Mogelpackung
„Manche glauben noch an den Himmel“
Kurt Flasch ist im deutschsprachigen Raum sicher einer der besten Kenner mittelalterlichen Denkens. Der 1930 Geborene war bis 1995 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität in Bochum. Vor zwei Jahren erschien aus seiner Feder Warum ich kein Christ bin. Anders als Bertrand Russell, der 1927 einen berühmten Vortrag mit gleichem Titel hielt („Why I am not a Christian“), ist dem Mainzer Flasch alles Kämpferische oder gar Hass auf Religion fremd. „Ich habe nichts gegen die Präsenz des Christentums“, so im Interview mit dem „Spiegel“ (43/2013). Er wollte einfach seine Gründe darlegen, warum ihn persönlich die Lehren des Christentums nicht überzeugen.
Russell und auch manche der Neuen Atheisten wie Dawkins, Harris oder Hitchens machen es ihren Gegnern im Lager der Kirchen mitunter leicht, ihre oft sehr radikalen Thesen zu kritisieren. Denn in ihre Schriften finden sich überwiegend nur Karikaturen des christlichen Glaubens, vermengt mit viel böser Polemik. Oft kann man nur feststellen, dass ihnen grundlegende Kenntnisse in Theologie und Philosophie fehlen.
Nicht so bei Flasch. Dieser kennt sich nun wirklich aus, gerade bei Augustinus. Dass er von den traditionellen Lehren des Christentums, ihrer Darstellung, Verteidigung und Begründung, keine Ahnung habe, ist ihm gewiss nicht vorzuwerfen, im Gegenteil. Er kann Christen daher viel glaubwürdiger einen Spiegel vorhalten als die aggressiven Atheisten auf der Traditionslinie Russells. Flasch im Interview: „Ich habe einen gewissen Respekt vor dem alten Christentum, das sagt, entweder du glaubst, oder du kommst in die Hölle. Damit kann ich etwas anfangen, mit dem heutigen Drumherumreden vieler Theologen nicht.“
Drumherumgerede gibt es überraschend viel beim eigentlichen Kernthema der Kirchen. Im Kapitel VI seines Buches geht es genau darum, um die „Erlösung“. Flaschs Darstellung ist sicher in mancher Hinsicht einseitig, neigt hier und dort zum Polemischen, und ein theologisch konservativer Protestant wird vieles vermissen und anders sehen. Aber es ist genauso festzuhalten, dass er richtige Beobachtungen macht.
Die Hoffnung auf ein Leben in ewiger Seligkeit mit Gott wird immer noch von vielen hochgehalten. Aber „mancher Laientheologe nennt heute allein dieses Erlösungsmotiv und vergißt darüber den Zorn Gottes und seine Forderung nach Genugtuung: gutherzig täuscht er Gläubige wie Ungläubige über den Glauben der Christenheit.“
Flasch ist so streng im Urteil, weil er eben den „Grundbestand“, den überlieferten „Glauben der Christenheit“, intensiv studiert hat. Für die westliche Christenheit gilt: „Wo immer die christliche Botschaft genau genommen und korrekt gepredigt wird, liegt ihr bis heute Augustins Gnadenlehre der Jahre nach 397 mit einigen Abweichungen zugrunde.“ Flasch nennt diese Hauptgedanken kurz und kommentiert anschließend:
„Diese Ideen bilden den Grundriß des christlichen Begriffs von Erlösung, aber die Christen beider Konfessionen in Deutschland erfahren das kaum noch. Sie blicken erstaunt auf, wenn man sie fragt, wovon ihr Erlöser sie erlöst habe und wenn man ihnen erzählt, was in ihren Büchern steht. Viele verurteilen Gewaltpolitik und Rautierkapitalismus, aber als erlösungsbedürftig verstehen sie sich selten oder nie. Hier liegt ein Hauptgrund dafür, daß die Kirchensprache nicht einmal mehr ihre Anhänger erreicht.“
Schwindet der Glaube an die „augustinische Erbsündenlehre und Teufelsherrschaft“, so Flasch weiter, „verliert die Erlösung ihre alte Prägnanz“. „Manche glauben noch an den Himmel als an ihre Seelenheimat, fürchten aber nicht mehr die Hölle… Daß er in der Hölle enden könnte, diese einzig kirchlich korrekte Vorstellung scheint abgeschafft. Wo das Sündenbewußtsein fehlt, braucht es keine Erlösung.“
„Mancher Gedankengang Anselms“
In diesem Frühjahr veröffentlichte die EKD einen „Grundlagentext“, der ebenfalls um die Erlösungsbotschaft kreist: „Für uns gestorben – Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi“. Auf den knapp 200 Seiten nehmen die „theologiegeschichtlichen Erkundigungen“ weiten Raum ein, schließlich meint auch EKD-Ratsvorsitzender Bedford-Strohm in seinem Geleitwort, dass am „Reichtum christlicher Tradition“ angeknüpft werden soll. „Respekt vor dem alten Christentum“ (Flasch) scheint also durchaus vorhanden, und tatsächlich sind manche Abschnitte recht gute Zusammenfassungen der Vorstellungen der jeweiligen Theologen. Gerade so wird aber eine Kontinuität vorgetäuscht, die gar nicht vorhanden ist, so dass im Sinne Flaschs auch hier von einer Mogelpackung gesprochen werden muss.
Dies wäre natürlich im Einzelnen nachzuweisen. An dieser Stelle soll nur die Analyse der Lehre im Heidelberger Katechismus herausgegriffen werden (III,4, „Akzente reformierter Theologie“). Autor Zacharias Ursinus legte im zweiten Teil die Grundlagen der Erlösungslehre sehr schlüssig dar, besonders gleich zu Beginn in den Fragen 12 bis 18. Die ganze Gedankenfolge des Abschnitts ist inzwischen für viele sehr anstößig, schließlich ist z.B. in der Antwort zu Frage 17 von der „Last des Zornes Gottes“, der auf Christus lag, die Rede.
Ursinus folgte in seiner Darlegung einem Schema, das auf Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert zurückgeht. Im Grundlagentext wird daher auch eingestanden: „In dieser Argumentation ist mancher Gedankengang Anselms wiederzuentdecken.“ Weiter heißt es: „Aber in der Begründung dieses Erlösungsgeschehens aus der Heiligen Schrift geht der Heidelberger Katechismus dann über die Theologie Anselms deutlich hinaus. Dies ist nicht zu übersehen, auch wenn im Einzelnen verschiedentlich von der Ableistung oder ‘Bezahlung’ einer zeitlichen und ewigen Strafe die Rede ist, die sich die Menschen aufgrund ihrer Sündhaftigkeit gerechterweise von Seiten Gottes zugezogen haben…“
Gewiss geht der Heidelberger über Anselm hinaus, rückt er doch anstelle der Ehrverletzung die Gerechtigkeit Gottes und die Schuld des Menschen in den Mittelpunkt (obwohl die Ehre Gottes in Fr. 11 durchaus genannt wird). Auch sonst wäre sicher noch einiges über den Fortschritt gegenüber dem scholastischen Theologen in diesem Katechismus zu sagen. Die ganze innere Logik des reformierten Bekenntnistextes aber mit „auch wenn im Einzelnen verschiedentlich…“ wegzuschieben, ist schlicht eine Täuschung. Strafe, Genugtuung, Bezahlung sind Kernelemente der Erlösungslehre im Heidelberger.
Die Kernbegriffe werden zu Randbegriffen, und nur so ist dann dieser Satz überhaupt zu begreifen: „Nicht die büßende Genugtuung für begangene Verfehlungen, sondern das Geheimnis der Gottmenschheit Christi steht im Mittelpunkt.“ Hier ist zu entgegnen, dass die „büßende Genugtuung“ gewiss im Mittelpunkt dieses Abschnitts des Heidelbergers steht! Und genauso gewiss geht es auch zentral um die Identität des Mittlers, seine Gottmenschheit. Hier wird ein Gegensatz konstruiert, der in Ursinus Text gar nicht existiert. Aber auf diese Weise soll die Kluft, die zwischen dem heutigen Denken und dem der Reformationsepoche klafft, kaschiert werden. Es soll der Eindruck erweckt werden, als gehe es um bloße Akzentverschiebungen.
Offener ist da schon Peter Bubmann, Theologieprofessor in Erlangen, der in einer Deutschlandradio Kultur-Sendung („Ist Jesus für uns gestorben?“ vom 25.09.2010, Autor Andreas Malessa) auch auf Anselm zu sprechen kommt und dann aber kategorisch meint:
„Diese Vorstellung von Gott müssen wir verabschieden. Dass Gott erst von uns wieder versöhnt werden muss, ihm fehlt sozusagen die richtige Opferung und deswegen muss sich jemand aufopfern, damit Gott wieder zufrieden ist. Gott musste nicht versöhnt werden, weil er in seiner Ehre irgendwie beleidigt war, sondern wir Menschen brauchten einen Weg, um von der sich durch Leiden und Tod hindurch wirkenden Macht Gottes erfahren zu können.“
„Nicht Gott wird versöhnt“
Ähnlich wie bei Bubmann heißt es aber auch im Grundlagentext in II,2: „Nicht Gott galt es durch das Versöhnungsgeschehen umzustimmen, sondern es galt, die Menschen neu und definitiv für Gott zu gewinnen. Christus musste nicht wegen Gott sterben, sondern infolge der menschlichen Sünde als der lebensgefährdenden Beziehungsstörung gegenüber Gott und den Menschen.“
Erscheint Gott in Bubmanns Zitat als pingelig, so ist hier „umstimmen“ das problematische Wort, das den Sinn verdreht und einmal wieder falsche Gegensätze aufbaut. Hat uns Gott vor dem Versöhnungsgeschehen nicht geliebt? Aber wie steht er denn nun zum Menschen? Gut wird im Grundlagentext diese Frage aufgegriffen: „Warum eigentlich, so fragen Menschen heute, sollten wir uns mit Gott versöhnen lassen? Hat derjenige, von dem man uns gepredigt hat ‘Gott ist Liebe’, plötzlich etwas gegen uns?“ (III,1) Richtig. Wie steht denn Gott nun zum nichtglaubenden Menschen?
John Stott analysierte in Kapitel 7 von The Cross of Christ („The salvation of sinners“) ausführlich die Deutung der gr. hilamos-hilaskomai–Stellen im NT (engl. propitiate, dt. Sühnen). Er betont, dass die „entscheidende Frage ist, ob das Objekt des versöhnenden Handelns [atoning action] Gott oder der Mensch ist.“ Er hält daran fest, dass es Gott ist, der besänftigt wird [appeasing God]. Aber auch er weiß um die Verzerrungen und Karikatur dieser Position und unterstreicht: „Es kann nicht zu deutlich betont werden, dass Gottes Liebe die Quelle, nicht die Folge, der versöhnenden Handlung [atonement] ist… Gott liebte uns nicht, weil Christus für uns starb; Christus starb für uns, weil Gott uns liebte.“ Er faßt schließlich zusammen:
„Es ist Gott selbst, der in seinem heiligen Zorn besänftigt [propitiated] werden muss; Gott selbst ist es, der in seiner heiligen Liebe diese Sühne ausführte [to do the propitiating]; und es ist Gott selbst, der in der Person seines Sohnes zur Sühne unserer Sünden starb. Gott ergriff also seine eigene liebende Initiative, um seinen eigenen Zorn zu besänftigen, indem er selbst in seinem Sohn ihn auf sich nahm, als dieser unseren Platz einnahm und für uns starb.“
Gott musste also nicht umgestimmt werden; er war und ist schon immer der Liebende. Traditionell ist er aber gegenüber dem Sünder auch der Zornige.
James I. Packer, wie Stott Anglikaner, bringt es in seinem Bestseller Gott erkennen (dort im Kapitel „Der Kern des Evangeliums“) ebenfalls auf den Punkt: „Im Christentum hingegen [anders als im Heidentum] versöhnt Gott Seinen eignen Zorn durch Sein eigenes Handeln… Es war Gott selbst, der Seinen Zorn löschte gegen jene, die Er – trotz allem – liebte und retten wollte.“
Dem verlorenen Menschen steht Gott in Liebe und Zorn gegenüber. Die moderne zeitgenössische Theologie lehrt dagegen fast unisono: Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht das Kreuz nicht, er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt, um versöhnt zu werden. Jesus starb nicht, um Gottes Haltung zu mir, sondern um unsere Haltung zu Gott zu ändern.
Als guter Lehrer und Pädagoge fasste Packer im Aufsatz „What Did the Cross Achieve?“ (im Sammelband In My Place Condemned He Stood) die unterschiedlichen Interpretationsansätze sehr gut zusammen. Was erreichte oder schaffte das Kreuz? In einem weiten Sinne natürlich die Erlösung. Aber was genau bewirkte Christi Tod? Packer unterscheidet drei grundlegende Antworten.
Nach der einen Auffassung hat das Kreuz „ausschließlich eine Auswirkung auf Menschen: sei es nun, dass Gottes Liebe zu uns offenbart wird; oder dass uns deutlich gemacht wird, wie sehr Gott Sünde hasst; oder mit dem Ziel, uns ein höchstes Beispiel des gottgefälligen Lebens zu geben; oder um einen Weg zu Gott freizumachen, den wir dann beschreiten sollen…Es wird vorausgesetzt, dass unser grundlegendes Bedürfnis eine mangelnde Motivation zu Gott hin ist, uns fehlt es an Offenheit für das Einströmen des göttlichen Lebens; um uns in die richtige Beziehung zu Gott zu bringen, ist nur ein Wandel in diesen beiden Punkten nötig, und genau diesen bringt Christi Tod hervor… Was Christus für uns getan hat wird mit dem gleichgesetzt, was er in uns tut.“
Eine zweite Position: Christi Tod hatte vor allem und zuerst eine Auswirkung auf feindliche geistliche Mächte, die uns gefangen hielten. Am Kreuz wurden diese Mächte, der Satan vor allem, besiegt.
Packer anschließend zur dritten Sicht, die auch die seine ist. Diese „leugnet nichts von dem, was von den anderen beiden Positionen bekräftigt wird – außer deren Anspruch, vollständig zu sein. Sie gesteht ein, dass es für sie eine biblische Grundlage gibt, doch sie geht weiter. Dass wir Opfer der Sünde und des Satans sind und dies unser menschliches Schicksal ist, wird mit der Tatsache begründet…, dass der Mensch als Sünder unter dem göttlichen Gericht steht; seine Gefangenschaft im Bösen ist der Beginn seiner Strafe, und er ist auf ewig verloren, solange nicht Gottes Verwerfung in Annahme verwandelt ist. Nach dieser Sicht hatte Christi Tod zuerst auf Gott eine Wirkung, der damit besänftigt wurde…“ (Hvhbg. H.L.)
Der Grundlagentext positioniert sich hier eindeutig. Im Abriss der Theologie des letzten Jahrhunderts (III,6) heißt es, E. Jüngel zitierend: „die Auffassung, dass der zürnende Gott nur durch das Blutopfer seines Sohnes versöhnt werden kann, stellt sich nun regelrecht als unbiblisch heraus: ‘Nicht Gott wird versöhnt, sondern Gott versöhnt die Welt…’“
Das klingt eingängig, aber man lese einmal zwei Seiten zuvor:
„In seiner Passion hat sich Gott an den Ort begeben, an dem sich das Gericht über die Sünde des Menschen vollzieht. Er hat an unserer Stelle in Jesus Christus unser verwirktes, dem Tod verfallenes Leben bis in die tiefsten Tiefen unseres Elends hinein ausgehalten, um uns sein unvergängliches Leben zu schenken. Er ist an unsere Stelle getreten, dorthin, wo wir in letzter Konsequenz unserer Entfremdung von Gott von unserer Schuld zerstört und den Tod der ewigen Gottferne sterben müssten: Er ist für uns gestorben, damit wir leben können. Im Unterschied zur Tradition tritt hier das Moment der Strafe (vgl. Jes 53,5), die Christus an unserer Stelle auszuhalten hat und tatsächlich auch aushält, zurück. Entscheidender ist, dass in ihm die Sünde gerichtet, aufgehoben und negiert, ein neues Kapitel in der Geschichte zwischen Gott und den Menschen aufgeschlagen wird…“
Trotz viel wahrem wieder eine Mogelpackung. Die traditionellen Begriffe wie Sünde, Gericht und Stellvertretung werden genannt bzw. klingen an. Wie wird aber durch das bloße Aushalten „unvergängliches Leben“ geschenkt? Geradezu erschreckend ist ein unpersönliches Vakuum, das sich hier auftut: Irgendetwas Schlimmes würde uns eigentlich drohen (Zerstörung durch Schuld, sogar „ewige Gottesferne“), ja ein Gericht. Aber wer richtet denn da? Entlarvend ist hier und anderswo die passivische Sprache: ein Gericht wird vollzogen bzw. vollzieht sich. Irgendwie. Dabei impliziert Gericht immer einen Richter. Aber das muss um alles in der Welt gemieden werden: ein göttlicher Richter, ein zorniger Richter. Der Trick hier wie auch in vielen anderen Texten: Sünde und Schuld richten sich gleichsam selbst, was den Richter überflüssig macht.
Damit der Leser das auch ja versteht, wird die einzig schlüssige Konsequenz aus all dem Richtigen, was angesprochen wurde, im Vorbeigehen geleugnet: „Im Unterschied zur Tradition tritt hier das Moment der Strafe…, die Christus an unserer Stelle auszuhalten hat und tatsächlich auch aushält, zurück.“ Weil so mancher Leser noch seinen gesunden Menschenverstand hat und ins Stutzen geraten könnte, wird das Provokante in dem Satz dadurch aufgefangen, dass man anfängt zu predigen oder böse gesagt: zu schwafeln: „Entscheidender ist, dass in ihm die Sünde gerichtet, aufgehoben und negiert… wird“. Noch einmal: an dieser ganz entscheidenden Stelle wird uns zugemutet zu glauben, dass die Sünde – irgendwie mit dem Tod Christi verbunden – einfach verschwindet.
Auf der folgenden Seite 120 wird es nicht besser. Die Folgen der Sünde werden genannt („schuldhafte Zerstörung des Geschaffenen, das Verderben des Lebens und der Tod als Inbegriff einer nicht mehr zu überbietenden Beziehungslosigkeit“), dann heißt es: „Gott ist dem entgegengetreten. Nur er ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen und den Menschen und seine Welt aus der durch die Entfremdung von Gott ausgelösten Dynamik des Unheils herauszuholen.“ Und weiter: „In seiner nicht von uns ablassenden Liebe ‘verwickelt’ er sich in dieses Unheil… um die Situation des Unheils gewissermaßen von innen her aufzubrechen. Man kann auch sagen: Der dreieinige Gott erleidet im gekreuzigten Christus unsere Gottverlassenheit. Er setzt sich dem Gericht aus, das uns eigentlich treffen müsste. Er stirbt den Tod, den wir sterben müssten.“ Jesus ist „von den tödlichen Folgen unserer Entfremdung von Gott getroffen worden.“
Und wieder ist hier viel Wahres gesagt, aber erneut ist zu fragen: Was ist das für ein Gericht, das droht, und was sind das für „tödliche Folgen“? Hat das mit Gott gar nichts zu tun?
Es ist also recht eindeutig, dass der Grundlagentext dem ersten Deutungsschema bei Packer folgt, das der gesamten liberalen und modernistischen Theologie zugrunde liegt. Im Schlusskapitel VI mit zahlreichen Fragen wird dies an mehreren Stellen deutlich. „Musste Jesus Christus sterben, weil Gott als ein ‘gerechter’ Gott dies so fordert?“ Noch einmal wird der Aspekt der Strafe vom Tisch gewischt, und leider wird dabei der gute alte Begriff der Gerechtigkeit schrecklich, bis zur Unkenntlichkeit, verwurstet:
„Es ist keine strafende Gerechtigkeit, in deren Namen Jesus Christus gestorben ist. Vielmehr ist es eine Gerechtigkeit, die in der Hingabe des Lebens Jesu Christi das feindlich Getrennte zusammenführt und versöhnt. So trägt Gottes Gerechtigkeit dafür Sorge, dass auch Menschen versuchen können, ihrem Leben gerecht zu werden. Jesus Christus ist mitten hinein gegangen in ungerechte Lebensverhältnisse, um sie von innen heraus zu verändern.“
Sich als Versöhnte anerkennen
Das erste von Packer genannte Deutungsmuster lässt keinen Raum für einen Gott, der Sündern mit Zorn und Strafe begegnet. Diese Position drängte schon immer zur Allversöhnung – für alle wird alles letztlich gut. Auf Seite 114 wird dies auch im Grundlagentext deutlich: „In der jüngeren evangelischen Theologie hat sich zunehmend die Vorstellung durchgesetzt, dass Gott durch Gericht und Verwandlung hindurch am Ende keinen Menschen vom Heil ausschließen werde.“ Leider verstecken sich die Autoren auch hier hinter den vermeintlichen Erkenntnissen der modernen Theologie.
Dass die ewige Verdammnis in dem Text nicht vorkommt, wurde von führenden Evangelikalen wie Ulrich Parzany oder auch dem Allianz-Vorsitzenden Michael Diener bemängelt. Aber das Problem ist noch viel ernster. Es ist nicht nur so, dass etwas fehlt. Im Frageteil zeigt sich, dass positiv bekräftigt wird: Schon heute sind alle Menschen mit Gott versöhnt. Gerade an dieser Stelle liegt der Grundlagentext ganz auf liberaler Linie, bricht mit der klassischen Tradition; und die Folgen für die Evangelisation sind natürlich gravierend.
Auf Seite 172 wird dies noch wenig präzise ausgedrückt: „Gottes Versöhnung in Jesus Christus zum Heil der Welt gilt schon, bevor sie Menschen überhaupt zur Kenntnis nehmen. Sie gilt auch jenen, die sie abschlagen…“ Mit „gelten“ kann eben viel gemeint sein; in mancher Hinsicht stimmt dies natürlich. Auf der folgenden Seite dann aber: „Wer glaubt, fängt nicht erst an, sich mit sich selbst, anderen und Gott zu versöhnen. Vielmehr fällt es ihm in hellen Augenblicken wie Schuppen von den Augen, dass er schon mit Gott versöhnt ist… Ich kann einfach anerkennen, dass ich schon längst versöhnt bin.“
An dieser Stelle wird deutlich, dass dem ersten Modell bei Packer – das Kreuz hat seine erste und ausschließliche Wirkung auf uns – ein subjektivistisches Verständnis des zum Glauben Kommen entspricht: kein objektiver Vorgang, denn objektiv war man ja schon versöhnt mit Gott, sondern ein neues Sehen, ein Erkennen und Anerkennen eines schon existierenden Zustands.
Auf Seite 174 wird gefragt: „Was wird dann aus denen, die nicht an Gott, geschweige denn an Jesus Christus glauben?“ Wieder geht es recht unverfänglich los. „Christus ist ganz gewiss für alle Menschen gestorben, nicht nur für die Christen. Sein Eintreten will allen Menschen zugutekommen…“ Einen Satz weiter aber: „Es ist nicht die Aufgabe christlicher Verkündigung, mit dem Ausschluss von dem ewigen Leben zu drohen. Der christliche Glaube freut sich nicht an Ausschlüssen, sondern möchte andere für die Freude am ewigen Leben und damit am Leben gewinnen… Er wirbt dafür, sich bereits als Versöhnte anzuerkennen und entsprechend zu leben. Und er gibt niemanden, der nicht an Jesus Christus glauben kann, der endgültigen Gottesferne preis. In der klassischen Theologie hat sich diese Hoffnung in dem Gedanken ausgesprochen, noch nach seinem Tod könne ein Mensch Vertrauen zu Christus fassen.“
Nicht nur, dass hier gegen eine vermeintliche Droh-Botschaft polemisiert wird (hatten die großen Denker des Christentums bis um 1800 hier etwas Wesentliches übersehen, dass sie den Ausschluss vom ewigen Leben so penetrant thematisierten?); hier wird der evangelische Ruf zu Glaube, Buße und Umkehr zu einem „Betrachtet euch als Versöhnte!“ banalisiert.
Auch ein theologischer Laie erkennt, dass hier etwas nicht stimmt. Natürlich ist die objektive Heilstat am Kreuz schon Vergangenheit und in dem Sinne Versöhnung dort für die Erretteten schon geschehen. Christus hat schon „durch den Tod seines sterblichen Leibes“ versöhnt (Kol 1,22), aber eben die konkreten Menschen, die „fremd und feindlich gesinnt“ waren (1,21). Ähnlich Röm 5,10: „Wir“, Paulus und die Leser des Briefes, Christen in Rom, sind „mit Gott versöhnt worden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren…“ Die von Gott Erwählten, für die Christus gestorben war, sind dennoch bis zum Moment der Umkehr in der Finsternis (Eph 5,8), tot in Sünden (Eph 2,1.5; Kol 2,13). Gott ruft dann aus dieser Finsternis heraus (1 Pt 2,9), so dass aus „Fremden“ „Gottes Hausgenossen“ (Eph 2,19) werden.
Das presbyterianische Westminster-Bekenntnis erläutert gut: „Gott hat von aller Ewigkeit her beschlossen, alle Erwählten zu rechtfertigen und Christus ist in der Fülle der Zeit wegen ihrer Sünden gestorben und wegen ihrer Rechtfertigung auferstanden. Trotzdem werden sie nicht gerechtfertigt bevor der Heilige Geist ihnen nicht zur rechten Zeit Christus wirklich zueignet.“ (11,4) Auch diejenigen, die einmal bewusst mit dem Glauben beginnen, sind vorher nicht schon Gerechtfertigte oder Versöhnte. Sie kommen zum Glauben, weil sie Erwählte sind, aber Menschen sind nicht (außerhalb der Gemeinde natürlich) pauschal als Gerechtfertigte oder Versöhnte anzusprechen. Und natürlich auch nicht als Erwählte (obwohl objektiv oftmals unter angesprochenen Ungläubigen Erwählte sind), denn wir wissen ja nicht, wer die Erwählten sind.
Am Ende des letzten Zitats muss leider die „klassische Theologie“ als Zeuge für die „Hoffnung“ herhalten, „noch nach seinem Tod könne ein Mensch Vertrauen zu Christus fassen“. Dies ist eine Anspielung an die schon früh vertretene Lehre der Apokatastasis, der Wiederherstellung (aller Dinge), die sich dann über Teile des Pietismus bis zu wichtigen Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts zieht. Bis zur nachaufklärerischen Theologie hat diese Lehre aber nie als orthodox gegolten.
Noch ein Wort zu der im Grundlagentext gebrauchten Metapher über den Glauben: auf einmal fällt es einem wie Schuppen von den Augen. In Apg 9,18 wird genau dieses Bild in der Geschichte der Bekehrung des Saulus gebraucht, wobei der Apostel hier auch das tatsächliche Augenlicht zurück erhält. Das Auftun des Herzens finden wir in Apg 16,14, und in Apg 16,30 ist das direkte Resultat dieses Getroffenseins im Herzen die Frage „Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?“
Wenn also in der Apostelgeschichte Menschen die inneren Augen aufgetan werden, wenn es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt, dann erkennen sie eben nicht: „Oh, wir sind Versöhnte! Welche ein Glück!“ Nein, es ist eher schon ein verzweifeltes „was sollen wir jetzt [bloß] tun?“ wie nach der Pfingstpredigt (Apg 2,37). Was sollen wir tun angesichts des eigenen Elends? Um getrost und selig sterben zu können, ist nach dem Heidelberger Katechismus zuerst zu erkennen, „wie groß meine Sünde und Elend ist“ (Fr. 2). – Das „Elend der Sünde“ kommt im Grundlagentext durchaus zur Sprache (z.B. S. 122), aber ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo dies seinen Platz in der Verkündigung haben soll – schon Versöhnte sind eben nicht elende Sünder. Ich kann hier keine Kontinuität mit dem biblischen Text und dem reformatorischen Erbe erkennen. Denn das Elend ist im Kern Hass auf Gott selbst (Heidelberger Katechismus, Fr. 5), was sein Gericht zur Folge hat.
„Er ist hier, in dir“
Sich als Versöhnte anzuerkennen – genau dies ist übrigens auch die gute Nachricht à la Roger Schutz. Der Gründer der Kommunität von Taizé betonte: „In jedem menschlichen Wesen wohnt der Heilige Geist“. Wiederholt lehrte er, dass die Menschen begreifen müssen, dass „das Wesentliche“ (und das meint doch wohl die Versöhnung mit Gott) im Menschen, in jedem Menschen, schon geschehen sei. Daher fragt er rhetorisch: „Ist die Kirche im Herzen Gottes nicht so weit wie die Menschheit?“ (Kathryn Spink, Frère Roger – Gründer von Taizé). Und in Dieu ne peut qu‘aimer (Gott kann nur lieben) schreibt Schutz: „Einige erfahren aus der Heiligen Schrift, dass der Heilige Geist in ihnen lebt. Es gibt auch diejenigen, die dies noch nicht wissen. Und dann sind da schließlich diejenigen, die dies nicht mehr auf dieser Erde erkennen, es aber im ewigen Leben finden werden.“ Die Botschaft ist also eindeutig: Keiner geht wirklich verloren; es ist nur eine Frage des bewussten, subjektiven Wissens um die schon geschehene Erlösung. Evangelisation im eigentlichen Sinne ist daher auch nicht nötig.
Der Bestseller The Shack, dt. Die Hütte, lehrt im Grunde nichts anderes. C. Baxter Kruger, Freund des Hütte-Autors W.P. Young, fasste den theologischen Gehalt des Romans in Revisiting the Shack zusammen. Der deutsche Titel zeigt gut, worum es geht: Wie wir Gott begegnen: DIE HÜTTE und das neue Bild von Gott – genau: ein neues Bild von Gott. Kruger meidet zwar auch das Etikett „Universalist“, betont aber mehrfach: „Durch Jesus wurde der Heilige Geist auf die gesamte Menschheit ausgegossen…“ Wir alle sind schon in das Leben der Dreieinigkeit aufgenommen, alle sind „geliebt, anerkannt, in Ewigkeit umarmt und adoptiert“. Für manche ist dies nur noch nicht Lebensstil oder lebensbestimmende Wirklichkeit geworden. Krugers missionarische Gespräche gestalten sich so, dass er Ungläubigen zusagt: „Er [Jesus] ist hier, in dir“.
„Fremd in vertrauter Sprache“
Eine der letzten Bastionen der „alten“ Theologie in den Kirchen sind die Lieder aus dem 16. bis 17. Jahrhundert, vor allem die Passionschoräle, die sich in nennenswerter Zahl immer noch im Evangelischen Gesangbuch finden. In Kapitel IV des Grundlagentexts wird erfreulicherweise auch auf sie eingegangen. „Diese Lieder können den Glauben prägen, wenn Menschen es zulassen, wenn sie sich auf diese Glaubenssprache einlassen. Doch nicht jeder und jede kann und mag sie heute noch singen.“
Im vergangenen Jahr lieferte Otmar Schulz im „Deutschen Pfarrerblatt“ (7/2014) einen offenen Lebensrückblick: „Autobiografische Anmerkungen zu einem verbreiteten Dilemma: Fremd in vertrauter Sprache“. Der Liederdichter und Theologe, der nun im Kreis Celle wohnt: „Ich fühle mich fremd in der vertrauten Sprache, eben auch in der meiner eigenen Lieder. Das hat mit dazu geführt, dass mir im Laufe der Jahre die Tinte nahezu eingetrocknet ist. Auch tastende und fragende Texte gelingen mir kaum mehr. Es ist für mich vorbei mit der Blut- und Sühneopfertheologie meiner Kindheit und Jugend und auch langer erwachsener Jahre. Es ist vorbei mit dem ‘Christi Leib für dich gegeben’. Die ‘Lehre’ hat der Erfahrung und dem neu erworbenem Wissen nicht standgehalten.“
Auch mit den Psalmen kann er nicht mehr viel anfangen. „Der Gott, der dort bedichtet und besungen wird, mal als tröstender Vater, mal als rächender Weltenherrscher, ist nicht mein Gott.“ Anders als Flasch will Schulz aber nicht ins Lager der Nichtglaubenden überwechseln: „Mich interessiert der Jesus, der vor dem Christus war, so schwierig es auch sein mag, ihn zu finden…“
Schulz Analyse ist scharf. Er weiß, dass es letztlich nicht um Ästhetik, um Geschmack oder um Altes gegen Neues geht. Die „Lobpreislieder“ kommen bei ihm nicht besser weg als die Paul-Gerhardt-Lieder, und er glaubt auch an keine Trendwende durch die modischen Gospelchöre („es hilft natürlich auch nichts, wenn ein Gospelchor seine englischen Texte begeistert in die Kirche schmettert“).
Schulz betont ganz richtig: „es geht um Texte, um Inhalte“, und alles ist, auch bei den Liedern, „in erster Linie eine Frage theologischer Redlichkeit“. Konsequenterweise erhofft sich Schulz daher „ein neues Christentum, das sich in neuer Sprache ausdrückt…“
Die sprachliche Fremdheit ist das Ergebnis einer Entfremdung der modernen Theologie von der „ganzen Blut- und Sühnetheologie“. Die Frage ist eben nicht, wer sich auf welche Sprache einlassen mag oder nicht, sondern es geht um „Anspruch auf Wahrheit“ wie Flasch im ersten Absatz seines Buches deutlich macht. Hat das alte Christentum recht gehabt? Der Grundlagentext versucht es allen irgendwie recht zu machen. Ich glaube nicht, dass diese Strategie in die Zukunft weist. Denn letztlich gibt es nur drei Alternativen: ein „neues“ Christentum, das nach einem esoterischen Jesus „vor dem Christus“ sucht (Schulz); gar kein Christentum mehr (Flasch); oder ein erneuertes „altes“ Christentum, in klarer Kontinuität zum überlieferten Erbe. Um diese Alternative mogelt sich der Grundlagen herum.