Allmächtig und allgefährlich?

Allmächtig und allgefährlich?

Zivilisierung der Religionen

Friedrich Wilhelm Graf gehört zu den bekanntesten evangelischen Theologen in Deutschland. Bis Anfang des vergangenen Jahres lehrte er systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Seine Abschiedsvorlesung dort stand nicht zufällig unter dem Thema „Theologische Aufklärung“, seinem Thema. Einem breiteren Publikum ist Graf durch Publikationen wie Die Wiederkehr der Götter oder Kirchendämmerung bekannt. Auch in die Debatte um die Thesen der Neuen Atheisten wie Dawkins oder Hitchens griff er ein („biologistisch naiver, reflexionsresistenter Trivialatheismus eines Richard Dawkins“).

Graf betont immer wieder, dass Religion ist nicht per se gut und hochambivalent ist. Dem ist gewiss zuzustimmen. Der aufklärerischen Haltung entsprechend wirft er immer einen kritischen Blick auf alles, gerade wenn es um die Gewalt der Religionen geht. So auch in seinem zuletzt erschienenen Götter global – Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird (C.H. Beck, 2014).

Das Buch ist ein lesenswerter Abriss der deutschen und weltweiten religiösen Landschaft der Gegenwart, sehr kenntnisreich und sicher im Stil. Evangelikale werden den Aussagen in den Kapiteln über Evolution und Kreationismus (VI.) sowie Fundamentalismus (VIII.) natürlich nicht immer zustimmen; diese sind aber wiederum gute Zusammenfassungen der modernen theologischen Sicht.

GGAn dieser Stelle soll nur auf den Epilog eingegangen werden, denn dort wird es theologisch hochinteressant: „Die Zivilisierung der Religionen“. Graf sieht die allgemeine Notwendigkeit, dass sich die Religionen einem Prozess der Domestizierung oder Selbstzivilisierung unterziehen. Er leugnet dabei ausdrücklich, dass das Christentum unter den monotheistischen Religionen der Demokratie an sich näher stehe; dass es eine „besondere Affinität des ‘christlichen’ oder gar des ‘christlich-jüdischen Menschenbildes’ zur modernen parlamentarischen Demokratie gab.“ (Teile des Epilogs finden sich fast wortgleich auch hier.)

Graf räumt ein, dass es in den Kirchen den einen oder anderen Gedanken gab, der in Richtung Menschenrechte und Bürgerfreiheit wies (er erwähnt die Puritaner), aber im Grunde begann der Weg gen moderner parlamentarischer Demokratie mit der Aufklärung. Und genauso ist die Aussöhnung von Religion und Demokratie damit verknüpft: „Soll religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung kompatibel sein, muss er sich selbst begrenzen können und zivilisieren. Das ist in erster Linie eine religiöse Aufgabe. Doch wie kann sie begründet und umgesetzt werden? Dazu bedarf es zunächst der Erinnerung an das Projekt der Aufklärung…“ Aufklärung wiederum beinhaltet das „fundamentale Recht auf Kritik der Religion. Ohne Religionskritik und vernunftgeleitete Kritik kirchlicher Dogmen und Zeremonien ist Aufklärung nicht denkbar.“

Leider übergeht Graf dabei völlig, dass die Religionskritik eine Erfindung der Bibel selbst ist. Nicht die Griechen waren die Väter des kritischen Denkens, und die Aufklärung radikalisierte die Religionskritik nur, indem sie die Vernunft zum alleinigen obersten Prinzip erklärte. Ausführliche religionskritische Abschnitte finden sich in der Bibel z.B. in Ps 115,4–8, Ps 135,15–18, Jes 44,9–20 und Jer 10,1–16. Thomas Schirrmacher: „Die Bibel ist voller kritischer Berichte über das Volk Gottes. Zwar verkündigt das AT vehement den Monotheismus, offenbart aber ebenso schonungslos, wie schwierig er unter den Juden durchzusetzen war. Ehebruch und Mord von König David schwächen nicht die Psalmen, sondern liefern den Anlass für den bedeutendsten Bußpsalm des AT und der Kirchengeschichte (Ps 51 zu 2 Sam 6–7). Nicht nur David, auch Mose und Paulus waren früher Mörder…“ (Koran und Bibel) Schirrmacher kommt zu dem Schluss, dass keine heilige Schrift über die Anhänger der eigenen Religion so negativ berichtet wie die Bibel. Es wird klar ausgesagt, dass auch gläubige Juden und Christen Sünder bleiben und zu den schlimmsten Taten fähig sind. Keine Religion steht so eindeutig zu ihren Fehlern und Missbräuchen wie das Christentum. Nun waren Vertreter der christlichen Kirchen diesem Grundsatz leider oft nicht treu, zeigten keine Spur von Selbstkritik. Auch dieses Eingeständnis ist wieder typisch christlich.

Auf all das weist Graf leider mit keinem Wort hin. Würde seine vielgeliebte Aufklärung etwas von ihrem Ruhm verlieren? Und er wird nicht müde zu unterstreichen, dass sich die monotheistischen Religionen kaum unterscheiden. Gravierende Kontraste wie die Rolle von Kritik und Selbstkritik in Christentum und Islam will er nicht sehen, obwohl doch gerade diese Offenheit für Kritik auch die Aufklärung hat überhaupt erst möglich werden lassen.

Problematisch ist auch Grafs Behauptung, das Christentum sei in keiner Weise eine „demokratieaffine Religion“. Da sich die modernen parlamentarischen Regierungsformen in der heutigen Gestalt erst in den letzten beiden Jahrhunderten bildeten, also in etwa nach der Aufklärung, ist es natürlich leicht, auch hier wieder eine besondere Nähe herzustellen. Aber was macht Demokratie nun aus? Im Kern gewiss Rechtsstaatlichkeit, die Herrschaft des für alle gleich gültigen Rechts. Es dürfte hier schwierig sein, die biblischen Wurzeln zu leugnen. Denn der Grundsatz, dass alle das Gesetz hören, es kennen und alle vor Gericht gleich behandelt werden sollen, ist ja schon im alttestamentlichen Israel zu finden.

Eine weitere Säule der Demokratie ist die Überzeugung, dass staatliche Macht unbedingt begrenzt und kontrolliert werden muss. Schon bei Calvin, Jahrhunderte vor der Aufklärung, lesen wir ganz am Ende seiner Institutio, es sei die Aufgabe, ja hohe Pflicht der Repräsentanten des Volkes, „die Willkür der Könige zu mäßigen“; sie müssen „der wilden Ungebundenheit der Könige entgegentreten“. Und „wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen“, so ist solch ein Verhalten „von schändlicher Treulosigkeit“ (IV,20,31). Gerade viele protestantische Denker hatten einen Widerwillen gegen Tyrannen, wie auch der einflussreiche Traktat Vindiciae contra tyrannos (1579) eines anonymen Hugenotten zeigt.

Diese Kritik der Herrschenden war und ist getragen vom Wissen um die tiefe Sündhaftigkeit des Menschen, aller Menschen. C.S. Lewis brachte es in seinem Essay „Equality“ so auf den Punkt: „I am a democrat because I believe in the Fall of Man… mankind is so fallen that no man can be trusted with unchecked power over his fellow.” Bekannt ist auch Reinhold Niebuhrs (1892–1971) Formulierung der anthropologischen Grundlage der Demokratie: „Man’s capacity for justice makes democracy possible; but man’s inclination to injustice makes democracy necessary.“ – Keinerlei Nähe des Christentums zur Demokratie? Sicher kann keine gerade Linie von der Bibel zu unseren modernen Demokratien gezogen werden. Doch es war eben doch das christlich-jüdische Menschenbild, das den Nährboden der Demokratie bildete. Und das Wachstum auf diesem Boden begann sicher weit vor der Aufklärung.

(Man beachte dazu auch die vor kurzem begangene 800-Jahr-Feier der Unterzeichnung der Magna Charta in England, der es ja hauptsächlich um die Begrenzung der Macht des Königs ging: das Recht steht über dem Herrscher; bei Missachtung der Gesetze können gegen ihn Maßnahmen ergriffen werden wie es der berühmte Paragraph 61 vorsieht. Außerdem wird er hier erstmals betont, dass alle „freien Männer“ Rechte besitzen und vor dem Gesetz gleich sind. Schon im Policratius aus dem Jahr 1159 bezeichnete John von Salisbury den Herrscher als „Sklave von Gerechtigkeit und Recht“. Zu den christlichen Wurzeln des Dokuments siehe Thomas Andrew in The Church and the Charter, dem der Autor ein Zitat von Lord Denning [1899–1999] voranstellt: „Magna Carta is the greatest constitutional document of all times – the foundation of the freedom of the individual against the arbitrary authority of the despot“.)

Abschied von der Allmacht

Graf geht dann langsam zu einem zweiten Aspekt der Zivilisierung der Religionen über, der mit der Allmacht Gottes verbundenen Gefährlichkeit. Dies ist ein in den letzten Jahren häufiger auftauchendes Thema, man denke an den Soziologen Ulrich Beck („Gott ist gefährlich“) oder an die Thesen des Ägyptologen Jan Assmann (Die mosaische Unterscheidung).

Graf bezieht sich auf die Religionskritik der Aufklärung, meint aber sicher auch selbst: „Gerade die Sprachen der in Europa wirkmächtigen monotheistischen Religionen sind äußerst gefährlich.“ Und eine Seite weiter:

„Die Einsicht in die elementare Gefährlichkeit religiösen Glaubens gilt gerade auch für das Christentum bzw. die verschiedenen Christentümer. Denn hier ist, nicht anders als im Judentum und in den islamischen Überlieferungen, viel von einem Gott die Rede, der als allmächtig vorgestellt und theologisch gedacht wird. Sonntag für Sonntag sprechen Christen aller Konfessionen in ihren Gottesdiensten das apostolische Glaubensbekenntnis. Wie in den meisten anderen altkirchlichen Symbolen wird im Apostolicum nur ein einziges Gottesprädikat genannt: allmächtig. ‘Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden’. Diese Vorstellung vom allmächtigen Schöpfergott stammt aus der Hebräischen Bibel bzw. dem Alten Testament, findet sich aber auch in zahlreichen Texten des Neuen Testaments. Auch in anderen antiken und spätantiken Religionskulturen gilt der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden als das Herrschaftssubjekt par excellence. Genau darin liegt jedoch eine große Gefahr. Denn Allmacht ist ein hoch ambivalentes, überaus problematisches und bedrohliches Wort. Schon Macht ist ein Begriff, mit dem man aus guten freiheitsdienlichen Gründen ebenso prägnant wie behutsam umgehen muss. Macht bedarf der permanenten Kontrolle, damit sie nicht von wem auch immer missbräuchlich ausgeübt wird.“

Es ist, so wie es dasteht, natürlich richtig: „Vorstellungen von Allmacht sind noch gefährlicher als nur Macht, gleichsam allgefährlich.“ Menschen, die sich nach Allmacht sehen, sind tatsächlich äußerst gefährlich. Aber gilt dies auch für Gott? Graf weiter:

„Allmacht meint: absolute Macht, ins Unendliche gesteigerte Macht, Macht, über die hinaus nichts Mächtigeres gedacht werden kann, also eine Macht, die nicht durch anderes, sondern, wenn überhaupt, nur durch sich selbst begrenzt werden kann. Vor dem ‘allmächtigen Gott’, den Juden, Christen und Muslime auf je eigene Art verehren und anbeten, muss man sich deshalb fürchten. Genau dies tun Juden, Christen und Muslime…“

Graf hat damit die biblische Sicht der Allmacht durchaus richtig erfasst. Natürlich tut Gott nicht alles Denkbare. Allmacht bedeutet „eine in Gott selbst liegende, von ihm selbst beliebte Schranke“, so Eduard Böhl (1836–1903) in seiner Dogmatik. „Alles, was ihm gefällt, tut er, was seinem Wesen, seinem Ratschluss entspricht.“ Der reformierte Theologe aus Wien: „Diese Eigenschaft sagt aus, dass dem höchst lebendigen, göttlichen Vermögen nichts außer Gott Liegendes Grenzen setzen kann, mit andern Worten, dass es nichts gebe, was über Gottes Können hinausliegt.“ Gott bindet sich selbst, nicht eine Machtinstanz neben oder über ihm. Schon Calvin verwarf das „Hirngespinst“ einer „bindungslosen Gewalt (absoluta potentia) Gottes“. „Wir erdichten uns keinen Gott, der außerhalb des Gesetzes stünde; denn Gott ist sich doch selbst ein Gesetz“ (Inst. III,23,2).

In einem Beitrag auf FAZ-online („Mord als Gottesdienst“, 07.08.2014) erörtert Graf diese Fragen auf der genau gleichen Linie, aber etwas näher als im besprochenen Buch. Dort schreibt er: „Die Gott zugeschriebene Allmacht ist allgefährlich, weil sie sich jeder menschlichen Kontrolle entzieht und so vielfältig missbraucht werden kann. Von Lord Acton, dem liberalen Kulturkatholiken, stammt das Wort: ‘Absolute Macht korrumpiert absolut.’ Genau darin liegt die unaufhebbare Ambivalenz und Vieldeutigkeit der religiösen Rede von der Allmacht Gottes.“

Hier bringt es Graf gut auf den Punkt, und wir könnten auch so formulieren: Gott ist so gefährlich, weil er Gott ist und kein Mensch. Das Problem mit Gott ist, dass er eben Gott ist. Denn wir kontrollieren keine seiner Eigenschaften, und alle sind offen für Missbrauch durch Menschen. Aber es gehört doch zum Wesen Gottes, dass er sich dieser menschlichen Kontrolle entzieht. Was wäre das für ein Gott, den wir tatsächlich kontrollieren könnten (also nicht nur unser Reden von Gott, das wir natürlich in manchen Hinsichten unter Kontrolle haben). Müsste man vor genau so einem Gott nicht Angst haben? Denn wer weiß, welcher Mensch oder welche Menschengruppe ihn gerade besser im Griff hat? Es ist ja genau andersherum: Gott kontrolliert alles, darunter auch den Menschen.

Es ist schon bezeichnend, dass Graf in diesem Zusammenhang Lord Actons berühmten Satz zitiert. Acton (1834–1902) war politisch gewiss ein Liberaler, aber kein „liberaler Kulturkatholik“, vielmehr ein gläubiger, seine Konfession sehr ernstnehmender Denker. Er lehnte die Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes beim Ersten Vatikanischen Konzil ab – und auch auf den Papst war ja das Zitat gemünzt! Aber das zeigt doch, dass Acton einen Menschen im Blick hatte. Er würde sich im Grabe umdrehen, hörte er von Grafs Anwendung seines Satzes auf Gott. Es ist schon sehr frech, wenn Graf, dem der Kontext dieses Wortes natürlich bekannt ist, ausgerechnet Lord Acton zu einem Zeugen seiner Sicht umfunktioniert.

Auf FAZ-online kommt Graf nun zum Kern des Problems:

„Immer wieder haben religiöse wie politische Autoritäten und Herrscher mit Bezug auf die Allmacht Gottes ihre eigenen Machtansprüche begründen wollen, vor allem im Interesse der Stärkung ihrer Herrschaft: Indem sie ihre Macht von der Allmacht Gottes her legitimieren, suchen sie sie der Kontrolle der Beherrschten oder der Gläubigen zu entziehen. Gerade in politischer Hinsicht ist Gottes Allmacht schon deshalb eine so gefährliche Vorstellung, weil sie innerweltliche Macht als einen Repräsentationsort oder Ausdruck göttlicher Macht erscheinen und damit als unbedingt gültig, undiskutierbar verbindlich wirken lässt. Wenn weltliche Machthaber sich auf Gottes Allmacht berufen, wollen sie nur sich und ihre Macht absolut setzen.“ Oder in einer kurzen Frage: „Weshalb sollten, wenn Gott omnipotent ist, seine getreuen Diener daran nicht teilhaben dürfen?“ Graf argumentiert damit auf einer Linie, die auch schon bei Jürgen Moltmann zu finden ist, der in Trinität und Reich Gottes schreibt: „Die Vorstellung vom allmächtigen Weltenherrscher gebietet überall untertänige Knechtschaft…“. (Moltmann selbst wurde wohl durch Erik Petersons Der Monotheismus als politisches Problem: Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, 1935, angeregt.)

Das klingt alles sehr schlüssig, was sich aber leicht erklären lässt. Tatsächlich wurde natürlich bis zur Aufklärung zumindest menschliche Herrschaft im Staat, zivile Obrigkeit, in der Regel mit Gottes Willen begründet (z.B. durch das „Gottesgnadentum“). Mit der Aufklärung nahmen die Volkssouveränität oder Ideen wie die vom Gesellschaftsvertrag den Platz Gottes ein. Grafs Logik ist nun aber gar zu simpel: Herrschaft wird bzw. wurde mit Rückgriff auf Gott begründet; Gott ist allmächtig; dies führt dazu, dass menschliche Herrschaft direkt an Gottes Allmacht teilhat und sie für sich einsetzen will.

Gewiss gibt es ein Wahrheitsmoment in Grafs Gedanken: Jeder Mensch nimmt in verschiedener Weise an göttlicher Herrschaftsausübung auf der Erde teil. Die Menschheit ist nämlich zur Vizeregentschaft – unter dem ewigen König – über die ganze Schöpfung berufen. Das beinhaltet mehr als Macht wie z.B. alle kulturellen Tätigkeiten, aber eben auch Macht. Insofern ist „innerweltliche Macht“ natürlich ein „Repräsentationsort oder Ausdruck göttlicher Macht“; dies gilt aber für alle menschliche Machtausübung, auch die demokratische und auch die in anderen Bereichen wie  Wirtschaft und Familie.

Es besteht also eine Beziehung zwischen göttlicher und menschlicher Macht. Schließlich ist der Mensch Ebenbild Gottes und spiegelt dessen Eigenschaften auf verschiedene Weise wider (hier muss natürlich auch das Stichwort der Analogie fallen). Außerdem gilt die Allmacht Gottes traditionell ja als eine „kommunizierbare Eigenschaft“ Gottes, d.h. sie ist ein Attribut, das eine Entsprechung in der Schöpfung hat und an dem Menschen Anteil haben.  Aber haben christliche Herrscher (um bei diesen zu bleiben) in der Vergangenheit wirklich gedacht „weil Gott allmächtig ist, will ich auch danach streben und daran, an seiner Allmacht, Anteil haben“? Muss nicht genau unterschieden werden zwischen Macht und Allmacht? Und hat nicht gerade die christliche Tradition immer um diesen Unterschied gewusst?

Graf fällt ja auch ein historisches Urteil („immer wieder haben…“). Hier wäre zu fragen, ob Herrscher auf dem Hintergrund der biblischen Religionen (lassen wir den Islam als Sonderfall einmal beiseite) wirklich mehr zur Allmacht, zur völlig unkontrollierten Macht tendiert haben als andere. Die heidnischen Götter der Antike waren meist nicht wirklich allmächtig, in verschiedener Weise begrenzt, vor allem durch andere Götter. Dies impliziert nach Graf eindeutig, dass die Versuchung zur Allmacht besonders Herrscher in der jüdisch-christlichen Kultur auszeichnen sollte. Aber dies ist so ja nicht der Fall, im Gegenteil! Ob es nun ägyptische, assyrische, persische, makedonische oder römische Monarchen waren – sie hielten sich oftmals tatsächlich für Götter bzw. deren Söhne, Verkörperungen, Stellvertreter usw., die von allen anderen Menschen klar getrennt und über sie erhoben waren.

Ist es also nicht genau umgekehrt: Weil Gott allmächtig ist und weil nur er der Allmächtige ist (gäbe es andere Allmächtige neben ihm, hätte er eben nicht mehr alle Macht inne), ist alle andere Macht, von Menschen ausgeübte Macht, per se relativ und begrenzt und eben nicht all-mächtig. Oder noch grundlegender: Weil Gott Gott ist und weil nur er Gott ist, ist der Mensch nicht Gott. Verschwindet der Glaube an Gott, wird Gott in einer Kultur an den Rand gedrängt, verfallen immer mehr Menschen dem „Gotteskomplex“ (H.-E. Richters gleichnamiges Werk aus dem Jahr 1979), dem Glauben an die ihre Allmacht.

Es geht hier natürlich um ein Wesenselement der christlichen Weltanschauung, das daher auch von allen großen christlichen Denkern bekräftigt wurde: die klare Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf. Herman Bavinck (1854–1921): „Die wahre Religion unterscheidet sich von allen anderen durch die Tatsache, dass sie die Beziehung zwischen Gott und der Welt, einschließlich des Menschen, als zwischen Schöpfer und seinem Geschöpf auffasst.“ (Reformed Dogmatics II) Der reformierte Philosoph und Theologe Cornelius Van Til (1895–1987) betonte immer wieder: die grundlegendste Unterscheidung besteht zwischen Gott, der unabhängig (self-contained) und autonom ist, die „absolute Person“, und dem von ihm abhängigen und nichtautonomen Menschen als sein Geschöpf.

Ohne Zweifel ist es schon immer Ausdruck der Sündhaftigkeit des Menschen gewesen, dass er diese Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Gott und Mensch, überschreiten, so wie Gott sein wollte; schon immer war der gefallene Mensch mit seinem Status als bloßem Geschöpf nicht zufrieden, strebte nach mehr – und ja: sicher auch mehr Macht, manchmal auch Allmacht. Gerade die Bibel stellt hier aber nun ein äußerst großes Warn- oder Stoppschild auf: du bist nicht Gott, und maße dir ja nicht an, Gott zu sein; auch wenn du sogar viel irdische Macht hast, bist du immer noch eines meiner Geschöpf und keineswegs Gott wie ich. – Dass Graf die Existenz dieses Stoppschildes konsequent ignoriert, ist vielsagend.

Nun nennt das AT an einigen Stellen irdische Herrscher und Richter „Götter“, was der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf auf den ersten Blick zu widersprechen scheint. Der Gedanke dahinter ist aber immer der Folgende: Menschen in diesen Ämtern repräsentieren Gott in seinem Amt als oberster Herrscher und Richter. Psalm 82 macht nun beispielhaft deutlich, dass damit keineswegs eine Lizenz zum Streben nach göttlicher Allmacht verbunden ist, im Gegenteil. „Göttern“, also den menschlichen Richtern, wird zum Vorwurf gemacht, dass sie „unrecht richten“, dass sie den Armen und Schwachen kein Recht verschaffen. Sie tragen zwar den Ehrentitel „Götter“, aber „sie tappen im Finstern“ und werden einst zugrunde gerichtet. Dies zeigt, dass die Allmacht Gottes Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht der Menschen konstituiert. Weil die Mächtigen noch den Allmächtigen über sich haben, sind sie vor diesem verantwortlich.

Irdische Herrschaft, die ohne die Grenzmarkierung eines allmächtigen Gottes nur zu schnell entartet, wird in der Bibel vielsagend als „Gottes Dienerin“ (Röm 13,4) bezeichnet. Damit ist aber eben nicht ein gleichsam verlängerter Arm der göttlichen Allmacht gemeint. So wurde es auch in der Kirchengeschichte nicht gesehen – und hier müsste Graf eigentlich liefern: Wo haben denn christliche Herrscher göttliche Allmacht für sich in Anspruch genommen? Der Konsens war doch immer “under him over the people”, über Menschen, aber unter Gott, wie es im Westminster-Bekenntnis (28,1) heißt. Auch Calvin nennt Machthaber „Gottes Abgesandte“ oder „Gottes Statthalter“, die  deshalb aber einst „Rechenschaft ablegen“ müssen (Inst. IV,20,6).

Gott der Allmächtige ist niemandem Rechenschaft oder eine Antwort schuldig; Menschen schulden ihm eine Antwort und sind verantwortlich, Machtinhaber allzumal. Oliver O’Donovan aus Oxford: “The political doctrine that emerged from Christendom is characterized by a notion that government is responsible. Rulers, overcome by Christ’s victory, exist provisionally and on sufferance for specific purposes.” (The desire of the nations)

Die Rechenschaftspflicht der Herrschenden – Graf hätte hier eine die Religionen vergleichende Skizze liefern können und sollen. Sie hätte deutliche Unterschiede offenbart. Nur an einer Stelle in „Mord als Gottesdienst“ fällt sein Blick auf die richtige Spur: „Die religiöse Allmachtsvorstellung konnte aber auch dafür in Anspruch genommen werden, Machtansprüche absoluter Herrscher zu kritisieren und Begrenzung von Macht in einem System von ‘checks and balances’ einzuklagen.“ Genau! Leider verfolgte er diese Linie nicht.

Inkarnation statt Allmacht

Bei Graf ist damit der Rahmen vorbreitet für seinen konstruktiven Vorschlag: anstelle der Allmacht Gottes soll die Inkarnation ins Zentrum rücken. Dies liegt ebenfalls durchaus im Trend, man denke an den postmodernen Philosophen und Irgendwie-immer-noch-Katholiken Gianni Vattimo, für den die Selbsterniedrigung Gottes in der Menschwerdung und die Kenosis Angelpunkte seiner nachmetaphysischen Gottesvorstellung sind.

Graf nun in Götter global: Die „Vorstellung von der Menschwerdung Gottes bedeutet eine fundamentale Revolution der überkommenen religiösen Denkungsart. Denn Inkarnation meint: Gott negiert sich selbst, er wird zum anderen seiner selbst, er wird im Juden Jesus von Nazareth Mensch… Inkarnation heißt: Gott will gar nicht allmächtig, er will menschlich sein. Und das ist ein Satz, der den Machtfantasien der Herrschenden jede theologische Legitimität bestreitet.“ Und dann: „Wenn Gott selbst Mensch geworden ist, dann ist auch der Mensch neu definiert: nicht mehr als serviler Untertan eines allmächtigen Gottes, sondern berufen zur Freiheit.“

Meint Inkarnation von ihrem Wesen her wirklich, dass Gott sich „negiert“, sein Gottsein verleugnet? Graf sagt eindeutig: Gott will nicht – nicht mehr – allmächtig sein, er will nun menschlich sein. Das ist nur insofern wahr, dass er in Jesus Mensch werden wollte und in dieser Person während der Zeit auf Erden seine Allmacht nicht voll ausübte. Hier ist ja auch die „Entäußerung“, gr. kenosis, aus Phil 2,7 zu nennen. Graf baut hier jedoch einen Gegensatz auf, der in Bibel und Theologiegeschichte nicht zu finden ist. Die Inkarnation würde nur dann die Allmacht tatsächlich irgendwie abschwächen oder leugnen, wenn es nur eine Person in Gott gäbe. Dazu passt ja auch der letzte Satz: Bis zur Inkarnation war der Mensch „Untertan eines allmächtigen Gottes“, da Gott im Himmel saß; und nun ist dieser eben auf Erden, nur auf Erden; Gott ist zu „einem anderen“ geworden, und daher ist der Mensch nicht mehr Untertan.

Graf scheint also die trinitarische Theologie ganz aus dem Blick verloren zu haben. Und tatsächlich betont er ja, ob in TV-Sendungen, Artikeln oder Büchern (soweit ich das überblicke), praktisch immer nur, was die monotheistischen Religionen eint, ja er ebnet geradezu systematisch die Unterschiede zwischen ihnen ein. Aber der Glaube an den dreieinen Gott ist nun einmal das Hauptelement, das Christen von Juden wie Muslimen trennt.

Seltsam ist natürlich auch, dass ein Professor der Theologie hier einen scharfen Gegensatz von Allmacht und Erniedrigung Gottes aufbaut, der interessanterweise in vielen Jahrhunderten zuvor nicht so gesehen wurde. So betonte Luther 1520 in den Thesen zur Heidelberger Disputation: „So reicht es für niemand aus, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.“ (20) Aber dennoch hielt er „fest an Gottes Güte, an seiner Allmacht und zugleich an seiner Einheit – und zwar eben um der Gewissheit des Heils willen“ (O. Bayer, Martin Luthers Theologie). „Gott wirkt alles in allem. Nichts geschieht ohne ihn“, es ist „jene faktisch wirksame Macht, in der er alles in allem tut“ (Vom unfreien Willen).

„Weil Gottes alles bewegt und wirkt, bewegt und wirkt er notwendigerweise auch im Satan und Gottlosen“, so der Reformator. Das klingt heute äußerst provokant, erklärt aber, wie das Leben Jesu und das Geschehen am Kreuz unserem Heil dienen. Gott war am Kreuz der Ohnmächtige und Verlassene; schon in Bethlehem kam Jesus in Schwachheit auf die Erde, musste mit seinen Eltern vor einem Tyrannen der Zeit nach Ägypten fliehen. Doch Gottes Allmacht war nun ja nicht ausgeschaltet. In Ps 2,2 ist von den „Herrschern der Erde“ die Rede, die gegen den König oder Gesalbten Gottes vorgehen, also gegen den Messias, Jesus. Eine Erfüllung dieser Prophezeiung finden wir gerade in der Kindheit Jesu. Es sieht so aus, als ob der König auf dieser Erde, Herodes, der mächtigere ist – Jesus muss fliehen. Doch in V 4 des Psalms heißt es: „Doch der Herr im Himmel lacht, er spottet nur über sie“. Selbst der babylonische König Nebukadnezar, damals der mächtigste Mann der Welt, muss begreifen: Gott und nicht er ist der „höchste Herr“ (Dan 4,23). Der Messias ist eine Zeit Lang schwach und verfolgt, aber schon in Marias Lobgesang heißt es: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron“ (Lk 1,52).

In der Pfingstpredigt sagt Petrus, dass Heiden wie Juden für den Tod Jesu verantwortlich sind, sie haben ihn „ans Kreuz geschlagen und umgebracht“. Doch der Sohn Gottes wurde genauso „durch Gottes Ratschluss und Vorsehung dahingegeben“ (Apg 2,23). Gott handelte gerade am Kreuz unter Benutzung der sündigen Taten von Menschen eines Judas oder Pilatus. Gott kontrollierte die moralisch an sich verwerflichen Handlungen wie Verrat, verleumderische Anklage und Tod eines Unschuldigen, um das Opfer seines Sohnes geschehen zu lassen. Wie hätte solch ein perfekter Plan ausgeführt werden können, wenn Gott nicht mehr allmächtig gewesen wäre? Und was braucht es für eine Totenauferweckung, wenn nicht das Eingreifen eines Allmächtigen?

Heute wird oft skeptisch gefragt: Kann ein allmächtiger und allwissender Gott überhaupt ein gütiger und liebender Gott sein? Vor allem die Allmacht und Allwissenheit Gottes werden als einschränkend, sogar böse empfunden, eben als eine Macht, unter der der Mensch nur Untertan, nicht frei sein kann. So ja auch Graf. Die tatsächlich einzige Antwort ist das Kreuz, wo sich der der allmächtige und allwissende Gott als der liebende und gütige zeigt.

Einst so absurde, widervernünftige Lehren

Grafs Ausführungen in Götter global ruhen natürlich auf seinem Verständnis von Theologie, welches er in seiner Abschiedsvorlesung näher erläutert. Er will mitarbeiten am Projekt der „theologischen Aufklärung“, deren Stadien er dort skizziert. Seit mehreren hundert Jahren ist man sich einig darüber, „dass sich religiöser Glaube nun vor dem Richterstuhl der Vernunft zu rechtfertigen habe, dass nichts als gültig oder verbindlich mehr anerkannt werden soll, was sich nicht als rational stringent erweisen lässt.“

Er betont, dass „‘theologische Aufklärung’ ein grundlegend neues Selbstverständnis von Begriff und Aufgabe der Theologie“ bedeutet. Sie „soll nun gelehrte Deutung von Religion leisten“. Aus diesem Grund „ist Theologie nun keine Wissenschaft von Gott mehr, die aus Gott selbst stammende ewige Wahrheiten oder eine supranatural vorgegebene Offenbarung auszulegen hätte. Sie ist weiterhin keine dogmatische Reproduktion irgendeiner vorgegeben Kirchenlehre…“

Was ist dann die neue Aufgabe von Theologie? Sie „will nun entweder mögliche vernünftige Gehalte in den positiven Religionen entdecken oder aber die positiven Religionen zugunsten natürlicher Religion auflösen, also die alte Differenz von Glauben und Wissen zugunsten des Wissens einziehen. Das entscheidende Instrument dazu heißt Kritik, und diese Kritik vollzieht sich vor allem als Historisierung. Die biblischen Bücher seien kein überzeitlich gültiges ‘Wort Gottes’, einst diktiert vom Heiligen Geist, sondern wie alle anderen antiken Texte auch in ihrem kontingenten geschichtlichen Kontext zu lesen. Und auch Dogmenkritik bedeutet neben dem Hinweis auf die vielen inneren Widersprüche im überlieferten kirchlichen Dogma vor allem Historisierung, also eine Rekonstruktion der Kontexte und Konstellationen, die es verständlich machen will, dass Lehrer der Kirche einst so absurde, widervernünftige Lehren entworfen haben.“

In „Mord als Gottesdienst“ nennt Graf konkrete „glaubensmythische Vorstellungen, die derzeit religiöse Gewalt fördern“: „Prädestinationsglaube an die eigene Zugehörigkeit zu den von Gott selbst Erwählten, Geretteten; realistische Jenseitsbilder mit himmlischen Treueprämien für die Guten, Gerechten und ewigen Höllenstrafen für die Verdammten; theokratische Vorstellungen eines in allen Dimensionen des Lebens unbedingt bindenden, ewigen Gottesgesetzes und die daraus folgende Verschmelzung von Recht, Religion und Moral…“

Hier wird deutlich, dass Historisierung nicht mit Achtung vor der Geschichte, der Historie, verwechselt werden darf. Denn die in wilder Polemik vom Tisch gewischten Lehren sind ja lange, eben bis zur aufgeklärten Theologie, von den Kirchen hochgehalten worden.

Wie sie so viele seiner Kollegen teilt Graf gerne aus, und niemanden wundert es, wenn er im Kapitel „Die fundamentalistische Herausforderung“ von Götter global schreibt: „Die je eigenen religiösen Traditionen haben für Fundamentalisten den Rang einer nicht anzuzweifelnden Autorität.“ Ich wage zu bezweifeln, ob die Neukonfessionalisten, Bibeltreuen oder Evangelikalen (auch bei Graf weitgehend synonym mit Fundamentalist) wirklich an ihre Traditionen keinerlei Kritik heranlassen. Vor allem fragt man sich, wo die von Graf widerholt geforderte „Dauerreflexion“ bleibt: „Theologische Aufklärung ist in genau dem Maße gelungen, in dem sie zur Selbstanwendung fähig ist, also ihre kritische Dauerreflexion immer neu als selbstkritische Reflexion vollzieht.“

Die Dekonstruktion des eigenen Standpunktes und des eigenen Verständnisses von Theologie kann ich bei Graf nicht finden – auch wenn er „Nachdenklichkeit, Selbstreflexion“ gerne fordert. Das Mantra kennen wir ja: Bloß nicht zurück hinter das Reflexionsniveau der Aufklärung! Aber warum eigentlich nicht? War dort wirklich alles so widervernünftig? Es ist wohl absurderweise diese fehlende Selbstkritik, die Graf nicht auf den Gedanken kommen lässt, dass an seiner Kritik der Allmacht Gottes etwas falsch sein könnte.

(Bild o.: Graf in der „Peter Voß fragt“-Sendung auf 3Sat vom 15. September 2014)