„Hier kommt zu Euch das Wort vom Himmelreich“
„Jede Nation hat in ihrer Geschichte einige symbolische Eckpfeiler“, so Saulius Žukas in „Das erste litauische Buch und sein historisches Umfeld“. Der bekannte Literaturwissenschaftler, Verleger und Übersetzer weiter: „Gewöhnlich wird angenommen, daß eine Nation dann zur nationalen Kulturreife gelangt ist, wenn die mündlich tradierte Kultur durch Geschriebenes und Gedruckte ersetzt wird.“
Im Fall des litauischen Volkes geschah dies außerhalb des eigentlichen Litauens d.h. des Großfürstentums. 1547 erschien in Königsberg im evangelischen Preußen der Katechismus in einfachen Worten (lit. Catechismusa Prasty Szadei). Vom ersten gedruckten Buch in litauischer Sprache gibt es heute nur noch zwei Exemplare und nur eines davon in Litauen. Am 1. April jeden Jahres wird es in der Universitätsbibliothek, die es aufbewahrt, für die Öffentlichkeit ausgestellt (s.ganz o.). 1997 wurde anlässlich der Feier zu 450 Jahren des ersten litauischen Buches eine prachtvolle Tür an der Bibliothek mit Szenen als Metallrelief eingeweiht.
Über den Autor Martynas Mažvydas, der sich selbst latinisierend Martinus Mosvidius nannte, ist wenig bekannt. Irgendwann vor 1520 muss er geboren sein. Ab 1546 studierte er an der Universität Königsberg. 1549 wurde Mažvydas Pfarrer der Kirche in Ragnit (lit. Ragainė, heute rus. Neman) und betreute dort bis zu seinem Tod 1563 die überwiegend litauischsprachige Bevölkerung. Da Herzog Albrecht, der evangelische Fürst in Preußen, die religiösen Kenntnisse seiner Bevölkerung verbessern wollte, regte er nicht nur einen prussischen Katechismus an; auch die Litauer auf seinem Territorium (im Osten die große Mehrheit) sollten den evangelischen Glauben besser verstehen. Mehr zum historischen und kulturellen Hintergrund sehr gut bei Žukas.
Der Katechismus – kaum größer als ein Notizbuch – beginnt mit einer lateinischen Widmung an den litauischen Großfürsten, denn alle protestantischen Leiter in Preußen hatte auch immer ihre Landsleute im Fürstentum im Osten im Blick. Es folgt ein lateinisches Vorwort und anschließend auf Litauisch eine Vorrede in 112 Versen. Diese Vorrede ist das erste überlieferte Gedicht in litauischer Sprache überhaupt, weswegen es bei allen Lituanisten natürlich Kultstatus hat. Die Zeilen auf der ersten Seite der Vorrede darf ein Schulkind in seiner Schullaufbahn gleich mehrmals auswendig lernen (so unsere älteste Tochter in der Grundschule und nun wieder am Gymnasium in Klasse 11). Hier eine Übersetzung ins Deutsche:
„Brüder und Schwestern, nehmt mich und lest, / Und versteht beim Lesen: / Nach dieser Lehre trachteten Eure Väter, / Doch sie blieb ihnen ganz verwehrt. / Sie wollten sie mit den Augen sehen, / Auch mit ihren Ohren hören. / Was die Väter nie erblickten, / Ist nun alles zu Euch gelangt. / Schaut nun und habt Acht, Ihr alle, / Hier kommt zu Euch das Wort vom Himmelreich. / Nehmt dies Wort gerne und mit Freuden an, / Lehrt es alle in Haus und Hof. / Eure Söhne und Töchter sollen‘s lernen, / Dies Wort Gottes von ganzem Herzen lieben. / Verachtet Ihr, Brüder und Schwestern, diese Wort nicht, / Sind Gott der Vater und der Sohn Euch genehm, / Wohlgefällig vor Gottes Angesicht / Werdet Ihr Segen in allem erfahren. / Mit dieser Lehre erkennt Ihr Gott recht, / Und das Himmelreich kommt Euch nah.“
Der evangelische Geist quillt aus dem ganzen Text geradezu heraus. Auf den folgenden Seiten der Vorrede heißt es, die Leser mögen intensiv, „Tag und Nacht“, ja „heiß“ nach Gottes Wort suchen. Sie sollen die Pfarrer „mit einer Stimme“ bitten und darum beten, dass sie diese Lehre auf keinen Fall verheimlichen. Und wenn diese dazu zu „faul“ sind, „könnt Ihr auf Euren Höfen die Menschen lehren“. Mažvydas mahnend an die Menschen selbst: „Wer diese Lehre nicht wissen und nicht lernen wolle, / Der verbleibe in der ewigen Dunkelheit.“
Da die Litauer erst um 1400 christianisiert worden waren, hielten sich in der Bevölkerung noch zahlreiche heidnische Bräuche. Daher ist auch von anderen „Dunkelheiten“ die Rede, die man vertreiben solle: alle Teufel und Götzen, denn die „können Euch nichts Gutes geben“. „Gesundheit und alle Dinge habt Ihr von Gott“, so der Autor dagegensetzend. „Dieser Gott schuf Himmel und Erde mit einem Wort, / So machte er die Menschen und alle Dinge.“ Und noch einmal auf den Punkt gebracht: „Diese Lehre zeigt den wahren Weg zum Sohn Gottes, / Zu unserem Retter Jesus Christus. / Diesen Sohn und den Vater werdet Ihr wahrlich erkennen, / Wenn Ihr diese Lehre gut lernt und begreift.“ Ohne sie sind die Menschen den Verirrungen von Hunderten Göttern ausgeliefert.
Interessant ist nun der allgemeine Umgang mit diesem durch und durch religiösen Text. Schon die Kommunisten bekamen es hin, die theologische Seite vollkommen wegzudeuten. 1988, noch in der Sowjetrepublik, wurde die Nationalbibliothek nach Martynas Mažvydas benannt (Lietuvos nacionalinė Martyno Mažvydo biblioteka). Man beachte: nach einem evangelischen Pfarrer. Im gleichen Jahr schenkte sich das spätere (ab 1994 so genannte) Stasys Šalkauskis-Gymnasium in Šiauliai zum 50. Schuljubiläum zwei prächtige Bleiglasfenster im zentralen Treppenhaus über dem Eingang (unsere beiden Älteren besuchen die Schule). Das eine ist Mažvydas und seinem Katechismus gewidmet, das andere dem Katholiken Mikalojus Daukša und seiner Postille (Postilla chatholicka) von 1599 (auch die Tür der Vilniuser Unibibliothek thematisiert beide). Wohlgemerkt: alles noch zu Herrschaftszeiten der atheistischen Kommunisten.
Man kann dies Phänomen wohl nur durch selektive Wahrnehmung oder auch einfacher: durch Ausblenden von nichtgenehmen Dingen erklären. Da Mažvydas vor dem eigentlichen Katechismus eine Art kurze ABC-Schule vorgeschaltet hat (schließlich konnte damals noch kaum jemand lesen), wird die „Lehre“ der Vorrede heute gerne allein darauf bezogen. So stellen es nun jedenfalls die Lehre in den Schulen gerne da. Dass der Autor der heutigen Minderheitskirche der Lutheraner (1% der Bev.) angehörte, erfährt kaum ein Schüler. Damit teilt Mažvydas das Schicksal des anderen großen Vaters der litauischen Literatur: Kirstijonas Donelaitis, ebenfalls ein lutherischer Geistlicher (mehr zu ihm hier).
Auf dem Glasfenster wird rechts aus dem ersten Vers der Vorrede zitiert: „skaitydami permanykit“ – versteht, durchdenkt, begreift das Gelesene! Mažvydas meinte damit „das Wort vom Himmelreich“. Es ist im höchsten Maße ironisch, wenn Bildungsanstalten sich an diesem Schluss vorbeimogeln.