Augustinus und Pelagius
Wirklich gefährliche Irrlehren, grobe Verfälschungen des christlichen Glaubens, gibt es nicht viele. Die Leugnung der Gottheit Jesu gehört dazu. In manchen Sekten wie vor allem den Zeugen Jehovas ist dies ein Eckpunkt der Lehre. Unschwer erkennbar ist auch das Gift, das von Seiten der Esoterik hereindrängt: der Pantheismus, der die Vergöttlichung des Menschen mit sich bringt. Geradezu abstoßend ist die oftmals plumpe Selbsterhöhung des Menschen in der esoterischen Literatur, man denke an die schrecklichen Bücher von Rhonda Byrne (The Secret–das Geheimnis).
Viel subtiler wirkt dagegen die alte Häresie des Pelagianismus, der die Kirche seit über 1600 Jahren verfolgt. Der Pelagianismus – nach dem Vater der Lehre, dem britischen Mönchen und in Rom wirkenden Theologen Pelagius (ca. 350–420) – leugnet die Erbsünde und damit die radikale Verdorbenheit des Menschen. Der gefallene Mensch wird positiver gesehen, als es der biblischen Botschaft entspricht. Natürlich wird so etwas gerne geglaubt. „Der Menschengeist hat nichts lieber, als wenn man ihm Schmeicheleien vormacht“, so schon Johannes Calvin in seiner Institutio (II,1). In dem Kapitel erläutert der Reformator die Erb- oder „Ursünde“, die damals wie heute äußerst anstößig ist: „Dem gemeinen Menschenverstand ist nichts so befremdlich, als dass wegen der Schuld eines Menschen alle schuldig sein sollten“. Unsere Sünde besteht nicht nur in der Nachahmung Adams, wie Pelagius lehrte. Wir sind nach dem Fall nicht nur unvollkommen, krank, verführbar; das Übel ist viel radikaler: der Mensch ist geistlich tot (s. z.B. Ef 2,1).
Diese radikale Sicht war und ist unbequem; sie widerspricht dem gleichsam natürlichen Sündenverständnis des Menschen: Gewiss, wir sind nicht perfekt und machen Fehler; aber tot in Sünden und Erbsünde? Kein Wunder, dass die Reformatoren wie Calvin und Luther dagegen ankämpften und sich in den Bekenntnissen der Reformationszeit klare Aussagen zur Erbsünde befinden (z.B. Augsburger Bekenntnis, Kap. II; Westminster Bekenntnis, Kap. VI).
Der anabaptistische Flügel der Reformation, die „Radikale Reformation“, war in dieser Frage jedoch gar nicht so radikal; in den täuferischen und mennonitischen Kirche dominierte meist ein deutlich optimistischeres Menschenbild. Manche Gruppen wie die Quäker lehnten die Erbsünde konsequent ab. Der kanadische Mennonit Peter Hoover in seinem Buch über Geschichte und Kennzeichen seiner Tradition: „Alle [Menschen] werden ohne Schuld geboren. Auch darin unterscheiden sie sich von den Reformatoren, die an der katholischen Lehre [!?] von der Erbsünde festhielten. Wenn wir jedoch heranwachsen und uns in Schuld verstricken, verlieren wir die Ebenbildlichkeit Gottes.“ (Feuertaufe. Das radikale Leben der Täufer)
Gegen die Erbsünde kämpfte im 19. Jahrhundert vor allem Charles G. Finney (1792–1875) und verbreitete ein (semi-)pelagianistisches Menschenbild: Wir werden moralisch neutral geboren und können das Gute oder das Böse frei wählen. Der einflussreiche Evangelist: „Der Sünder hat alle Möglichkeiten und die natürliche Fähigkeit Gott perfekt zu gehorchen.“ Finneys Pfad folgen bis heute sehr viele Gläubige, absurderweise gerade die aus jungen, dynamischen, evangelisierenden Gemeinden. Dies hat auch mit der Verlust und der Nichtbeachtung des reichen theologischen Erbes der Vergangenheit zu tun. James I. Packer bemerkte treffend: „Pelagianismus ist die natürliche Häresie von eifrigen Christen, die an Theologie kein Interesse haben.“
Wir müssen daher in dieser Frage unbedingt wieder auf den Vater der westlichen Christenheit, auf Augustinus, hören. Hier mit freundlicher Genehmigung ein Gastbeitrag von Harald Börner, Pastor im Bund der Freien evangelischen Gemeinden und Mitarbeiter des Bibellesebundes (eine Übersetzung ins Litauische aus dem Jahr 1998 befindet sich hier; Bild o.: Alessandro Preziosi als junger Augustinus im Film „Restless Heart“).
„Was ist der Mensch? Wie soll, wie kann er sein Leben gestalten?“
Nicht erst in unserer Zeit wird so gefragt – und es ist nicht immer das Schlechteste, sich an den Überlegungen früherer Generationen zu orientieren.
Versetzen wir uns in jene Zeit der Alten Kirche, als sie in Wirklichkeit noch gar nicht alt, sondern knapp 400 Jahre jung war: Der christliche Glaube ist im ganzen Mittelmeerraum und darüber hinaus nicht nur bekannt, sondern inzwischen vom Kaiser sogar zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben worden. An zahlreichen bedeutenden Orten existieren christliche Gemeinden – so auch in Rom. Bereits hier zeigt sich jedoch ein Problem, das bis heute jede Kirche und jede örtliche Gemeinde angeht: Das Phänomen der „Durchschnitts- und Halbchristen“. Etliche von ihnen in Rom scheinen der Meinung zu sein, schon die Taufe garantiere das Heil, und den Lockungen der Sünde könnte ohnehin nur eine Elite widerstehen. Infolge derartiger Auffassungen bewegt sich die praktische Lebensgestaltung vieler Gemeindeglieder auf einem moralisch sehr niedrigen Niveau.
Diesen Eindruck gewinnt zumindest ein gewisser Pelagius, der sich, von Britannien oder Irland kommend, um 390 n.Chr. in Rom niederlässt und dort als christlicher Asket lebt. Dem sittlichen Verfall seiner Umgebung stemmt sich der junge Mann entgegen: Mit ganzem Ernst lebt er seine strengen sittlichen Forderungen selbst vor, die er mit großer Begabung in Wort und Schrift verbreitet. Durch seine Konsequenz erlangt er Geltung in bestimmten Kreisen der Oberschicht Roms. Das kompromisslose Christentum des Pelagius strebt ein hohes moralisches Ideal an. Es appelliert an den Willen des Menschen und setzt auf seine Fähigkeiten, dieses Streben in die Tat umzusetzen. Wenn sich der Christ auf seine gottgegebenen Möglichkeiten besinnt, so argumentiert Pelagius, und wenn er sich zugleich an dem Beispiel der großen biblischen Gestalten orientiert – allen voran das Vorbild von Jesus Christus selbst – dann kann er im konkreten Lebensvollzug eine vollkommene Gerechtigkeit verwirklichen, die im Himmel belohnt wird. War nicht auch genau dies die Forderung des Evangeliums? „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48).
Am gegenüberliegenden Ufer des Mittelmeers, in der nordafrikanischen Stadt Hippo, nicht allzu weit von Karthago entfernt, führt derweil ein Bischof namens Augustinus die Amtsgeschäfte. Er blickt zu diesem Zeitpunkt, etwa 40jährig, bereits auf einen bewegten Lebenslauf zurück. – Wer heute den Namen „Augustinus“ hört, verbindet damit – zu Recht – die Vorstellung eines außergewöhnlichen Kirchenvaters. Seine theologische Arbeit erfuhr bereits zu Lebzeiten große Anerkennung und sollte das kirchliche Denken und Leben des Westens bis in die Neuzeit hinein beeinflussen. Wie bei vielen großen Lehrern entstammt seine Theologie nicht dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern ist vielmehr auf dem Boden von Lebenserfahrung und praktischer Alltagsanforderung gewachsen und gereift:
Geboren wird Augustinus 354 n.Chr. in Thagaste, Numidien, als Sohn eines heidnischen städtischen Beamten und einer christlichen Mutter. Als junger Mann im christlichen Glauben unterwiesen, nimmt er davon aber verächtlich Abstand, als er im Verlauf seiner Ausbildung als Rhetor nach Karthago umzieht. Sexuelle Ausschweifungen werden Teil seines studentischen Lebens, und bald lebt er in einer wilden Ehe, aus der 372 ein Sohn hervorgeht.
Ciceros Schrift „Hortensius“ weckt in ihm die Sehnsucht nach philosophischer Weisheit. Zunächst Anhänger der Skepsis, wendet Augustin sich davon wieder ab und findet die Einsicht scheinbar in einer Gemeinschaft der Manichäer. Ihrer Lehre liegt die Vorstellung eines Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse zugrunde. Innerhalb dieses Dualismus ist der Mensch das Produkt einer illegitimen Vermischung und selbst ein Ort dieses Widerstreits. Indem der Mensch asketische Lebensnormen befolgt, so die Idee, kann er sich aktiv am Erlösungsprozess beteiligen und zur Lichtwelt emporsteigen. Die umfangreichen Gebote, die letztlich auf die Lichtbefreiung abzielen, können nur von den „Erwählten“ eingehalten werden, die ihren Lebensunterhalt von den „Hörern“ bekommen.
Neun Jahre lang bleibt Augustinus „Hörer“ und Probemitglied dieser Gruppe in Karthago, bevor er sich von ihnen trennt und mit kurzem Zwischenaufenthalt in Rom nach Mailand wechselt (384). Dort hört er Bischof Ambrosius und bekommt, nicht nur äußerlich bereits von den Manichäern entfernt, deren dualistische Lehre überzeugend widerlegt.
Augustins eigentliches Bekehrungserlebnis jedoch, später von ihm in seiner Schrift „Bekenntnisse“ geschildert, hat nicht die rationale Auseinandersetzung mit anderen Lehren zum Gegenstand. Gewiss hatten zwar solche Überlegungen bereits stattgefunden, und sie setzten sich auch später weiter fort. – Der aktuelle Anlass seiner Bekehrung ist vielmehr die plötzliche Erkenntnis seiner eigenen Schuldhaftigkeit in ihrer eigentlichen Tiefe: Schon lange hatte er seinen Lebensstil als falsch erkannt, eine Veränderung aber immer vor sich hergeschoben. Sein eigener Wille, mit dem er von den Verstrickungen der Sünde hatte freiwerden wollen, hatte ihn doch eigentlich nur immer fester daran gebunden. Sein Wollen war also gefangen gewesen; immer wieder hatte sein Wille sich selbst im Weg gestanden. Nun aber, nach langem innerem Kampf, erlebt er die Befreiung dazu, sich dem Willen Gottes anzubefehlen. Die Aussage der Bibelstelle Röm 13,13f gibt den letzten Anstoß und trifft ihn im Innersten: „Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an, und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen.“ Daraufhin gibt er sein Lehramt als Rhetor auf und zieht sich zurück.
387 lässt sich Augustin mit seinem Sohn und einem Freund gemeinsam von Ambrosius taufen und reist über Rom zurück nach Nordafrika. Auch hier lebt er zunächst abgeschieden, wird aber dann, für ihn selbst überraschend, 391 durch Bischof Valerius von Hippo zum Priester berufen. Eher zögerlich willigt er ein. Seine lebendige geistige Entwicklung setzt sich fort. Ihre Kennzeichen sind die ausschließlich theologische (früher: eher philosophische) Orientierung und die praktische Tätigkeit im Kirchenamt. 395 lässt Valerius ihn zu seinem Mitbischof weihen, und nach dessen Tod wird Augustinus Bischof von Hippo.
Die ersten Phasen des theologischen Wirkens Augustins umfassen die Auseinandersetzung mit dem Manichäismus, der stark in die Kirche hineinwirkt, und die Überwindung des Donatismus, der eine „reine“ Kirche will. Beide Irrlehren sind übrigens im weiteren Verlauf der Jahrhunderte – in anderen Gewändern zwar, in ihrem Wesen jedoch gleichbleibend – immer wieder an die Westkirche herangetreten. Die eine betrifft die Lehre von der Erlösung, die andere die Lehre von der Gemeinde.
Da uns hier leider die Muße fehlt, uns näher damit zu befassen, wollen wir unser Augenmerk auf die letzte Schaffensphase Augustins richten. Im sogenannten Pelagianischen Streit wird er der geistige Führer gegen die Lehre des Pelagius und dessen Anhänger.
Zunächst liegen Augustinus und Pelagius, was ihre Zielsetzungen anbelangt, scheinbar gar nicht weit auseinander: Beide streben ein authentisches Christsein an, das auch in einem vorbildhaften Lebensstil zum Ausdruck kommt. Und doch sind ihre Positionen grundverschieden, und die Spannung zwischen ihnen wird im weiteren Fortgang der Ereignisse immer tiefer. Auf einen kurzen Nenner gebracht, könnte man den Unterschied so beschreiben: Pelagius ist Asket auf das Christsein hin, Augustinus ist Asket von ihm her! Im Kern der Auseinandersetzung geht es um die Fragen der Prädestination und des freien Willens.
Die Schriften des jungen Pelagius und seiner Anhänger werden durch folgende Ideen gekennzeichnet:
– Die Gnade, die Gott durch Christus schenkt, zeigt sich insbesondere im Vorbild Jesu, dem seine Nachfolger nacheifern sollen.
– Die Sünde Adams ist dessen persönliche Schuld, die sich allerdings als Beispiel des Ungehorsams negativ auf die ganze Menschheit auswirken konnte. Der freie Wille des einzelnen bleibt davon unberührt. Eine „Erbsünde“ im Sinn einer originären, alle anderen Menschen mitbetreffenden Schuld wird abgelehnt. Ihre Behauptung dient – nach der Ansicht des Pelagius – nur als Ausrede für den einzelnen, er „könne“ ja der Sünde nicht entgehen. Diese Ausflucht darf nicht gelten, und eine Reformbewegung tut not.
– Der Mensch ist mit einem freien Willen ausgestattet, der es ihm ermöglicht…
…Gut und Böse zu unterscheiden, und das Gute zu wählen;
…die offenbarten Gebote Gottes mit Gottes Hilfe kompromisslos zu erfüllen. „Mache dich frei von allen Zwängen und Verlockungen, die von außen an dich herangetragen werden“, so etwa könnte ein Anhänger des Pelagius sprechen, „fördere das Gute in Dir selbst und lass es in guten Taten zur Entfaltung kommen.“
– Ein sündloses Leben ist deshalb möglich: Unsere Verantwortung ist es, dies auch zu wollen und zu verwirklichen.
Das Anliegen der Pelagianer, dem schuldhaften Leben keinen Vorwand bieten zu wollen, kann Augustinus durchaus nachvollziehen. Ihre Anschauungen jedoch kann er nicht widerspruchslos hinnehmen. Sein Studium der Heiligen Schriften und seine persönliche Lebensgeschichte haben ihm verdeutlicht, dass der Wille des Menschen nicht frei zu jeglicher Entscheidung ist:
– Die Sünde Adams ist nicht nur dessen persönliche Schuld, sondern hat universale Auswirkungen für die ganze Schöpfung. Erbsünde ist darum Realität, weil sie als grundsätzliche „Fehlpolung“ jeden Menschen betrifft, was jeder im konkreten, selbst zu verantwortenden schuldhaften Tun auch beweist.
– Die Vermeidung der Sünde ist dem Menschen zwar geboten, aber eine irdische Sündlosigkeit ist unmöglich. Nicht das, was von außen an den Menschen herantritt, ist ja das eigentliche Problem, sondern das, was in seinem Innersten liegt (Mt 15,19; vgl. Röm 7)!
– Weder das Wollen des Menschen, noch sein Bemühen oder Können ist der ausschlaggebende Faktor für den Lebensweg, sondern allein die unbeschränkte Gnade Gottes.
Je länger Augustin darüber nachdenkt, ist der letztgenannte Punkt der Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation: Das Wesen der Gnade besteht darin, dass sie voraussetzungslos, frei und ohne jede Vorbedingung oder menschliche Mitwirkung von Gott geschenkt wird. Die Rettung des Menschen ist allein Gottes Werk. – Wäre es nicht so: Wie könnte Gott sonst souverän und allmächtig sein? – Anderseits: Wie kann Gott der Richer des Menschen sein, wenn der Mensch selbst keine Verantwortlichkeit und also keinen freien Willen hat? Dieser Einwand ist Augustinus nicht unbekannt. Das Verhältnis von Gnade und Willen rückt damit in den Mittelpunkt des Interesses. Augustin entgegnet: Des Menschen Wille ist wohl frei in der Entscheidung für diese oder jene Tat, aber er ist nicht frei im Blick auf das Heil. Auf sich selbst gestellt, neigt der menschliche Wille zum Bösen, zur Rebellion gegen Gott. Der Wille muss von Gott selbst bereitet werden, damit er das Gute, das Heil, wollen kann. Es gibt also eine gewirkte Freiheit – die wahre Befreiung durch Gott dazu, das Gute zu wollen. Eine autonome menschliche Freiheit gibt es jedoch nicht.
Hier tritt die Problematik der Prädestination zutage: Die Erwählung ist ein reiner Gnadenakt Gottes und beruht nicht auf menschlichen Leistungen. Der Mensch wird von Gott nicht erwählt, weil er glaubt, sondern damit er glaubt.
Daraus ergeben sich weitere Fragen: Wenn ein Mensch nicht glaubt – ist er dann auch nicht erwählt? Wenn er aber von Gott nicht erwählt ist – welche Verantwortung trifft ihn dann noch selbst? Wie könnte er denn im Gericht für etwas zur Rechenschaft gezogen werden, was außerhalb seiner Verantwortlichkeit liegt?
Bedeutet Nicht-Erwählung, dass Gott aktiv verwirft und auf ewig verdammt? Oder bedeutet sie, dass Gott nur zulässt, was der einzelne, „im Schatten Adams“ selbst schuldig werdend, auch verdient hat: ewige Gottesferne?
Augustinus hat die Konsequenzen seiner Prädestinationslehre durchdacht und, anders als viele nach ihm, auch bejaht. Die große Frage nach dem „Warum“ der Erwählung oder Nicht-Erwählung bricht hier auf – eine Frage, die bereits Paulus kennt und auf die er in Röm 9,20 doch nur eine Teilantwort geben kann: „Bedenkt doch, wer wir sind! Wie dürfen wir uns anmaßen, Gott zu kritisieren?“ – Was sich hier anhört wie eine resignierende Schicksalsergebenheit, ist in Wirklichkeit das Verstummen des Menschen angesichts der Allmacht und Souveränität Gottes. Aber es ist kein resigniertes Schweigen, sondern das dankbare Staunen über Gott. Denn: Hat nicht gerade dieser Gott in Christus alles daran gesetzt, die Menschheit zu retten?
Unser Abstecher in das frühe 5. Jhdt. nähert sich seinem Ende: Der Pelagianismus wurde auf einer Synode in Karthago (418) und wohl auch durch das Konzil von Ephesus (431) als Irrlehre verurteilt. Dennoch blieb man im Orient bei der alten Lehre von der menschlichen Freiheit, und auch im Abendland ruhte die Auseinandersetzung nicht: Wird nicht durch die Prädestinationslehre des Augustinus der allgemeine Heilswille Gottes verleugnet? Denn es heißt doch: „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1Tim 2,4). Bereits bald nach der Verwerfung des Pelagianismus entspann sich an diesem Eckpunkt der Streit um den Semipelagianismus. Auch diese Irrlehre wurde schließlich offiziell verurteilt. Da im Gegenzug aber nur ein verkürzter Augustinismus angenommen wurde, blieben Unklarheiten bestehen, durch die später semipelagianistische Gedanken in die Kirche einziehen konnten.
Wer sich vielleicht fragt, ob die Überlegungen früherer Zeiten überhaupt für das Leben nachfolgender Generationen fruchtbar gemacht werden könnten, sei hier nur auf ein Beispiel hingewiesen: Augustins antipelagianische Gnadenlehre war für den jungen Martin Luther ein wichtiger Meilenstein auf seinem Erkenntnisweg, der immerhin die Reformation einleitete – und die hat bekanntlich ganz Europa verändert.
Übrigens: Die theologische Diskussion um die Frage des Verhältnisses von Gnade und Freiheit hält bis heute an…
Zum Prüfen und weiteren Nachdenken:
– Ist es möglich, ein sündloses Leben zu führen? Röm 3,9-20; 5,12-21; 7,15-25; Hebr 4,15; Kol 3,5-15; 1Joh 1,8-2,2; 3,2
– Was sind die Gefahren der einseitigen Betonung von
a) der Verantwortung des Menschen, bzw. b) der Gnade Gottes?
zu a) Joh 15,1-10; Röm 6,13; 1Kor 1,30; Gal 2,20
zu b) Röm 12,1-21; Gal 5,13-26; 1.Thess 4,7
– Wie können wir sicherstellen, dass unser Denken und Leben als Christen nicht einen falschen Schwerpunkt erhält?
– Was ist das Attraktive an Ansprüchen auf „authentisches Christsein“?
Wie sollten wir solche Ansprüche prüfen?
[…] Auch vor den Aussagen des Paulus in den ersten Kapiteln des Römerbriefes machen Jay und Gofi in ihrer Kritik nicht halt. Der Apostel betont dort ausdrücklich die Schuld aller vor Gott. „Bei Paulus ist das so“, was er, Jay, aber nicht glaubt. Man müsse das Menschenbild des Paulus von dem der Bibel unterscheiden. Der Name Pelagius fällt nicht, aber beide präsentieren offensichtlich eine neu aufgekochte Version des Pelagianismus. Damit befinden sie sich natürlich ganz im Trend, laufen doch gerade postevangelikale Autoren wie Tony Jones oder Brian McLaren gegen die Erbsündenlehre Sturm. Und schon vor Jahren zeigten Umfragen in den USA, dass an die 80% der Evangelikalen den Menschen für „an sich gut“ halten. (Hier mehr zu Augustinus nud Pelagius.) […]