Akzeptanz – die bessere Toleranz?
Das irische Referendum zur „Homo-Ehe“ hat einmal wieder die Toleranz zum Tagesthema werden lassen. Und nun ist auch noch evangelischer Kirchentag in Stuttgart, der sich seit Jahrzehnten – ganz tolerant – einer breiten Meinungsvielfalt verschrieben hat. Die gerade erschienene Ausgabe des Magazins „Wir“ (4/2015), herausgegeben vom Gnadauer Verband, beschäftigt sich ebenfalls schwerpunktmäßig mit der Toleranz.
„Nur Dulden ist nicht gemeint“
In der Zweimonatsschrift des deutschen pietistischen Dachverbandes kommt auch Steffen Kern zu Wort, der den Evangelischen Gemeinschaftsverband Württemberg leitet (kurz „die Apis“ nach dem früheren Namen „Altpietisten“). Sein Beitrag „Tolerant mit Überzeugung“ ist im Internet frei zugänglich. Der Journalist und Theologe erläutert darin, warum er „ein Überzeugungsliebender sein will und für ein Christsein mit weitem Herzen werbe“.
Kern geht eingangs auf die aktuelle Diskussion ein („Toleranz ist in aller Munde. Nicht nur ein Mode-Wort, sondern ein Mode-Wert“) und schildert die zwei polaren Positionen, die für ihn aber beide „fragwürdige Haltungen“ widerspiegeln: auf der einen Seite die relativistische Beliebigkeit derjenigen, die „die Toleranz, Akzeptanz und Vielfalt regelrecht verfechten und als das Dogma der Postmoderne preisen“; auf der anderen Seite Christen, die „immer wieder als Kritiker des allgemeinen Toleranz-Gebotes“ auftreten, „ Infrage-Steller der Vielfalt“. In dieser zweiten Gruppe sieht Kern die Gefahr, dass man sich in der „gut eingerichteten Bürgerlichkeit“ von der Welt abkapselt, „gelegentlich auch in unerträglicher Polemik“ und „gegen sexuelle und religiöse Vielfalt, aber auch gegen allzu viele Flüchtlinge und den Islam argumentiert, polemisiert oder demonstriert“.
Anschließend skizziert Kern kurz die „Gründe“ und „Abgründe“ der beiden Seiten. Ganz richtig bemerkt er: „Die ach so toleranten Vertreter der Vielfalt werden ganz schnell intolerant und verdrehen jede Infragestellung einer Position zu einem vermeintlichen Angriff auf ihre Freiheit.“ Im Lager der Christen, das ja das eigene der Pietisten ist, bemängelt er eine fehlende „Vision für eine Gesellschaft der Postmoderne. Man kann Vielfalt ja beklagen, aber sie ist da. Es gibt nun einmal die vielen, die anders denken, glauben und leben als wir… Wie aber können wir mit so vielen verschiedenen Menschen zusammen leben?“
Nach diesen Einleitungsfragen kommt Kern zum Begriff Toleranz, der sich ableitet „vom lateinischen Wort ‘tolerare’, was zunächst ‘erdulden’ oder ‘ertragen’ bedeutet.“ Weiter führt er aus: „Manchmal wird argumentiert, eine als Duldung verstandene Toleranz könne man mittragen als Christ. Man dulde halt ‘die Anderen’, man ertrage sie eben, die Fremden, die anders leben, glauben, lieben, denken, reden, riechen und anders aussehen. Aber nur Dulden ist nicht gemeint – weder mit dem allgemeinen Begriff der Toleranz, wie er heute verwendet wird, und schon gar nicht mit einer Toleranz, die das Neue Testament nahelegt.“
Hier wird es natürlich interessant. Toleranz bedeute „zunächst“ Duldung, doch „nur“ Ertragen solle nicht gemeint sein. Gewiss stimmt es, dass mit Toleranz – so wie der Begriff „heute verwendet wird“ – etwas anderes gemeint ist, ‘mehr’ als bloße Duldung. Das ist ja gerade das Kernproblem des postmodern-relativistischen Verständnisses. Aber wie ist dieses Verständnis zu bewerten? Nach Kern ist es hier ja ein Zeuge gegen die Toleranz im Sinne einer bloßen Duldung. Der zweite Zeuge ist die Toleranz, „die das Neue Testament nahelegt“. Und welche legt das Neue Testament nahe?
„Echte Toleranz“
Man ist nun sehr gespannt, auf welche Weise Kern die in seinen Augen richtige christliche Toleranzauffassung darstellt. Die nächste Überschrift lautet „Toleranz drängt zur Akzeptanz“. Er zitiert Goethe und schreibt danach: „Echte Toleranz dränge zur Akzeptanz, zur Anerkennung der Gleichberechtigung aller Einzelnen samt ihrer Lebensentwürfe. Diese moderne Toleranzidee wäre ohne die Reformation nicht denkbar. Sie wurde säkularisiert und im Zuge der Aufklärung von vielen geformt…“ Kern nennt Namen wie Locke, Voltaire und Lessing. „Bei allen Unterschieden im Detail plädieren sie alle für die Annahme des Einzelnen und von gesellschaftlichen Gruppen.“
An dieser wichtigen Stelle ist solch eine Skizze des Toleranzbegriffs leider ganz unzureichend, weil auch viel zu unpräzise. Echte Toleranz dränge zur Akzeptanz – warum drängt sie nicht? Gibt hier Kern seine Auffassung wider? Die Überschrift selbst und der Tenor des Absatzes wie auch das Folgende bekräftigen dies. Auch die Nennung der Reformation macht ja deutlich, dass die „moderne Toleranzidee“ im Grunde etwas Gutes ist. Und im Grunde sei man sich auch einig: Annahme und Anerkennung des Einzelnen. Ist damit aber der klassisch zu nennende Toleranzbegriff richtig umschrieben? Ich glaube kaum. Für den Leser wird nicht klar, warum nun „echte“ Toleranz mehr als Duldung sein soll.
Der folgende Absatz sei nun vollständig zitiert: „Als Christen können wir zumindest diesen einen Punkt nur unterstreichen: Wir dulden die Anderen nicht nur. Wir tragen sie, ertragen sie, respektieren und achten sie. Wir übernehmen nicht ihre Positionen, aber wir akzeptieren sie als Personen. Diese Unterscheidung zwischen Person und Position ist entscheidend. Wir nehmen sie als Menschen an, wie sie sind, auch wenn wir bestimmte inhaltliche Positionen, die sie vertreten, hinterfragen und kritisieren. Wenn es um Toleranz und Akzeptanz von Menschen geht, dann müssen wir Christen Vorreiter sein. Denn uns geht es noch um mehr: Uns ist Liebe aufgetragen. Nächstenliebe, ja sogar die Feindesliebe. Das ist ein Gebot unseres Herrn. Das ist die Herzenshaltung derer, die wissen, dass sie vom Erbarmen und der Liebe des lebendigen Gottes leben. Echte Toleranz ist Liebe.“
In den Sätzen in der Mitte erläutert Kern das klassische Toleranzverständnis: wir tolerieren oder dulden Personen, aber nicht unbedingt Positionen, Lehren, Sachaussagen; Personentoleranz – ja, Sachtoleranz – nein. Leider wird nicht deutlich, dass dies nicht der allgemeine Begriff der Toleranz ist, „wie er heute verwendet wird“. Unklar bleibt auch, was in dem Zusammenhang die Sätze davor bedeuten sollen. Noch einmal betont er: „Wir dulden die Anderen nicht nur“, und dann kommen Verben, die doch gerade das Dulden umschreiben bzw. damit eng verbunden sind: ertragen, achten, respektieren. Was ist denn nun das mehr der Akzeptanz im Kontrast zur bloßen Toleranz? Warum Toleranz und Akzeptanz?
Toleranz und Liebe
Als evangelikaler Christ ahnt man es natürlich. „Uns ist Liebe aufgetragen“. Dem ist in keiner Weise zu widersprechen. Doch die Spitze des Absatzes macht das ganze Dilemma deutlich: „Echte Toleranz ist Liebe“. Das klingt ja nett und ist in gewisser Hinsicht natürlich wahr: echte Toleranz kann Ausdruck von Liebe sein; und fehlende Toleranz ist in jedem Fall lieblos. Doch um es einmal überspitzt und provozierend zu formulieren: die wahre Toleranz ist vor der Liebe zu bewahren. Beide sollten nicht miteinander vermischt werden, und genau das ist Kerns Schwäche.
Warum ist dies so wichtig? Wären alle Menschen wahre Christen, gäbe es kein großes Problem. Wie Luther ja darstellte, bräuchten wir dann vieles eigentlich nicht: keine Polizei, keine Gerichte, keinen strafenden Staat, und auch keine Toleranz. Denn Christen haben tatsächlich viel mehr an Motivation als nur Duldung. Toleranz ist aber das allgemeine Grundgebot einer ganzen Gesellschaft, also auch Nichtchristen einschließend, und salopp formuliert lautet es einfach so: geh dem Mitbürger nicht an die Gurgel, auch wenn er oder sie etwas anderes glaubt, anders denkt, ja falsch glaubt und falsch denkt. Dies kann von allen verlangt werden; ein solch allgemeines Liebesgebot gibt es dagegen nicht. Und das aus gutem Grund. Ich will von allen toleriert und geachtet werden, aber ich will nicht von allen geliebt werden.
Um es eindeutig festzuhalten: Echte Toleranz ist Duldung und nichts anderes. Die Beimischung von Liebe macht aus einer vermeintlich unvollkommenen Toleranz nicht wahre Toleranz. Es ist ja gerade die Stärke des klassischen Toleranzbegriffs, dass er ohne die Liebe auskommt. Egal, ob du den Nächsten liebst, ihn hasst oder ihm gegenüber gleichgültig bist – dulde ihn, geh ihm nicht an die Gurgel, lass ihn seine Meinung, die du für Unsinn hältst, frei vertreten.
„Das Ziel muss echte Akzeptanz sein“
Bei Kern ist nun leider der Wurm in der Argumentation. Die Haltung „Wir tolerieren euch, aber wir akzeptieren euch nicht“ nennt er „gleichgültig, geradezu zynisch und letztlich lieblos“. Dies mag ja sein, aber das Problem ist doch der schrecklich schwammige Begriff der Akzeptanz, der die Darstellung dieser Haltung entstellt. Er leitet sich vom lat. „accipere“ für gutheißen, annehmen, billigen ab. Ist damit die Anerkenntnis als Person gemeint, sollte man lieber von Toleranz sprechen (dann würde auch deutlich, was Kern sicher auch kritisieren will: Wir tolerieren euch, aber wir tolerieren euch tatsächlich doch nicht, d.h. wir wollen euch als Personen nicht als Nachbarn, in unserer Stadt, in unserem Land). Allerdings ist dieses eher passive Dulden vielen wie auch Kern ja zu wenig. Bei Akzeptanz schwingt nun aber positiv mit, dass man mit jemandem einverstanden ist, ein gemeinsames Verständnis hat, also ein zustimmendes Werturteil abgibt.
Kern versucht die Kurve zu bekommen und knüpft wieder an der Tatsache der Vielfalt an: „Viele Menschen sind da, die anders sind als wir, und damit Menschen, die Gott zu uns sendet, damit wir sie respektieren, achten, aufnehmen, annehmen und lieben, ihnen dienen und ihnen so das Evangelium bezeugen. Dabei wird die Liebe auch immer wieder Nein sagen in der Sache. Einen Menschen zu akzeptieren, bedeutet dabei nicht, jede seiner Lebenshaltungen und Lebensformen als in gleicher Weise orientierend und normgebend für die Gesellschaft anzuerkennen. Die Akzeptanz sexueller Vielfalt etwa stellen wir als gesellschaftliche Leitidee in Frage. Aber dieses Nein hebt das Ja zur Person nicht auf.“
Kern berührt hier das Zentrum der aktuellen Debatten. „Nein sagen in der Sache“ muss weiter möglich sein, denn Positionen unterscheiden sich, s.o. Der dann folgende Satz ist in seiner genauen Formulierung aber vielsagend. Einen Menschen akzeptieren wir; was anerkennen wir damit nicht? Seine „Lebenshaltungen und Lebensformen“ sind nicht, so Kern, „in gleicher Weise orientierend und normgebend für die Gesellschaft“. „Die Akzeptanz sexueller Vielfalt etwa stellen wir als gesellschaftliche Leitidee in Frage. Aber dieses Nein hebt das Ja zur Person nicht auf.“
Kern hat hier die gleichsam letzte Rückzugslinie der Frommen beschrieben, und er lässt damit erkennen, wohin es führt, wenn man sich erst einmal auf das Akzeptanz-Gebot einlässt. Wir sollen Menschen also akzeptieren, annehmen usw., so lange sie uns ihre gesellschaftlichen Leitideen nicht überstülpen. Lassen wir aber einmal diese Ideen für die Gesellschaft beiseite. Nehmen wir einmal an, ein Homosexueller will gar nicht normgebend für andere, schon gar nicht die Gesellschaft sein. Er will einfach seine sexuelle Orientierung ausleben, mehr nicht. Ist es mit dem Geist „echter“ Toleranz vereinbar, so jemandem zu sagen, dass er in Sünde lebt? Er persönlich?
Das nun allgemeine Verständnis von Akzeptanz lässt dies ganz sicher nicht zu. Praktizierte Homosexualität darf nicht als Sünde verurteilt werden. „Das Ziel muss echte Akzeptanz sein“, so selbst der hessische Kirchenpräsident Jung vor ein paar Jahren. Immer wieder heißt es: Schwule, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuelle haben ein Recht auf gesellschaftliche Akzeptanz. Ihr Lebensstil sei also gutzuheißen und „positiv zu würdigen“.
Kern führt seine Leser also unnötigerweise aufs Glatteis. Die Erweiterung der guten alten Toleranz um die liebevolle Akzeptanz wird nichts bringen. Die ideologischen Gegner werden nicht eher ruhen, bis die volle Akzeptanz erreicht ist. Die einzig klare Position scheint mir daher diese zu sein: ja, wir tolerieren im Sinne von Duldung; nein, wir akzeptieren diese und jene Positionen nicht, und ja: auch diese und jene persönliche Moralvorstellung nicht. Denn gerade hier stiftet Kern ja große Verwirrung: als ob die Moral erst auf der Ebene der „gesellschaftlichen Leitideen“ ein Thema würde, ein Thema, bei dem man seinen Mund aufmachen müsste. Moral ist im Kern immer persönlich und individuell. Und daher ist die Frage der ethischen Einordnung z.B. der Homosexualität nicht elegant zu umgehen. Entweder ist sie eine persönliche Verfehlung, objektiv falsch und moralisch verwerflich, oder eben nicht. Und wenn sie auf der persönlichen Ebene OK ist, was soll dann noch gegen die Akzeptanz sexueller Vielfalt als gesellschaftlicher Leitidee einzuwenden sein?
Sentimentalisierte Toleranz
Einen Lösungsansatz skizziert Kern: „Zuerst sollen die Menschen von uns Respekt und Barmherzigkeit erfahren und dann, wenn eine Beziehung da ist und ein offenes Ohr, eine Wegweisung. – Mal ehrlich, machen wir es nicht oft andersrum?“ Darin steckt natürlich Wahrheit. Es ist meist unweise, wenn man anderen seine Meinung einfach nur um die Ohren haut. Respekt und Barmherzigkeit sind grundsätzlich und immer gefordert. Aber kann diese klare Nachordnung (erst „dann, wenn“) der „Wegweisung“ biblisch gerechtfertigt werden? Wegweisung ist eine der Übersetzungen des hebräischen Wortes tora, oft auch als „Gesetz“ widergegeben. Ist die Verkündigung des Gesetzes, der moralischen Maßstäbe Gottes, wirklich nachzuordnen? Je nach Situation kann dies natürlich angemessen sein. Aber darf es nicht auch mal andersrum sein? Die festgeschriebene Reihenfolge ist nicht reformatorisch und auch nicht biblisch. Paulus verband in seinen Predigten immer Respekt mit klaren Wegweisungen, und im evangelistischen Kontext lautete die erste: tut Buße!
Etwas böse formuliert könnte man Kerns Vorstellung als „sentimentalisierte Toleranz“ bezeichnen, nette Toleranz, Toleranz mit Zuckerguss. Dazu passen die Stichworte Friede und Liebe, Gespräch und Annahme. Die kämpferische Lexik fehlt vollständig, obwohl auch sie kaum weniger ein biblisches Fundament hat. Man kann sogar sagen, dass der Kampf im Zentrum der wahren Toleranz steht: sie verlagert das Gemetzel von Menschen auf Ideen; Menschen sollen sich gegenseitig dulden, aber geradezu intolerant um Ideen kämpfen.
Dies ist eine Kernvorstellung des politischen Liberalismus. Nach den schrecklichen Erfahrungen der Religions- und Bürgerkriege in der frühen Neuzeit verlagerte sich die Auseinandersetzung immer mehr in die Parlamente. Dort geschieht ein fortwährender Krieg der Worte. Auch Christen können Ludwig von Mises (1881–1973) nur beipflichten: „Den Kampf gegen das Dumme, das Unsinnige, das Irrige, das Böse führt der Liberale mit den Waffen des Geistes und nicht mit roher Gewalt und Unterdrückung.“ (Liberalismus) Der große Ökonom betonte, dass alles, was in unserer sozialen Welt geschieht, die Folge von Ideen ist, Gutes wie Böses. Daher ist die Bekämpfung von schlechten Ideen nötig. „Wir müssen falsche Ideen durch bessere Ideen ersetzen… Ideen und nur Ideen können Licht ins Dunkle bringen.“ (Economic Policy: Thoughts for Today and Tomorrow)
„Ideen sind ihrer Natur nach intolerant, auch sogenannte liberale Ideen“, so auch der katholische Philosoph Robert Spaemann. Denn sie sind entweder wahr oder falsch. „Menschen dagegen können und sollen im Umgang mit Menschen, die andere – ihrer Meinung nach falsche – Ideen haben, tolerant sein. Denn nur so können sich Ideen mit anderen Ideen messen… Der Kampf der Ideen gehört zu jeder freien Gesellschaft.“ (Das unsterbliche Gerücht) Toleranz bedeutet also, dass der andere Mensch geduldet wird, damit er oder sie seine Ideen frei vorbringen kann.
Ähnlich drückt sich übrigens auch Jürgen Habermas aus. „Tolerierung ist zuerst dann notwendig, wenn man die Überzeugungen von anderen ablehnt: Wir brauchen nicht tolerant sein, wenn wir dem Glauben und den Ansichten anderer gleichgültig oder indifferent gegenüber stehen“ (Intolerance and Discrimination). „Missionarische Religionen wie das Christentum und der Islam sind in ihrem Wesen intolerant gegenüber anderen Glaubenssystemen“, so der Philosoph und Soziologe. Mit „intolerant“ meint er den erwähnten Kampf der Ideen. Habermas spricht hier auch von einem „kognitiven Konflikt“ – diese Konflikte von Ideen sind gut, die physischen von Menschen nicht.
Christen sollten ihre Ideen, die Wahrheiten der Bibel und des Glaubens, nicht nur bezeugen, sondern auch dafür kämpfen. Wer sagt denn, dass unsere Wahrheiten „sich nur bezeugen“ lassen, wie Kern meint? Verkündigung hat natürlich immer Zeugnischarakter, aber die Frage ist doch, ob sie sich darin erschöpft. Beim Begriff Bezeugen schwingt eben das „ich persönlich glaube das für mich“ mit, so dass jedes kämpferische oder ‘aggressive’ Element fehlt. Man macht nichts falsch, wenn man bezeugt, aber ist dies auch alles? Es fehlt nicht mehr viel, und evangelikale Christen werden in den heißen Debatten um sexuelle Vielfalt bloß noch die Zufriedenheit mit ihrem heterosexuellen Lebensstil bezeugen.
Die Toleranz der Evangelikalen
Kern sagt in seinem Artikel viel Richtiges und wirft so manche ernste Frage auf, doch in der Summe enttäuschen seine Sätze. Orientierung in dieser äußerst wichtigen Frage geschieht kaum. Nun kann es sein, dass andere Beiträge in der „Wir“-Nummer, die mir gedruckt nicht vorliegt, andere Akzente setzen und gleichsam das Bild vervollständigen. Allerdings muss man da skeptisch sein, wenn man Rolf Krügers Ausführungen für die Ausgabe liest (hier zitiert). Dieser endet wie folgt: „Ich glaube, am Ende bedeutet Toleranz für Evangelikale, trotz aller guter Erkenntnis darauf zu vertrauen, dass Gott vor allem eines will: dass wir dem Anderen liebevoll begegnen und wie Jesus für ihn kämpfen. Und dass – wenn unsere Erkenntnis dem eigentlich entgegensteht – bei Gott dann trotzdem gilt: Das Höchste aber ist die Liebe.“ Auch hier kommt die Sahne der Liebe obendrauf, und hier bedeutet Toleranz auf einmal, dass wir „wie Jesus“ für den anderen kämpfen. Vom Kampf der Ideen natürlich keine Spur. Denn auch hier wird die klassische Duldungstoleranz zur liebevollen Begegnung erweitert, damit jedoch nur Verwirrung gestiftet.
Krüger, jesus.de-Redakteur, kennt „viele enorm Tolerante unter den Evangelikalen, ich kenne auch welche, denen es schwer fällt, andere Meinungen zu akzeptieren.“ Und wieder sind wir eingangs gleich auf dem Glatteis. Was bedeutet es, andere Meinungen zu akzeptieren? Ist damit gemeint, dass wir Überzeugungen in dem Sinne achten, dass wir Menschen sie äußern und verteidigen lassen? Dann kann man dem nur zustimmen – Personentoleranz eben; ich verbiete anderen nicht den Mund. Meinungen akzeptieren meint jedoch, so wie es eben dasteht, Meinungen billigen, gutheißen, ihnen zustimmen. Ich stimme nun jedoch z.B. nicht der Meinung der katholischen Geschwister zu, dass der Papst der Stellvertreter Christi auf Erden ist; dass die Taufe die Wiedergeburt bewirkt und dass Christus in der Hostie leibhaftig gegenwärtig ist. Ein Protestant lehnt diese Lehren als falsch ab, akzeptiert es überhaupt nicht, toleriert Katholiken jedoch in dem Sinne, dass er sie dies glauben, lehren und verbreiten lässt.
„Evangelikale tendieren zu Klarheit und meiden Diffusion“, so Krüger weiter. Die „Sehnsucht nach Eindeutigkeit“ ist eine Stärke, „aber es bedeutet auch, dass Standpunkte und Überzeugungen enorm wichtig werden. Mit einer Aufweichung von Prinzipien tun sich Evangelikale schwer – vor allem, wenn sie darin Gottes Handschrift erkennen. Und so erlebe ich bei evangelikalen Geschwistern häufig die feste Überzeugung, dass etwas Bestimmtes einfach falsch ist und Menschen schadet. Gewonnen aus der Bibel hat eine solche Überzeugung eine große Kraft.“ Sätze, die von einer gewissen Herablassung gekennzeichnet sind. Man mache sich jedoch klar, dass Christen seit Jahrtausenden ihre festen Überzeugungen, Prinzipien, Lehrwahrheiten aus der göttlichen Offenbarung gewonnen haben. Von dort kam und kommt die Kraft des Christentums. Wieso sollte es ein Problem sein, wenn Standpunkte „enorm wichtig“ werden? Krüger sägt hier nicht nur am Baum der evangelikalen Strömung, sondern an dem des Christentums.
Krüger stellt dar, dass man inzwischen bei Fragen wie „Taufe, Abendmahl, Liturgie oder dem Verständnis des Amtes“ Vielfalt als Geschenk ansieht. „Bei anderen Themen geht es rauer zu – bei sexuellen Fragen oder dem richtigen Verständnis des biblischen Texts. Wenn Menschen dann erleben, dass sie aufgrund einer bestimmten Überzeugung oder ihrer sexuellen Ausrichtung aus der Mitte der Gemeinde gedrängt und als Christen infrage gestellt werden, dann wird aus dem Akt der Liebe ganz schnell – und ungewollt – ein Akt der Aggression.“
Hier haben wir den ganzen Salat. Das Toleranzliebeannahmegebot entfaltet seine Wirkung. Wer in den Gemeinden Linien zieht, irgendwelche Linien, dem wird Intoleranz, Lieblosigkeit, ja sogar Aggressivität vorgeworfen. In dem heutigen Begriffschaos, das auch von Christen kaum bereinigt wird, verwundert dies schon nicht mehr. Daher ist festzuhalten: Ich bin für Pluralität, für Toleranz, vehement sogar, Toleranz ist ein allgemeines Gebot. Toleranz im Sinne der Duldung in der Gesellschaft. Wenn wir die Versuchung, den Drang, spüren, etwas zu unterdrücken oder eben genauer: jemandem den Mund zu stopfen, weil uns eine Position nicht schmeckt, dann ist Toleranz gefordert. In der Kirche dagegen müssen „bestimmte“ Lehren bekämpft werden, Irrlehren wie die Trinitätsleugnung (wer sie leugnet, ist nach dem Athanasium kein Christ). Ja, Festhalten an gewissen Irrlehren und dauerhaftes und nichtkorrigiertes schweres Fehlverhalten schließt aus der Gemeinde aus. Irrlehrern in der Kirche soll der Mund gestopft werden. In der Kirche gibt es keine unendliche Lehrvielfalt. Insofern hat die Kirche von Anfang an einen intoleranten Zug. Nur darf man gegen die Wölfe im Schafspelz und die unbußfertigen Sünder nicht mit physischer Gewalt und Aggression vorgehen. Die einzige ‘Gewalt’ der Kirche ist Disziplin wie der Ausschluss vom Abendmahl und zur Not der Ausschluss aus der Gemeinde. Außerhalb der Kirche – entsprechend der allgemeinen Duldung – darf aber jeder jede Häresie verkündigen und ist das bürgerliche Recht dazu auch von Christen zu verteidigen.
Zeit zum Aufstehen
Im vorletzten Herbst bemerkte Augustinus-Experte Kurt Flasch im „Spiegel“: „Die Christenheit von heute badet gern in einer Rhetorik der Liebe. Gottes Liebe wird in Zusammenhänge gestellt, in die sie argumentativ nicht gehört.“ (43/2013) Die Toleranz ist ein Beispiel.
Die Liebe gehört in einen wichtigen Zusammenhang: der Einsatz für verfolgte Geschwister. Und diese Verfolgung beginnt nicht erst mit brutaler Unterdrückung durch Waffengewalt wie nun im Nahen Osten. Vor gut zehn Jahren, im Herbst 2004, konnte der bekennende Katholik und Christdemokrat Rocco Buttiglione sein Amt in der EU-Kommission nicht antreten, weil er bei einer Anhörung diese Sätze sagte, die im Übrigen die klassische, auch christliche Toleranzauffassung widergeben:
„Viele Dinge, die nicht verboten werden sollten, können als unmoralisch angesehen werden. Wenn wir Politik machen, verzichten wir nicht auf das Recht moralischer Überzeugungen, und ich mag denken, dass Homosexualität eine Sünde ist, und das hat keinerlei Auswirkung auf die Politik, außer ich würde sagen, dass Homosexualität ein Verbrechen ist. Auf die gleiche Art sind Sie frei zu denken, dass ich in den meisten Bereichen des Lebens ein Sünder bin, und das hat keine Auswirkung auf unsere Beziehungen als Bürger… Wir können eine Gemeinschaft der Bürger aufbauen, selbst wenn wir in manchen moralischen Fragen unterschiedlicher Meinung sind. Der Staat hat kein Recht, seine Nase in diese Dinge zu stecken und niemand darf auf der Basis seiner sexuellen Orientierung oder irgendeiner geschlechtlichen Orientierung diskriminiert werden. Das steht in der Charta der Grundrechte, das steht in der Verfassung und ich habe mich dazu bekannt, diese Verfassung zu verteidigen.“
Ein Sturm der öffentlichen Entrüstung zog damals über den Italiener her. Die Vorstellung, dass praktizierte Homosexualität Sünde sein könnte (man beachte, wie vorsichtig Buttiglione sich ausdrückte), ist zu einem Tabu geworden. Die klassische Toleranz hat sich verflüchtigt. Wer ist dem Politiker damals beigesprungen? Wer hat ihm beigestanden? Wer ist für ihn aufgestanden? Wer hat für die Duldung der christlichen Position, die bloße Duldung, nicht mehr und nicht weniger, gekämpft? Im öffentlichen Raum sind manche Standpunkte des traditionellen Christentums existentiell bedroht, d.h. Christen wird die freie und ungehinderte Meinungsäußerung mehr und mehr verwehrt. Wo ist die Toleranz geblieben?
Es ist geradezu tragisch, dass sich die Protestanten und unter ihnen auch die Evangelikalen nicht mehr klar und unmissverständlich zur klassischen Toleranz bekennen und diese verteidigen. Sie ist schließlich unser Kind! Denn die Reformation hatte die Wahrheit entmonopolisiert. Nun konnte ein rationaler, freier Diskurs um Wahrheit beginnen. Der gegenseitigen Herausforderung, Korrektur, dem freien Wettbewerb der Ideen war das Tor geöffnet. Die Reformatoren glaubten, dass der Gebrauch von Gewalt in religiösen Dingen einen Betrug am Evangelium darstellt; dass der Glaube eine Gewissensentscheidung des Einzelnen ist. Diese Ideen veränderten die Geschichte. Doch es dauerte eine Weile, bis die Saat dieser richtigen Erkenntnisse aufging. Zur Religionsfreiheit und Toleranz führte ein langer, holpriger Weg. Die Implikationen der Theologie des verfolgten Ketzers Luther und des Flüchtlings Calvins setzten sich durch, nachdem die Reformierten in den Niederlanden, Frankreich, später in England teilweise massiv unterdrückt wurden. Sie machten selbst vielfach die Erfahrung der Verfolgung, der Intoleranz. So war es dann kein Zufall, dass sich die Toleranz zuerst in den calvinistischen Niederlanden, dann im England der Puritaner und in Amerika durchsetzte, dessen politische Entwicklung stark von den calvinistischen Nonkonformisten, von Independenten und Baptisten, geprägt wurde.
Diese Toleranz der Duldung ist unser großes Erbe. Wir brauchen nun die oft verachteten „Kampftruppen“, um sie zu verteidigen. Es muss um die Duldung gekämpft werden; friedlichere Begriffe sind hier leider fehl am Platz. Aber da Kern über die Duldung hinausgehen will, macht er im Ergebnis ausgerechnet das Schwert stumpf, das diesen Kampf führen muss.
Hallo,
herzlichen Dank für diesen engagierten Artikel.
Allerdings meine ich, dass auch hier ein Knoten im Gedankengang ist.
Wenn ich dich richtig verstehe, dann ist ein Eckpunkt deiner Argumentation, dass der Begriff der Toleranz von Christen fälschlicherweise mit dem Begriff von Gottes Liebe verbunden wird. Hierzu zitierst du Flasch:
“Im vorletzten Herbst bemerkte Augustinus-Experte Kurt Flasch im „Spiegel“: „Die Christenheit von heute badet gern in einer Rhetorik der Liebe. Gottes Liebe wird in Zusammenhänge gestellt, in die sie argumentativ nicht gehört.“ (43/2013)” und nennst dann Toleranz als ein Beispiel, wo Christen sich in der Rhetorik der Liebe badeten.
Desweiteren führst du aus, dass doch die Reformation die Wahrheit entmonopolisiert hat. Richtig, Luther hat darauf bestanden, dass kein Gemeindeoberhaupt mehr die alleinige Entscheidung darüber hatte, was Wahrheit ist. Es sei die Entscheidung, das Gewissen des Einzelnen, was er für wahr ansehe und das müsse er sagen dürfen. Dafür hat er gekämpft und er ließ sich nicht den Mund stopfen. Luther beharrte darauf, dass man sich über das, was man denke, öffentlich austauschen können dürfe. Das hat ihn dann seine Existenz als Kirchenmitglied gekostet, er wurde ausgeschlossen, gebannt…
In der Folge entstanden dann eine Menge weiterer christlicher Gemeinschaften, deren erster Impuls doch wohl immer war, dass man frei zu seiner Meinung stehen, diese äußern konnte.
Und hier liegt meiner Meinung nach das Problem in deiner Argumentation:
Eine Meinung frei äußern zu dürfen, auf die Duldung der anderen bauen zu dürfen, darf nicht vor der Gemeinde- oder Kirchentür enden.
Was aber bedeutet es denn anderes, wenn du für freie Meinungsäußerung und damit die Duldung/Toleranz gegenüber anderen Meinungen plädierst, aber nur solange, wie die Meinung nicht innerhalb einer Gemeinde oder Kirche geäußert wird?
Da soll dann eine (von wem auch immer) festgelegte Lehre gelten? Wieso eigentlich?
Wenn dem so ist, dann wird sich innerhalb der Christenheit immer wieder das wiederholen, was mit der Reformation geschehen ist. Spaltung, um Spaltung, um Spaltung, um Spaltung….
Jesu Vermächtnis (im Joh nachzulesen) mahnt aber zur Einheit. Wobei ich meine, dass es nicht um eine gleichmachende Einheit geht, sondern um Einheit in Vielfalt.
Zudem, wieso sollten gerade Christen weniger tolerant, duldsam sein dürfen? Ich kann nicht erkennen, dass Jesus je einem Menschen den Mund verbot. Ich kann nur erkennen, dass er klar und deutlich einen, nämlich seinen (übrigens auch von der Religionsgemeinschaft, der er angehörte, abweichend) Standpunkt äußerte. Und ich kann erkennen, dass er bereit war lieber zu sterben als von seinem Standpunkt abzuweichen.
Da sehe ich übrigens eine geradezu ironische Parallele zu Voltaire, der sagte:
“Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür geben, daß du es sagen darfst.”
Dein gedanklicher Fehler besteht meines Erachtens darin, dass du dich keineswegs konsequent in deiner Argumentation auf reformatorische Prinzipien berufst. Ich behaupte einmal, dass Luther zum Ziel hatte, die römisch-katholische Kirche zu reformieren. Dass im Zuge dieses Bemühens mehr und mehr reformorientierte Kirchen entstanden, ist das Ergebnis der Dummheit Roms.
Und dessen Verhalten machst du hoffähig, wenn du für Gemeindeausschluss plädierst.
Ich bin überzeugt:
Die Wahrheit kann falsche Aussagen und Meinungen überall aushalten/dulden/tolerieren, ohne dass sie deshalb verstummt.
Das hat uns doch Jesus Christus, der die Wahrheit ist, eindrücklichst gezeigt. Konnt man ihn überstimmen? Konnte man ihn töten?
Nein, konnte man nicht.
Denn Jesus, der die Wahrheit ist, ist auferstanden und lebt ewig und wird am Ende aller Tage alles überstrahlen.
Amen.
Vielen Dank für den engagierten Kommentar! Ich würde vielleicht nicht sagen, dass “Eckpunkt” meiner Argumentation war, dass die Toleranz mit der Liebe vermengt wird; mir scheint, dies ist die Folge der Erweiterung um die Akzeptanz, und auf dieser Linie schreibt ja auch Kern.
Aber zur innerkirchlichen Toleranz. Ich hätte dies Thema wohl besser nicht anschneiden sollen, da man so wieder aufs Glatteis gerät… Es wäre eine breitere Untersuchung wert, wie sich Toleranz in den verschiedenen Ordnungen Gottes gestaltet, also in Staat/Gesellschaft, Kirche, Wirtschaft und Familie. Zur Kirche: Ich denke schon, dass die Grenzen hier anders gezogen werden als in der breiten Gesellschaft. Ich lasse ja z.B. nicht einen Muslimen, Zeugen Jehovas oder Atheisten von der Kanzel predigen, grenze deren Redefreiheit also drastisch ein. Viele Kirchen haben Mitgliederversammlungen, Synoden usw., wo auch nicht jeder reden darf. Man kann sicher gut vom NT her belegen, dass Irrlehrer in der Gemeinde nicht toleriert werden dürfen. Natürlich ist die Zauberfrage, wo dies anfängt und wie eng oder weit hier Linien gezogen werden müssen. Zu beachten ist auch noch, dass die Toleranz gegenüber Amtsträgern in einer Kirche noch geringer ist; Pastoren werden z.B. teilweise auf bestimmte Bekenntnisse verpflichtet, ja sogar eingeschworen; sie können dann nicht unter dem Deckmantel der Toleranz oder Meinungsfreiheit lehren, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Die Anforderungen an ‘einfache’ Mitglieder sind weniger streng. In jedem Fall kommt man nicht umhin, die Lehren der Kirche nach Wichtigkeit und Gewicht zu gruppieren und abzustufen, d.h. was ist absolut unerlässlich, was muss also geglaubt und darf nicht geleugnet werden; was sollte geglaubt werden und worüber kann tatsächlich recht frei diskutiert werden. Davon hängt dann auch ab, ob man jemandem ‘intolerant’ die Mitgliedschaft entzieht (Leugnung der Trinität nannte ich ja) oder ob man nur eine andere Kirche empfiehlt (wer die Säuglingstaufe ablehnt, sollte überlegen, ob er z.B. die Lutherische Kirche verlässt) oder ob man mit unterschiedlichen Ansichten gut zusammen leben kann (Frage des Pazifismus oder der Eschatologie usw.). Unterscheiden sollte man auch aktives Lehren und Diskussionen und Fragestellen. Diskutieren, erörtern, kann man so gut wie alles; und wenn jemand die Trinität nicht versteht, genügt kein Holzhammer, da muss eben besser erklärt werden. Zu kritischen Fragen sollte sogar öfter ermutigt werden. Sie können zum Nachdenken und allgemein besserem Verständnis anregen. Grenzen gibt es aber auch da. Es macht wenig Sinn, in einer Baptistengemeinde x-Mal die Anfrage zu diskutieren, ob die Säuglingstaufe vielleicht nicht auch eine Option wäre. In vielen Fragen legen sich Kirchen fest, und das ist auch gut so und vielfach auch unvermeidlich. Es gibt selbst in ‘freieren’ Gemeinden einen Kern der Lehre und damit Identität, der Mitglieder irgendwie bindet.
Wer legt all dies fest? Keinesfalls nur ein Mensch, immer Gremien, am besten Synoden usw. Und ohne bewährte Bekenntnisse und Lehrtraditionen kommt man hier auch kaum weiter. Das ist wohl sogar einer der größten Nutzen der objektiv niedergeschriebenen Bekenntnisse und anderer Lehrdokumente und Kirchenordnungen. Sie sind von spontanen und zu subjektiven Entscheidungen etwas abgekoppelt. Ich kenne Geschwister, die wurden auf üble Weise von Gemeindeleitungen rausgemobbt, schlimme Machtspiele. Mitglieder müssen vor Pastoren- und Ältestenwillkür bewahrt werden. Alle disziplinarischen Maßnahmen müssen sich von der Bibel und Bekenntnissen ableiten lassen können.
Hallo Holger,
zunächst: Ich stimme dir zu, dass der Toleranzbegriff tatsächlich nur “dulden” (nicht: “erdulden”) ist und auch bleiben sollte.
Du schreibst zu meinem Artikel: “Auch hier kommt die Sahne der Liebe obendrauf, und hier bedeutet Toleranz auf einmal, dass wir „wie Jesus“ für den anderen kämpfen. Vom Kampf der Ideen natürlich keine Spur. Denn auch hier wird die klassische Duldungstoleranz zur liebevollen Begegnung erweitert, damit jedoch nur Verwirrung gestiftet.”
Mir geht es um die Menschen. Der Streit um Ideen, wie du es nennst, ist gut und wichtig. Trotzdem darf er nie die Menschen aus dem Blick verlieren, um die es geht. Jesus hat immer die Menschen in den Vordergrund gestellt und uns geboten, selbst unsere Feinde zu lieben. Also die, die uns böses wollen und die, die wir ablehnen.
Natürlich ist Liebe nicht immer Akzeptanz von Verhaltensweisen. Manchmal besteht Liebe aus deren Duldung, manchmal sogar aus deren klarer Ablehnung. Aber in einem Streit, in dem es gute Argumente auf beiden Seiten gibt, und bei einer Sache, bei deren Umsetzung niemand Schaden nimmt, würde ich dafür plädieren, immer auf der Seite der betroffenen Menschen zu sein, ihr Leid zu sehen und mit ihnen kämpfen, dieses zu beseitigen.
Ich weiß, Verwirrung ist eine der großen Ängste von Konservativen. Aber vor Verwirrung braucht nur derjenige Angst zu haben, der sich sein eigenes Weltbild an die Stabilität eines Systems oder Lehrgebäudes klammert. Besser wir klammern uns an Jesus.
Beste Grüße,
Rolf
Hallo Rolf,
fangen wir hinten an: nun mag es manche Verwirrung geben, die heilsam und nötig ist, aber im Grunde würde ich sagen, dass sie zu vermeiden ist weil in der Regel ein Übel. Hier hat doch der Postmodernismus mit am meisten Unheil angerichtet: Verwirrung stiften als fast schon höchstes Gut. Da komme ich nicht mit, und ob ich Angst habe… Ich halte es für falsch, wenn andere Verwirrung auslösen und es sie nicht weiter kümmert; jeder sollte an hart an Klarheit arbeiten und persönlich damit beginnen. Mit Karl Popper halte ich das für eine moralische Grundforderung.
An Jesus klammmern? Richtig. ‘Irgendeiner’ der vielen, die angeboten worden sind und werden, tut‘s jedoch nicht. Und bestimmt man den Jesus näher, dem man vertraut, ist man unvermeidlich bei Lehrgebäuden und Systemen, welcher Art und Präzision auch immer.
Dem Streit der Ideen geht es auch schon immer um den Menschen, sonst würde man ja nicht streiten. Wenn man gemeinsam um Lehren, Gedanken, Ideen usw. ringt, zeigt man ja, dass der Andere es wert ist, gehört zu werden. Die harte Debatte ruht also auf der Achtung des anderen Menschen.
Es geht um den Menschen – wohl wahr. Aber auch das muss ja inhaltlich konkreter gefüllt werden. Dem Kommunismus ging es auch irgendwie um ‘den Menschen’; zur Not durften aber um des hehren Zieles willen einige Menschen beseitigt werden.
Sicher, Christen blicken auf Jesus: wie er an der Seiten der Leidenden und Betroffenen stehen, Leid beseitigen. Wer hätte etwas dagegen? Aber es ist doch gerade im Ringen um Lehren gar zu billig, wenn eine Seite für sich in Anspruch nimmt: wir stehen an der Seite der Betroffenen, und ihr tut dies nicht und verhaltet euch damit lieblos, also unmoralisch etc. Ich denke an Tony Campolos Ausführungen in der Jesus-Revolution zur Homosexualität. Letztlich sagt er recht eindeutig: die Konservativen haben den Homosexuellen, die Jesus nachfolgen wollen, grosses Leid, mitunter Schaden angetan; die Stichworte Lieblosigkeit und Diskriminierung fallen. Ich bin an ihrer Seite, und ihr nicht! würde Campolo sicher sagen. Wunderbare Grundlage für eine fruchtbare Diskussion unter Christen! Auf einmal sind es die am rechten Schmuddelrand der Evangelikalen, die Fundamentalisten oder wie immer man sie nennt, die aber auf einmal nicht mehr “essentieller Teil” (Diener dort im Vorwort über die Linksevangelikalen wie Campolo) der Bewegung sind, ja die ja wohl rausgeschmissen gehören (Malessa, Geldbach und Co.). Kommt nicht langsam die Zeit, in der man an der Seite dieser Betroffenen stehen sollte?