Litauen – „Wo Gemeinden am stärksten wachsen“?

Litauen – „Wo Gemeinden am stärksten wachsen“?

„Zu den Gegenden, wo Christus eher unbekannt ist, gehört heute leider auch Europa, wohin es bereits Paulus gezogen hatte. Europa ist heute erneut der vergessen(d)e Kontinent. Die Statistik nebenan [Weltkarte, s.o.] zeigt, in welchen Weltregionen die Gemeinden am schnellsten wachsen. Es ist schockierend, dass Europa inzwischen der Kontinent mit dem geringsten Anteil engagierter Christen ist. Schlimmer noch: der einzige Kontinent, wo ihre Zahl abnimmt.“ So schreibt Missionsleiter Dr. Detlef Blöcher in der aktuellen Nummer von „DMG informiert“ (2/2015). Den Aussagen des Leitartikels ist nur zuzustimmen. Ja, Europa ist Missionsland.

Die Info-Grafik, auf die der DMG-Chef hinweist, bestätigt dies aber nur zum Teil. Und sie wirft so manche Fragen auf. Tatsächlich verzeichnen demnach Afrika, Südamerika und Asien mehr Wachstum evangelikaler Gemeinden als Europa. Innerhalb Europas, so scheint es, gibt es Problemzonen wie Mitteleuropa (Deutschland, Dänemark, Tschechien), aber auch den Balkan (Serbien, Rumänien, Bulgarien, Kroatien), wo diese Gemeinden kaum wachsen – Rot als warnende Farbe. Andere Länder sind ‘im grünen Bereich’, d.h. mit deutlichem evangelikalem Wachstum: Albanien, Spanien, Russland, Belgien, Schweden – und auch Litauen.

Der baltische Staat ist in der Grafik der einzige europäische in saftig grüner Farbe. Liegt Litauen demnach an der Spitze im Hinblick auf Gemeindewachstum? „Wo Gemeinden am stärksten wachsen“ – in Brasilien, Nikaragua, Angola, Nepal, Kambodscha, Tunesien, im Iran und in der Mongolei, und ein Ausreißer in Europa: Litauen?

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Die Grafik beruht auf den Daten aus Operation World. Das Handbuch wird seit 1974 herausgegeben und etwa jedes Jahrzehnt ausführlich überarbeitet, nun vom WEC International. Zu jedem Land findet der Leser zahlreiche Informationen: Grundlegendes zu Geographie, Politik und Wirtschaft, dann vor allem recht detaillierte Informationen über Religionen und Kirchen. Es folgen als Fließtext Angaben zum kirchlichen und missionarischen Leben und konkrete Gebetsanliegen.

In seiner Art ist dieses Nachschlagewerk einzigartig und von unschätzbarem Wert. Wohl nirgendwo sonst findet man so präzise und gebündelte Informationen zur religiösen Landschaft eines Staates, das Ganze auch noch leserfreundlich aufbereitet. Die Zusammenfassungen sind im Internet zugänglich, s. hier. Die Ausgabe des Jahres 2001 liegt in deutscher Sprache vor (wie zuvor auch schon unter dem Titel Gebet für die Welt); 2011 erschien die bisher letzte, komplett überarbeitete Neuauflage von Operation World.

Die Angaben zu Litauen unter „Challenges for Prayer“ (im Buch auf S. 541–543, zugänglich über google books) sind sehr genau, konkret und im Ton nüchtern. Schließlich arbeitet die Redaktion beim WEC in England auch sehr sorgfältig. Auch mir hatte man vor Jahren den Entwurf zu Litauen mit Bitte um Ergänzungen und Korrektur zugeschickt. Meine Kommentare spiegeln sich auch im gedruckten Text wider.

Allgemein ist das Handbuch also nur wärmsten zu empfehlen. Wie kam es aber nun zu der saftig grünen Farbe Litauens? In der Ausgabe von 2011 (Daten bis 2010) wird die Zahl der „Evangelicals“, der Evangelikalen, mit knapp 36.000 angegeben, etwa 1,1% der Bevölkerung. Das ist im Weltmaßstab eher mickrig, und so hätte eine andere Karte auch ein etwas anderes und in gewisser Hinsicht klareres Bild ergeben: der Anteil der Evangelikalen an der Bevölkerung. Hier kommt Europa auf einige Prozent, in anderen Kontinenten liegt der Anteil weit höher.

In der Ausgabe des Jahres 2001 wurde die Zahl der Evangelikalen Litauens nur mit 14.000 und 0,4% der Bevölkerung angegeben. Damit ergibt sich nun tatsächlich eine Vervielfachung, die eben auch in die Karte eingegangen ist. Mit der Wirklichkeit hat dies jedoch so gut wie gar nichts zu tun. Der WEC-Redaktion hatte ich, soweit ich mich erinnere, meine Rechnung oder besser: Schätzung mitgeteilt, und die liegt eher bei den Zahlen von vor eineinhalb Jahrzehnten, also etwa 10–15.000. Vielleicht. Abgesehen einmal von der neu-pfingstlerischen Ekklesia-Kirche wächst kaum eine evangelische bzw. evangelikale Gemeinde im Land. Gewiss gibt es positive Ausnahmen wie die City Church in Klaipeda. Doch das allgemeine Bild ist recht eindeutig: Kirchen und Gemeinden können froh sein, wenn die Reihen gehalten werden; wegen starker Emigration und schlechter demographischer Entwicklung ist sogar tendenziell wohl eher von Schrumpfung zu sprechen. Dies gilt auch für die katholische Kirche, die seit etwa zwanzig Jahren eine stabile bzw. leicht schrumpfende Anhängerschaft hat (knapp 80% der Bevölkerung).

Die Angaben zu einzelnen Kirchen und Bünden in Operation World sind recht genau. Will man aber dort die Evangelikalen gleichsam herausrechnen, wird’s kompliziert. Und je ja nach Land erweist sich die Aufgabe womöglich sogar als unmöglich, zumindest statistisch saubere, verwertbare Daten gewinnt man nur schwierig oder kaum.

„Evangelikal“ ist ein (engl.) „Trans-Mega Bloc“ bei Operation World; ein einzelne Kirchen übergreifendes Phänomen soll erfasst werden (daher eben „trans“ – über etwas hinaus, nämlich Kirchengrenzen). Dies ist grundsätzlich durchaus legitim. Wie stellt man nun aber halbwegs genau fest, wo diese Christen und ihre Gemeinden sind, die die vier kennzeichnenden Punkte (s.u.) betonen? Hilfreich wäre es, wenn man einfach nach den Mitgliedszahlen der Evangelischen Allianzen schauen würde. Doch nur in manchen Ländern gibt es klare Mitgliedschaften von Gemeinden oder Einzelpersonen. In Litauen gibt es außerdem keine Allianz. Könnte man den Evangelikalismus vor allem lehrmäßig und dogmatisch definieren, würde womöglich ein Blick in Bekenntnisse und formulierte Grundsätze einer Kirche ausreichen. Doch der Begriff ist eben ein nicht-kirchlicher, und er ist nur zum Teil mit Lehrsätzen zu erfassen. Unklar ist die Lage, wenn sich z.B. in der offiziellen Lehre eine Kirche drei der Punkte wiederfinden lassen, aber ein Einsatz für Mission und Evangelisation bisher kaum zu erkennen ist – ich denke an meine eigene litauische reformierte Kirche. Wo sind nun also die Evangelikalen in der lutherischen und der reformierten Kirche Litauens? Gute Frage! Offen gesagt: keine Ahnung, auf welche Zahl man da kommen könnte.

Der Begriff „evangelikal“ ist leider sehr schwammig. Grob kann man sagen, dass sich die Evangelikalen der erwecklich-pietistischen Tradition zuordnen. Nun hat es in Litauen hier jedoch durch den II Weltkrieg und seine Folgen einen harten Traditionsabbruch gegeben. Das früher vor allem im Memelgebiet stark vorhandene pietistische Element ist praktisch ganz verschwunden. Die Sache wird noch komplizierter dadurch, dass „evangelikal“ als Selbstbezeichnung in einigen Ländern gar nicht oder wenig verwurzelt ist. In Litauen beginnt man seit einigen Jahren diesen Begriff zu gebrauchen, wozu auch der Autor dieser Zeilen ermutigt. Doch er hat sich noch lange nicht etabliert. Daher kommt man mit der Selbstauskunft der einheimischen Christen und Kirchenleiter nicht unbedingt weiter (d.h. die Frage „seid ihr evangelikal?“ versteht gar nicht jeder; genaue Daten gibt es zur katholischen Kirche auch deshalb, weil nun wirklich jeder die Frage, ob man sich zum Katholizismus rechnet oder nicht, begreift und eine Antwort hat.)

Die begriffliche Gemengelage ist also in Litauen recht schwierig. Man könnte es nun dabei belassen, doch dummerweise wird der als solche ‘konfessionsfreie’ Begriff „evangelikal“ dann gerne wieder zurückübertragen; konkret spricht man in der Info-Grafik ja auch von evangelikalem Gemeindewachstum. Dies setzt jedoch voraus, dass ganze Gemeinden weitgehend evangelikal sind. Natürlich gibt es diese (wie z.B. ja manche Freikirchen in Deutschland wie die FeG oder der Bund evangelikaler Gemeinden, BEG, in Österreich). Und auch in Litauen wäre hier der eine oder andere Gemeindeverband zu nennen. Doch so eng will man ja die Definition nicht halten, und aufgrund der breiteren Deutung (Evangelikale in vielen Kirchen, selbst der katholischen und der orthodoxen, also oft in der Minderheit) ist auch eine Zunahme der Evangelikalen denkbar, ohne dass die ‘rein’ evangelikalen Gemeinden wachsen. Gewiss gibt es in Litauen katholische Christen mit evangelikaler ‘Denke’. Aber wie viele? Jede Antwort wäre reine Spekulation.

Fazit: Will man Gemeindewachstum (oder -schrumpfung) messen, sollte man sich auf keinen Fall auf solche Zahlen (14.000 zu 36.000) verlassen, zumal wenn man sich im statistisch ‘gefährlichen’ Bereich von 0–1,5% einer kleinen Bevölkerung von knapp drei Millionen bewegt. Sinnvoller ist es, die Mitgliedszahlen oder Gottesdienstbesucher konkreter Kirchen und Verbände zu zählen. Oder man macht sich die Mühe und unternimmt wissenschaftliche Feldarbeit, befragt eine statistisch relevante Zahl von Christen nach ihrem Glauben und wie sie sich konfessionell einordnen. Dies wäre wirklich ein sinnvolles Forschungsprojekt! (1999 hatten wir im Auftrag des Phare-Programms der EU eine Datensammlung zu allen nichtkatholischen Religionen des Landes unternommen und dabei alle Religionsgemeinschaften, häufig Ortsgemeinden, selbst gefragt; die Kirchen und Religionen haben sich sicher hier und dort die Zahlen geschönt, aber einem realistischen Bild kam man so näher; die Ergebnisse erschienen in Buchform als Religijos Lietuvoje.)

Im Hinblick auf Litauen kann also nicht Entwarnung gegeben werden. Blöchers kritische Analyse gilt auch für das baltische Land, und zwar sicher noch mehr als für das benachbarte Lettland, das komischerweise die rote Farbe abbekommen hat…

 

„Evangelikal“sind all diejenigen, die, so Operation World,

…who generally emphasize the following:

  1. The Lord Jesus Christ as the sole source of salvation through faith in Him.
  2. Personal faith and conversion with regeneration by the Holy Spirit
  3. A recognition of the inspired Word of God as the only basis for faith and Christian living
  4. Commitment to biblical witness, evangelism and mission that brings others to faith in Christ.

Evangelicals are largely Protestant, Independent or Anglican, but some are Catholic or Orthodox.