Landes- und Freikirchen in Litauen?
Vor sechs Jahren traten wir von der „Freien christlichen“ über in die „Evangelisch-reformierte Kirche“ Litauens. Sind wir damit von einer Freikirche in eine Landeskirche gewechselt? Diese beiden Begriffe werden in Deutschland traditionell gebraucht und sind trotz des veränderten kirchenpolitischen Kontexts immer noch mehr oder weniger sinnvoll. In Litauen ist diese Aufteilung in dieser Form jedoch kaum zu gebrauchen.
In Deutschland bildeten sich während der Reformationszeit in den einzelnen Fürstentümern die Territorialkirchen. Vor allem im 19. Jahrhundert kam es dann zur Gründung von vielen völlig staatsunabhängigen und daher freien Kirchen. Die früher großen Kontraste zwischen Gemeinden vom Typus Landes- oder Freikirche sind teilweise schon sehr verflacht, aber es bleiben Unterschiede: Landeskirchen arbeiten meist immer noch nach dem Parochialprinzip (mehr oder weniger ‘alle’ in einem bestimmten Gebiet gehören zur Kirche) und werden durch die allgemeine Kirchensteuer finanziert.
Vergleichen wir direkt mit Litauen: Hier gibt es im Prinzip nur eine Landes-Kirche, d.h. nur eine Religionsgemeinschaft, die ein landesweites und dichtes Netz aus Ortgemeinden besitzt: die römisch-katholische. Aber auch sie ist laut Verfassung ausdrücklich nicht Staatskirche, vom Staat nicht als einzige grundsätzlich privilegiert und nicht durch Kirchensteuern finanziert. Insofern könnte man sagen, dass es in Litauen gar keine Landeskirchen gibt.
Neben den Katholiken haben auch weitere Gemeinschaften den von der Verfassung garantierten Rang einer „traditionellen Religion“ wie die Orthodoxen, Muslime und Juden. Auch die evangelisch-lutherische und die reformierte Kirche gehören zu diesen traditionellen Religionsgemeinschaften, d.h. sie sind seit Jahrhunderten in Land und Kultur verwurzelt. Das Gesetz über die Religionsgemeinschaften aus dem Jahr 1995 listet neun traditionelle Religionen konkret auf (durch die Aufteilung der jüdischen Gemeinschaft in Mitnagdim und Chasidim ergeben sich nun zehn). Überbewerten sollte man diese Liste und den Begriff „traditionell“ nicht, denn die Apostolische Armenische Kirche, die in Litauen zwei Gemeinden hat, ist zwar weltweit eine der ältesten Kirchen überhaupt, aber nicht „traditionell“ in dem baltischen Land.
Alle nichttraditionellen Kirchenbünde können – ebenfalls laut Verfassung und näher geregelt im Gesetz über die Religionsgemeinschaften – den Status einer „anerkannten Religionsgemeinschaft“ erwerben (in etwa vergleichbar mit einer deutschen „Körperschaft des öffentlichen Rechts“). 25 Jahre Wirksamkeit in Litauen sind die Grundvoraussetzung. Als erster erhielt ihn vor rund 15 Jahren der Baptistenbund. 2008 wurde er auch den Adventisten vom Parlament zugeteilt. Drei andere Kirchen sind im Prozess und warten auf den Fortgang des mitunter langwierigen Verfahrens. Das Justizministerium, das für die Registrierung von Religionsgemeinschaften zuständig ist, hat schon vor einer Weile positive Stellungnahmen zu den Methodisten und dem Pfingstbund vorgelegt. Diese Anerkennung erlaubt den Kirchen z.B. amtliche Trauungen vorzunehmen und nach Bedarf Religionsunterricht an Schulen zu geben; Geistlichen wird vom Staat ein Grundbetrag zur Sozialversicherung gezahlt. „Traditionelle“ und „anerkannte“ Gemeinschaften sind die historischen Kirchen des Landes und insofern alles Landeskirchen.
Faktisch kommt es allein durch die große Zahl der Katholiken (77% der Einwohner) gewiss zu einer gewissen Bevorzugung. Viele katholische Bischöfe unterhalten gute Beziehungen zu Politikern und werden auch von Beamten auf lokaler Ebene gerne eingeladen, um Anlässen einen religiösen Touch zu geben. Übertragungen von Fernsehgottesdiensten sind allermeist natürlich aus einer katholischen Kathedrale. Im Aufsichtsrat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sitzt laut Gesetz allein ein Vertreter der katholischen Bischofskonferenz – einer der wenigen konkreten Punkte einer klaren Bevorzugung. Der Fairness halber muss aber hinzugefügt werden, dass der derzeitige Vertreter, ein Journalist aus Kaunas, sein Amt recht ökumenisch ausübt: im Winter bat er die reformierte Kirchenleitung ausdrücklich um Mitteilung der eigenen Anliegen, damit er diese im Rundfunkrat einbringen könne.
Allgemein gilt jedoch, dass die katholische Kirche es leichter hat, für ihre Zwecke staatliche Geldmittel zu organisieren. Vor einigen Jahren brauchte Kardinal Bačkis die Regierung nur um Finanzhilfe für das große Taizé-Treffen in Vilnius zu bitten, und prompt bewilligte diese 300.000 Litas (knapp 100.000 Euro) – für litauische Verhältnisse viel Geld. Nicht zuletzt wegen ihrer Größe unterhält die Kirche auch zahlreiche Kaplane in Militär, Hochschulen und Krankhäusern. Diese Möglichkeit der Betreuung haben aber auch alle traditionellen und anerkannten Religionsgemeinschaften. In den beiden vergangenen Jahren unterzeichnete die reformierte Kirche mit den entsprechenden Ministerien Übereinkommen zur Seelsorge im Gesundheitssektor und in den Streitkräften.
Zu beachten ist schließlich, dass auch die beiden traditionellen evangelischen Kirchen in mancher Hinsicht ‘freikirchlich’ arbeiten. Nur selten haben sie eng abgesteckte Pfarrbezirke, und wie deutsche Freikirchen finanzieren sie sich direkt durch Mitgliedsbeiträge und Spenden der Gläubigen. Der Gottesdienstbesuch ist meist höher als in den deutschen 3-5%-Besucher-Kirchen. Aber auch hier gilt: alle Getauften (und Konfirmierten) sind Mitglied. So sieht man auch in Litauen nicht wenige Evangelische nur bei den Festtagen in der Kirche. Erreicht eine Kirche ein Alter von einhundert und mehr Jahren, wird es für sie oft nicht leicht, all ihre Mitglieder zu aktivieren. Doch Methodisten, Baptisten und Pfingstler – seit langem in Litauen wirksam – ringen ebenfalls mit dieser Herausforderung.
Zusammenfassend ergibt sich im Hinblick auf die kirchliche Landschaft folgendes Bild: eine nationale Kirche, die rein rechtlich zwar in einer Reihe mit anderen traditionellen Religionen steht, aufgrund ihrer Größe und historischen Bedeutung faktisch in gewisser Weise privilegiert ist – die römisch-katholische; die beiden traditionellen evangelischen Kirchen mit einer Geschichte von über 450 Jahren; die anerkannten Bünde, die seit Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts in Litauen existieren; und als vierte Gruppe die jüngeren Gemeinden oder Gemeinschaften, die ab Ende der 80er Jahre entstanden. Es gibt in Litauen daher nicht die Aufteilung in Landes- und Freikirchen, sondern die eine Kirche, die katholische, und alle anderen oder eben die historischen Kirchen und alle jüngeren.
Kirche und Staat sind in Litauen nicht so streng getrennt wie z.B. in den USA. Andererseits kann von einer systematischen Diskriminierung oder massiven Benachteiligung auch keine Rede sein. Einzig die katholische Kirche hat einen Vertrag (Konkordat) mit dem Staat unterzeichnet, aber nichts hindert die traditionellen evangelischen Kirchen, ebenfalls ihre Beziehung zur Obrigkeit näher zu regeln; lutherische und reformierte Kirche arbeiten daran. Die „anerkannten“ Kirchen sind den traditionellen in vielerlei Hinsicht gleichgestellt, nutzen dieses Potential aber nicht immer. Über den jüngeren Kirchen schwebt immer noch das Etikett „Sekte“, aber dies ist vor allem ein Problem der religiösen Bildung und Kultur. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2012 fühlen sich etwa 80% der christlichen wie nichtchristlichen jungen Religionsgemeinschaften diskriminiert und zwar, wen wundert’s, von der katholischen Kirche. Es wäre aber im Einzelfall zu prüfen, wo konkrete Rechte verletzt werden und wer dafür verantwortlich ist. Meist ist nicht die Kirche schuld, sondern unwissende Katholiken in Schulen, Medien und Verwaltung.
Evangelische sollten hier nicht vorschnell der katholischen Kirchen den schwarzen Peter rüberschieben. Ein Hauptproblem ist, dass die nichtkatholischen Religionsgemeinschaften allgemein nicht alle Hausaufgaben machen. Angesichts einer allein schon zahlenmäßig und kulturell dominierenden Konfession müssten alle anderen sich in verschiedenen Weisen organisieren – und hier ist so gut wie nichts zu sehen. Es gibt in Litauen keinen Rat der Religionen als allgemeine Interessensvertretung beim Staat, auch keine Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen wie in Deutschland, einen ökumenischen Rat so gut wie aller Kirchen. Letzterer wäre natürlich zuerst im Interesse der Evangelischen, aber sie zeigen hier bisher keinerlei Initiative. Eines der großen Probleme in Litauen ist, dass ein gemeinsames evangelisches Bewusstsein nur in Ansätzen existiert und daher koordiniertes Handeln fehlt. Zwischen traditionellen und nichttraditionellen Evangelischen ergeben sich kaum Berührungspunkte. Bis heute gibt es abgesehen von Treffen evangelischer Pastoren in manchen Städten kein Forum, wo sich Evangelische der unterschiedlichen Prägungen treffen; eine Evangelische Allianz hat sich auch noch nicht gebildet. Die katholische Kirche verfolgt ihre Interessen und versucht diese natürlich auch durchzusetzen – welche gemeinsamen Interessen verfolgen die Protestanten?
Leider fallen die Lutheraner in letzter Zeit als Katalysatoren der evangelischen Zusammenarbeit weitgehend aus. Bischof Sabutis verfolgt einen Schmusekurs mit der katholischen Kirchenleitung. Katholiken, Orthodoxe und Lutheraner bilden schon eine Weile einen eigenen ökumenischen Kreis. Hoffnung macht hingegen, dass unsere reformierte Kirche Schritte in Richtung der jüngeren Gemeinschaften macht. Am Evangelischen Bibelinstitut arbeiten Protestanten aus einem breiten kirchlichen Spektrum zusammen. Und mit dem New City Catechism liegt nun erstmals ein gemeinsames Dokument von recht unterschiedlichen evangelischen Kirchen, einer sehr alten und zwei recht jungen, vor.
(Bild o.: Ordination eines lutherischen Pastors in der Kirche in Vilnius durch Bischof Sabutis)