, daß wir uns vor den Menschen und vor uns selbst wie nichts, wie ganz ohne Ansehen vorkommen, ja es wirklich sind. Wenn wir das erkennen und uns dazu bekennen, so haben wir ‘keine Gestalt noch Schöne’, leben… in bloßem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit und können uns in uns selbst auf nichts berufen als auf Sünde, Torheit, Tod und Hölle… er demütigt uns in uns selbst und läßt uns verzweifeln, um uns in seiner Barmherzigkeit zu erheben und uns zu Hoffenden zu machen… Ein solcher Mensch mißfällt sich also in allen seinen Werken, sieht an sich keine Schönheit, sondern nur seine Unansehnlichkeit“.

„Der freie Wille… hat nur Macht zum Sündigen“

In den Thesen 13–18 geht es um den freien Willen; stand zuvor die objektive Seite der Taten im Mittelpunkt, ist es hier nun die subjektive Seite, unsere Motivation. Haben wir Anteil am Heil durch unsere Willensentscheidung? Hier wird inhaltlich schon der Streit mit Erasmus von Rotterdam 1525 vorweggenommen.

Der Wille „ist ein Gefangener und ein Sklave der Sünde. Nicht, daß er nichts ist, sondern daß er nur frei ist zum Bösen!“ (13) Luther zitiert Augustinus: „Der freie Wille ohne die Gnade hat nur Macht zum Sündigen“. Der Wille wird nicht zu etwas gezwungen, was seiner Natur widerspricht; der Wille ist eben im Bösen gefangen. Wenn der Mensch nun „tut, soviel ihm möglich ist“, sein Bestes gibt und wenigstens versucht, dadurch Gerechtigkeit zu erlangen, produziert er am Ende doch nur „Todsünde“. „Der Mensch, der da meint, er wolle dadurch zur Gnade gelangen, daß er tut, soviel ihm möglich ist, häuft Sünde auf Sünde“ (16). Luther widerspricht hier der damaligen Theologen direkt, und nicht zufällig wurde gerade diese These auch in der Bannbulle Exsurge Domine verdammt! Im Kommentar zur 16. wird dann das erste Mal eine positive Note angeschlagen und Christus erwähnt:

„Was sollen wir denn tun? Sollen wir müßiggehen, weil wir nichts als Sünde tun können? Ich antworte: Nein, sondern höre auf diese Worte und dann falle nieder und bitte um Gnade und setze deine ganze Hoffnung auf Christus; in ihm ist unser Heil und Leben und unsere Auferstehung. Denn darum werden wir so belehrt, darum macht uns das Gesetz mit der Sünde bekannt, damit wir unsere Sünde erkennen und dann Gnade erbitten und erlangen… Das Gesetz erniedrigt, die Gnade erhöht. Das Gesetz schafft Furcht und Zorn, die Gnade Hoffnung und Erbarmen. Durch das Gesetz nämlich erhält man Sündenerkenntnis, durch Erkenntnis der Sünde aber erlangt man Demut, und durch die Demut Gnade. So führt Gottes fremdes Werk (opus alienum dei) schließlich sein eigentliches Werk (opus proprium) herbei, indem er den Menschen zum Sünder macht, um ihn gerecht zu machen.“

In These 17 greift Luther nun einen Einwand auf: „So reden, das heißt nicht, dem Menschen Anlaß zur Verzweiflung geben, sondern ihn zur Demut rufen, damit er die Gnade Christi suche. Weiter in der Erläuterung:

„Demütig können aber nicht die sein, die nicht einsehen, daß sie verdammungswürdige Sünder sind mit Sünden, die zum Himmel schreien. Sünde aber wird nicht erkannt außer durch das Gesetz… Solche Predigt der Sünde oder vielmehr die Erkenntnis der Sünde und der Glaube an solche Predigt ist Bereitung zur Gnade. Dann nämlich beginnt das Verlangen nach Gnade, wenn die Sündenerkenntnis da ist. Dann erst, wenn er das Übel seiner Krankheit begreift, verlangt der Kranke nach Medikamenten.“

Die letzte These in diesem Abschnitt fasst dann zusammen: „Ganz gewiß muß ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um für den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden.“ (18)

„Gott in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennen“

In 16–24 geht Luther nun auf dem bisherigen aufbauend zum „Theologen der Herrlichkeit“ und zum „Theologen des Kreuzes“ über (es ist sicher kein Zufall, dass Luther immer nur von Theologen, nicht von Theologie spricht; „Theologie der Herrlichkeit“ bzw. der Gnade ist daher eine Ableitung). Die Thesen 19–21 behandeln die Weise, wie der Theologe arbeitet, 22–24 den falschen und richtigen Gebrauch von Weisheit und Gesetz.

„Der ist es nicht wert, ein Theologe genannt zu werden, der Gottes ‘unsichtbares’ Wesen ‘durch seine Werke erkennt und versteht’ (Röm 1,20).“ (19) Dies Wesen ist „seine Kraft, seine Gottheit, seine Weisheit, Gerechtigkeit, Güte“; all das wird in der allgemeinen Offenbarung tatsächlich erkannt. Doch „die Erkenntnis alles dessen macht nicht würdig und weise.“ Derjenige ist ein rechter Theologe – und damit meint er jeden Menschen als einen, der eine Vorstellung von Gott hat –, „der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift.“ (20) Luther erläutert:

„Das uns zugewandte, sichtbare Wesen Gottes – d.h. seine Menschlichkeit, Schwachheit, Torheit – ist dem unsichtbaren entgegengesetzt,… Weil die Menschen nämlich die Erkenntnis Gottes aufgrund seiner Werke mißbrauchten, wollte nun Gott aus dem Leiden erkannt werden. Er wollte solche ‘Weisheit des Unsichtbaren’ durch eine ‘Weisheit des Sichtbaren’ verwerfen, damit die, die Gott nicht verehrten, wie er in seinen Werken offenbar wird, ihn verehren als den, der in den Leiden verborgen ist… So reicht es für niemand aus, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.“

Luther warnt davor, in die verborgenen Dinge Gottes einzudringen; wir sollen uns an das Offenbarte halten, und dessen Höhepunkt ist eben das Kreuz. Darin ist Gott zwar „in den Leiden verborgen“, aber dennoch sichtbar und zugewandt. Wir sollen nicht über sein Wesen jenseits der Offenbarung spekulieren, sondern ihn dort erkennen.

Der „Theologe der Herrlichkeit“ kennt das Leiden Christi nicht, so in der Erläuterung zu These 21. Weiter:

„Daher zieht er die Werke dem Leiden, die Herrlichkeit dem Kreuze, die Kraft der Schwachheit, die Weisheit der Torheit und überhaupt das Gute dem Schlechten vor. Das sind die, die der Apostel ‘Feinde des Kreuzes Christi’ (Phil 3,18) nennt. Jedenfalls hassen sie das Kreuz und die Leiden. Sie lieben aber die Werke und ihren Ruhm, und so nennen sie das Gute des Kreuzes schlecht und das Schädliche des Werkes gut.“

„Wer durch Kreuz und Leiden noch nicht zu einem Nichts gemacht ist“

Wer Gott abgesehen vom Kreuz erkannt zu haben meint, dessen ‘Weisheit’ „bläht auf, macht blind und verstockt.“ (22) „Denn weil sie das Kreuz nicht kennen und es hassen, müssen sie notwendig das Gegenteil lieben, d.h. Weisheit, Ruhm, Macht u.ä. So werden sie durch solche Liebe noch mehr verblendet und verstockt.“ In These 24: „Nun ist wohl jene Weisheit nicht an sich schlecht, und das Gesetz ist nicht zu fliehen; aber der Mensch mißbraucht ohne die Theologie des Kreuzes das Beste zum Schlimmsten.“ Hier ist wieder an das Gesetz und die Werke zu denken, die mißbraucht werden, um sich zu Gott hochzuarbeiten. In der Erläuterung:

„wer noch nicht erniedrigt und durch Kreuz und Leiden zu einem Nichts gemacht ist, der schreibt Werke und Weisheit sich zu, nicht aber Gott und mißbraucht so die Gaben Gottes und besudelt sie. Wer aber durch Leiden von seinem ichsüchtigen Selbst befreit wurde, der schafft nicht mehr selber, sondern weiß, daß Gott in ihm alles wirkt und schafft.“

Mit These 25 geht Luther zum Abschluss über und fasst sehr gut zusammen, was all das Gesagte für uns bedeutet: „Nicht der ist gerecht, der viel Werke tut, sondern wer ohne Werke viel an Christus glaubt.“ Die Gerechtigkeit Gottes wird sich nicht erarbeitet, sondern „durch den Glauben geschenkt“; er zitiert Röm 1,7 und 10,10. „Nicht daß der Gerechte nichts wirke, sondern daß seine Werke ihm keine Gerechtigkeit verschaffen. Vielmehr schafft seine Gerechtigkeit Werke.“

Auch These 26 ist eine sehr gute Zusammenfassung: „Das Gesetz sagt: ‘Tue das!’, und es geschieht niemals. Die Gnade spricht: ‘An den sollst du glauben!’, und alles ist schon getan.“ In den Erläuterungen zu These 27:

„Sobald Christus durch den Glauben in uns wohnt, bewegt er uns zu Werken durch jenen lebendigen Glauben an seine Werke. Die Werke nämlich, die er selbst tut, sind die Erfüllung von Gottes Geboten und werden uns durch den Glauben geschenkt. Schauen wir sie an, so werden wir zur Nachfolge bewegt.“

Schlusspunkt ist These 28: „Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt. Die Liebe des Menschen entsteht nur an dem, was sie liebenswert findet.“ Das ist ganz hervorragend gesagt und zeigt, worin die Gute Nachricht des Christentums besteht: Es ist keine Religion der Selbsterlösung, in der Gott sagt: Schauen wir mal, ob es dem Menschen gelingt, mir zu entsprechen und möglichst so zu werden, dass er wirklich liebenswert wird. Nein, Gott macht uns, ganz ohne unser Verdienst, zu Geliebten und Liebenswerten.

Bild o.: Gedenkplatte zur Disputation in Heidelberg.