Bekenntnisse und Kritik
In diesem Semester unterrichtet Holger am Vilniuser Studienzentrum des EBI einen Einführungskurs zu den christlichen Bekenntnissen – von der Alten Kirche bis zum Westminster-Bekenntnis. Sie stehen auf der einen Seite unter der Bibel und können deshalb auch kritisiert werden; auf der anderen Seite sind sie Instrumente der Kritik.
Die Bibel fordert uns nicht direkt auf, Bekenntnisse als autoritative Lehrdokumente zu verfassen. Doch schon Jesus ruft die Jünger und damit alle Christen auf, das Evangelium zu verbreiten und zu lehren. In den Briefen spricht Paulus dann in 2 Tim 1,13 von „heilsamen Worten“, an anderen Stellen von „Lehren“, die Timotheus und andere als Regel oder Norm achten sollen. Christen sind aufgerufen im Rahmen eines grundlegenden Lehrinhaltes zu bleiben. Ähnlich an die Thessalonicher: „haltet euch an die Lehre, in der ihr durch uns unterwiesen worden seid, es sei durch Wort oder Brief von uns“ (2 Thes 2,15).
Das Evangelium will weitergesagt werden, und zwar auch, ja sogar vor allem mit unseren eigenen Worten. Andernfalls dürften wir nur die Bibel zitieren. Dies Weitersagen führt in sich schon zu so etwas wie Traditionen. Diese weitergebene Überlieferung ist nicht identisch mit der Hl. Schrift, nutzt eine Vielfalt von Mitteln, darunter sicher auch nichtbiblische Wörter. Bekenntnisse sind daher, so Carl Trueman im Interview, „im Grunde Zusammenfassungen biblischer Lehren“; sie sind menschliche „Versuche, die gesamte biblische Botschaft nach bestimmen dogmatischen Themen geordnet und kompakt weiterzugeben.“
Wir müssen natürlich auch die Bibel weitergeben, sie lesen und andere zu dieser Lektüre ermutigen. Aber damit (oder mit dem Auswendiglernen ganzer biblischer Bücher) ist es ja nicht getan. Es gilt außerdem, ein richtiges Verständnis ihrer Lehren zu haben und zu bewahren. Dies Verständnis wird u.a. in Bekenntnissen dargelegt, die Autorität besitzen, weil sie ja die biblische Lehre ausdrücken wollen. Sie sind Normen, die aber wiederum unter der Schrift stehen, von ihr genormt werden. Sie werden „genormte Normen“ (lat. norma normata) genannt; sie stehen im Rang und der Autorität als Dokumente unter der Hl. Schrift, weil sie von dieser genormt werden. Die Bibel hingegen ist die oberste Norm, „normierende Norm“ (lat. norma normans). Das Westminster-Bekenntnis: Die Schrift ist „der oberste Richter, vor dem alle Religionsstreitigkeiten zu entschieden sind und alle Konzilsbeschlüsse, Meinungen der alten Schriftsteller [Kirchenväter], Lehren der Menschen und Meinungen einzelner zu prüfen sind…“ (I,10)
Protestanten dürfen Lehrtraditionen nicht verachten, aber es gilt genauso zu beachten, was Calvin an Sadoleto schrieb: „Das Wort gleicht einem Prüfstein für alle ihre [der Kirche] Lehren.“ Die alten Konzilien und Kirchenväter werden geachtet, aber ihnen ist „erst dann Autorität beizumessen, wenn sie der Norm dieses Wortes entsprechen“. Gehorsam gegenüber „Vorgesetzten und Begabten“ ist geboten, doch aller Gehorsam soll „auf die oberste Regeln des Wortes Gottes ausgerichtet sein“.
Die Reformatoren waren sich also völlig im Klaren darüber, dass nur das Wort der Bibel selbst unfehlbar ist. Denn wir sind begrenzte und sündige Menschen und haben daher in die Wahrheit Gottes auch nur begrenzten Einblick, bleiben immer fehlbar und machen immer auch Fehler. Konkret bedeutet dies nicht, dass man die Kategorie der Wahrheit ganz aufgibt und nicht mehr nach wahrer Erkenntnis strebt. Es bedeutet, dass man offen für Korrektur und Kritik bleiben muss. Diese Haltung drückt sich hervorragend im einleitenden Vorwort des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses, verfasst vom Zürcher Professor Josias Simmler, aus:
„Vor allem bezeugen wir, daß wir auf Anfrage hin immer ganz bereit sind, unsere Deutungen im allgemeinen und konkreten ausführlicher zu erläutern; daß wir schließlich bereit sind – nicht ohne Dank – denen zuzustimmen, die uns vom Wort Gottes korrigieren und zum Gehorsam gegenüber dem Herrn führen…“
Dies sind ganz bemerkenswerte Sätze. Simmler spricht von „Deutungen“, also nicht von fehlerlosen, heiligen Gottessprüchen. Er gesteht ein, dass mglw. manche Leser noch weitere Erläuterungen benötigen und man diese auch geben muss. Und er lädt geradezu zum Suchen von Fehlern und Ungenauigkeiten ein. Bitte korrigiert uns! Dabei muss aber auch diese Kritik begründet sein – es geht um ein Nachdenken auf der gemeinsamen Grundlage der Bibel.
Diese Haltung war allgemein bei den Reformierten verbreitet. Im Berner Synodus von 1532: „Würde uns aber etwas von unseren Pfarrern oder anderen vorgebracht, das uns näher zu Christus führt und nach Vermögen des Wortes Gottes der allgemeinen Freundschaft und der christlichen Liebe zuträglicher ist als die jetzt aufgezeichnete Meinung, so wollen wir dies gerne annehmen und dem Heiligen Geist seinen Lauf nicht sperren.“ Oder im Ersten Baseler Bekenntnis von 1534: „zuletzt wollen wir dieses unser Bekenntnis dem Urteil göttlicher biblischer Schriften unterwerfen“; dann wird angeregt in den Hl. Schriften „etwas besseres“ zu finden, d.h. eine bessere Deutung; Grundlage allen Deutens ist die Haltung, „dass wir jederzeit Gott und seinem heiligen Wort mit grosser Danksagung gehorsam sein wollen“.
Schließlich ist noch das Schottische Bekenntnis (1560) zu nennen, hier im Original zitiert: „if any man will note in this our confession any article or sentence repugning to God’s holy word, that it would please him of his gentleness, and for Christian charity’s sake, to admonish us of the same in writing; and we, of our honour and fidelity, do promise unto him satisfaction from the mouth of God (that is, from his holy scriptures), or else reformation of that which he shall prove to be amiss.“
Überall ist hier auf der einen Seite ein zuversichtliches und mutiges Festhalten an erkannten theologischen Wahrheiten und auf der anderen Seite eine selbstkritische Offenheit für Korrektur zu finden. Es gilt jedoch, wie schon gesagt, zu beachten, dass die Kritik gut begründet sein muss. Es reicht eben nicht zu sagen: diese Lehre gefällt mir nicht, oder auf jene können wir verzichten. Man muss die eigene Position wiederum auf Grundlage der Bibel belegen; man muss dann auch eine bessere alternative Deutung des biblischen Textes auf den Tisch legen.
Bekenntnisse unterstehen also der Kritik. Sola scriptura bedeutet ja nicht, dass einzig die Bibel Autorität hätte oder immer nur sie allein zu befragen wäre – sola scriptura ist nicht mit solo oder nuda scriptura (die nackte Schrift) zu verwechseln. Sie allein hat oberste Autorität und soll alle nur von Menschen formulierten Lehren kontrollieren und korrigieren.
Der große Vorteil von Bekenntnissen ist, dass in ihnen konkrete Normen formuliert und aufgeschrieben worden sind; dass sie öffentlich und damit bekannt sind. Sie können und daher von den Gläubigen studiert und geprüft werden. Werden Bekenntnisse und Traditionen nicht niedergeschrieben, sind sie nur schwierig zu überprüfen und an der Schrift zu messen.
Damit ist aber auch ein weiterer wichtiger Aspekt verbunden: Bekenntnisse sind auch Instrumente der Kritik. Sie haben objektive Autorität. Oft wird jedoch übersehen, dass damit gar nicht so sehr das Durchdrücken von Positionen von oben her verbunden sein sollte. Die kritische Funktion ist gleichsam in umgekehrter Richtung bedeutsam. Amtsträger in der Kirche wie z.B. Pastoren sind auf Bekenntnisse verpflichtet (in manchen Kirchen sogar eingeschworen), denen vor allem sie sich unterzuordnen haben. Ihre Lehre und Verkündigung kann durch den Maßstab der Bekenntnisse kontrolliert werden. Schon im Zweiten Helvetischen Bekenntnis (1566) heißt es gegen Ende von Kap. 18 über die „Diener der Kirche“, dass ihre Lehre (und ihr Lebenswandel) auf Synoden „fleißig“ zu prüfen sei. Es ist von Anklage und der heilsamen Zurechtweisung die Rede. „Unten“ soll also „oben“ kontrollieren. Dies ist praktisch nur mit Bekenntnissen möglich, die eine objektive Grundlage bieten, die von ordinierten Theologen nicht so leicht wie die Bibel verdreht werden können.
Auch auf der Ortsebene gilt: Eine Gemeinde ohne schriftliche Bekenntnisse ist nur allzu leicht der Lehrwillkür ihres Geistlichen ausgeliefert! Es gibt dort kaum ein wirksames Instrument, um dem Missbrauch ihrer Lehrautorität Einhalt zu gebieten. Bekenntnisse beugen also dem Machtmissbrauch Einzelner vor, weil sie von Kollektiven (der Kirche, ihren Versammlungen und Synoden) angenommen worden sind. Bekenntnisse als objektive Dokumente können so vor Autoritarismus, willkürlicher Autorität, von zu mächtigen Leitern schützen.
(Bild o. eines unbekannten Künstlers: Die Reformatoren, Glasgow Museums)