„Der vergiftete Sieg“
Vor einhundert Jahren, im Sommer 1915, eroberten deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg weite Teile Zentraleuropas. Bis zum Herbst des Jahres wurde auf dem „großen Vormarsch“ auch das Gebiet Litauens besetzt. Am 18. August fiel das stark befestigte Kowno/Kaunas in deutsche Hände, einen Monat später Wilna/Vilnius im Osten. Vor Riga kam die Front Ende 1915 schließlich zum Stehen. Aus Kurland, Litauen und Teilen Weißrusslands wurde „Ober Ost“ gebildet, eine Art Militärprotektorat, das nach einem Sieg eng an Deutschland angebunden worden wäre.
Für die Briten und Franzosen ist der Erste Weltkrieg „the Great War“ oder „la Grande Guerre“, schließlich fielen Millionen an der Westfront. Das Gedenken an das Gemetzel und den elenden Grabenkrieg ist dort Teil der nationalen Identität. Die damalige Ostfront wurde dagegen zum „unbekannten Krieg“ (W. Churchill). Im deutschen und russischen Bewusstsein überlagerte der noch schlimmere Zweite Weltkrieg die Kämpfe – obwohl auch im Osten massenweise gestorben wurde: 1,8 Millionen Soldaten unter russischem Befehl überlebten den Krieg nicht. Allein bei der Schlacht von Tannenberg vom 26. bis zum 30. August 1914 fielen hundertzwanzigtausend Soldaten der Zarenarmee. Litauer aus Ostpreußen standen Litauern in der zaristischen Armee gegenüber, Offiziere aus den Reihen der Baltendeutschen kämpften auf Seiten Russlands gegen die Einheiten des Deutschen Reichs.
Für die Völker Zentraleuropas wurde der Erste Weltkrieg zur Epochenwende. Denn das Zarenreich kollabierte 1917, und auch Österreich-Ungarn zerbrach 1918. Da auch Deutschland schließlich den Krieg verlor, entstand im Osten ein Vakuum, das z.B. Polen und die baltischen Ländern für sich nutzen konnten.
Aber der Weg dahin war eben ein zerstörerischer Krieg. Der litauischstämmige US-Historiker Vejas Gabriel Liulevicius ist Experte dieses Zeitabschnitts und verfasste ein Buch zur deutschen Besetzung im Osten (War Land on the Eastern Front, 2000, dt. Kriegsland im Osten, 2002). Für „Spiegel Special“ 1/2004 („Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“) verfasste er einen Beitrag, der einen guten Überblick zum Krieg an der Ostfront gibt.
Oberhalb der Überschrift „Der vergiftete Sieg“ ist dort eine Fotografie mit deutschen Soldaten in einer litauischen Stadt zu sehen (als kolorierte Postkarte oben). Es handelt sich dabei um Schaulen/Szwale, heute Šiauliai. Zu sehen ist die heutige Vilnius-Straße (nun Fußgängerzone), im Hintergrund dicke Rauchschwaden. Im Frühjahr 1915 konnten die deutschen Einheiten die wegen ihrer Verkehrsverbindungen strategisch wichtige Stadt ein erstes Mal besetzen. Zuvor hatten die Russen weite Teile des Ortes in Brand gesetzt. Liulevicius schreibt:
„Bei ihrem Rückzug verfolgte die russische Armee eine „Politik der verbrannten Erde“ – so wie 1812, als Napoleon auf Moskau zumarschierte. Felder wurden angezündet, Eisenbahnschienen weggerissen, Fabriken evakuiert oder zerstört. Die Russen räumten das ganze Land, eineinhalb Millionen Untertanen des Zaren mussten mit den Streitkräften abziehen. Angehörige von Volksgruppen, die als verdächtig galten, wie Juden und ethnische Deutsche, wurden vertrieben, misshandelt oder als Spione erschossen. Die russischen Trecks waren die erste Welle einer weit größeren Völkerwanderung, die der Erste Weltkrieg auslöste. 1917 waren im russischen Reich ungefähr sechs Millionen Flüchtlinge unterwegs.“
Die Deutschen mussten Schaulen noch einmal räumen. Mitte Juli war man dann aber doch wieder vorgerückt und nahm nach heftigen Gefechten in der Umgebung den Ort ein (mehr dazu hier). Nun setzte die deutsche „Kulturarbeit“ ein, um durch Maßnahmen der Verkehrs-, Bildungs und Hygienepolitik die Bevölkerung in den besetzten Gebieten weiter zu ‘zivilisieren’. Liulevicius:
„Die Einstellung der Deutschen zu den verschiedenen Völkergruppen schwankte zwischen Verständnis für die verwirrende Vielfalt des Ostens und grenzenloser Ablehnung des „Fremdvölkischen“. Insgesamt hielten Deutsche und Österreicher die Menschen im Osten oft für schmutzig, undiszipliniert, faul und unterentwickelt. Ein deutscher Kommandeur höhnte, dass der Litauer „sich selbständig genauso gut regieren (kann), wie sich z. B. meine Tochter Ilse selbständig erziehen könnte“. Solche rassistischen Ansichten radikalisierten sich mit der deutschen Niederlage.“
1918 besetzten die Mittelmächte auch noch fast die gesamte Ukraine und diktierten der neuen Sowjetführung den Frieden von Brest-Litowsk. Russland musste auf alle nichtrussischen Gebiete in seinem Westen verzichten. Die deutsche Vorherrschaft in Zentraleuropa wurde festgeschrieben. Dennoch war dies ein „doppelt vergifteter Frieden“, so Liulevicius, denn „seine harten Konditionen stärkten die Entschlossenheit der Entente-Staaten, es den Deutschen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Das Ergebnis war der Versailler Vertrag. Zudem bedeuteten die Eroberungen im Osten, dass die deutsche Armee dort eine Million Soldaten zurückhalten musste, die in der Frühlingsoffensive 1918 im Westen fehlten.“
Der Friedensvertrag von Brest hielt die vormals russisch regierten Völker zwischen Finnland und Schwarzem Meer unter der Knute Deutschlands. Das vormalige Russisch-Polen wurde schon 1916 zu einem Königreich erklärt, und Ober Ost südlich von Kurland verwandelte man im Juli 1918 in ein recht großes litauisches Königtum. Wilhelm Karl von Urach sollte als König Mindaugas II den Thron besteigen. Der nördliche Teil war schon im März 1918 zum deutschen Satellitenstaat „Herzogtum Kurland und Semgallen“ gemacht worden.
Doch die deutsche Besatzungspolitik war so hart gewesen, dass die Beziehungen zum Reich vergiftet waren und die Völker das deutsche Joch bei erster Gelegenheit abschüttelten. Die Litauer verzichteten schon im Herbst 1918, als sich die deutsche Niederlage abzeichnete, auf den König aus Schwaben (mehr dazu hier). Letten und Esten wehrten sich ebenfalls erfolgreich gegen ein von Deutschbalten dominiertes „Vereinigtes Baltisches Herzogtum“ auf ihrem Gebiet. In allen drei Ländern wurde unabhängige, demokratische Republiken errichtet. In den nächsten beiden Jahrzehnten zeigten die baltischen Völker, dass sie sich durchaus selbständig regieren konnten.
Hier ein Vortrag von Liuelevicius: „The Eastern Front Experience in the First World War“: