“Der Dschungel”
Meine allererste Begegnung mit dem litauischen Volk war eine literarische. Irgendwann Anfang oder Mitte der 80er Jahre hatte ich mir Der Dschungel aus der Stadtbibliothek ausgeliehen. Gleich während der Fahrt nach Hause im Zug begann ich zu lesen. Auf den ersten Seiten wird die fröhliche Hochzeitsfeier eines litauischen Paares beschrieben. Das Schicksal von Jurgis und Ona verfolgt Autor Upton Sinclair anschließend durchs ganze Buch: Sie sind Emigranten im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts, und die Ausgelassenheit kommt bald an ihr Ende: sie geraten in die Mühlen eines unbarmherzigen, unzivilisierten Systems, einem Dschungel gleich.
Die Handlung des Dschungels spielt in Chicago, das damals Magnet für viele Einwanderer aus Osteuropa war. Bis heute ist die „windy city“ am Michigan-See die Stadt in den USA mit den meisten litauischstämmigen Einwohnern, einigen Hunderttausend. Zu ihnen gehört z.B. Hollywood-Regisseur Robert Zemeckis, und auch Ex-Präsident Valdas Adamkus verbrachte Jahrzehnte in der Stadt, half als Umweltexperte den See zu reinigen.
Autor Upton Sinclair (1878–1968) beschrieb in The Jungle in literarischer Form die Zustände in den Schlachthöfen von Chicago – vor einhundert Jahren mit Zehntausenden Arbeitern die wohl wichtigste Industrie in der Metropole. Der Roman erschien 1905 als Vorabdruck in der sozialistischen Zeitung „Appeal to Reason“, 1906 folgte die Buchausgabe. Sinclairs Schrift erreichte schnell Millionen Leser, und selbst Präsident Theodore Roosevelt lud den Sozialisten ins Weiße Haus ein.
Sinclair stammte aus Baltimore, ging zum Studium nach New York und legte schon mit 22 Jahren einen ersten Roman vor. Bis zu seinem Lebensende blieb er beeindruckend produktiv, schrieb im Tempo eines Konsalik an die einhundert Bücher. Er erlebte selbst die Nöte der unteren Mittelschicht, thematisierte in seinen Werken mit vielsagenden Titeln (The Moneychangers, King Coal, Profits of Religion) Soziales und Wirtschaft. Oil! (1927) über die frühe Ölindustrie wurde Grundlage für den preisgekrönten Film „There Will Be Blood“ von Paul Thomas Anderson (2007, mit Daniel Day-Lewis). Sinclair engagierte sich auch in der 1901 gegründeten Socialist Party of America (ihr Präsidentschaftskandidat erreichte 1912 immerhin sechs Prozent der Stimmen).
Mit Beiträgen für eine Parteizeitung hatte Sinclair einen Arbeiterstreik in den Schlachthäusern unterstützt. Danach entstand die Idee, die Arbeitsbedingungen dort zum Thema eines Romans zu machen. Solche Undercover-Recherchen wurden damals beliebt, nachdem in England William T. Stead im Londoner Prostituierten-Milieu die Arbeit von Minderjährigen in Bordellen nachgewiesen hatte. In den USA ließ sich Elisabeth Cochrane 1887 in ein Irrenhaus verfrachten, um von den Zuständen zu berichten.
Sinclair erhielt vom Herausgeber von „Appeal to Reason“ 500 Dollar, um – à la Günter Wallraff – mehrere Wochen als Arbeiter in den Schlachthöfen zu recherchieren. F. Bösch schreibt in „Ankläger mit spitzer Feder“ („Damals“ 12/2014) über die portraitierte litauische Familie: „Sie setzt auf harte Arbeit, Sparsamkeit und moralische Disziplin, hat aber unter den Bedingungen des Kapitalismus keine Chance. Die unterbezahlte und menschenunwürdige Arbeit ruiniert sie körperlich, und stets droht die sofortige Entlassung ohne Lohnauszahlung. Ausbeuterische Wohnungsvermieter, korrupte Vorgesetzte und Politiker oder schlechte Lebensmittel prägen ihren Alltag. Im Laufe der Handlung stirbt nacheinander ein Teil der Familie an Krankheiten, an den schlechten Wohnverhältnissen, an der Kälte und den Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen.“
Detailreich berichtet Sinclair von Gestank und Gewalt, von einer atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der ein Tier zerlegt und komplett verwertet wird, ja sogar von menschlichen Körperteilen, die im wahrsten Sinne verwurstet werden. Das Buch mündet schließlich in die Bekehrung von Jurgis zum Sozialismus – der verheißene Ausweg aus dem Elend.
Die Wirkung des Romans war national wie international gewaltig. Schriftsteller Jack London nannte den Dschungel großspurig „Das ‘Onkel Toms Hütte’ der Lohnsklaverei“. Auch wenn Autoren wie Sinclair nun als muckraker, als Schmutzwühler oder Nestbeschmutzer, bezeichnet wurden, konnten sie manches erreichen. Schon 1906 wurde die Fleischverarbeitung in zwei Gesetzen einer schärferen Kontrolle unterstellt.
Sinclair wollte jedoch mehr erreichen – nicht nur eine Reform von Lebensmittelhygiene. Als Sozialist war er nicht so sehr an Reformen interessiert, als vielmehr an einem grundlegenden Wandel des Systems. 1906 trat er vergeblich als Kandidat für den Kongress an. Jahrzehnte später, 1934, wäre Sinclair aber beinahe (nun jedoch mit der Demokratischen Partei) Gouverneur von Kalifornien geworden.
In Deutschland förderten besonders SPD und KPD seine Schriften. Berthold Brecht adaptierte den Stoff in „Die Heilige Johannes der Schlachthöfe“ (1932). In dieser Woche hatte im litauischen Alytus „American Dream“ Premiere, das ebenfalls auf der Romanvorlage beruht. In der DDR wurden die Bücher viele Jahre nicht verlegt, da Sinclair seinen linken Überzeugungen zwar immer treu blieb, den Kommunismus in späten Jahren jedoch kritisch sah. Erst ab den 70er Jahren wurde Sinclair im sozialistischen Deutschland wieder gedruckt.
Bis heute ist Sinclair eine Ikone der Linken und Der Dschungel Pflichtlektüre für jeden Sozialengagierten. Leider wird dabei Kritisches – wie ja auch bei der großen Ikone „Che“ Guevara – nur zu oft ausgeblendet. Man weiß inzwischen recht genau, dass Sinclair keineswegs nur Beobachtetes im Roman verarbeitete. Vieles war schlicht hinzugedichtet; manche der skandalösen Details haben wohl keine wahre Grundlage. Sinclair baute eben schon früh an seinem eigenen Denkmal.
Es stimmt wohl auch nicht, dass erst der Roman eine ernsthafte staatliche Aufsicht dieser Industrie bewirkte. Diese Aufsicht gab es durchaus schon. Ein Bericht des “Department of Agriculture’s Bureau of Animal Husbandry” widerlegte außerdem zahlreiche Vorwürfe Sinclairs Punkt für Punkt. Der Systemvorwurf zieht ebenfalls nicht, da die Zustände in anderen Städten offensichtlich viel besser waren – oder in Chicago gar nicht so schlimm wie dargestellt? In jedem Fall zeigte der demokratische Kapitalismus mit seiner freien Presse (wie ja auch im Fall des Prostitutionsskandals in London) seine Reformierbarkeit.
Auch wenn Der Dschungel als historischer Roman kritisch gelesen werden muss und auch keine großartige Literatur darstellt – mehr Einblicke in das Leben von Litauern liefert wohl kaum ein anderes weltweit so stark verbreitetes Werk.
[…] Ein Jahr studierte Adamkavičius an der Universität in München, wechselte dann aber als Mitarbeiter des amerikanischen YMCA in das DP-Lager in Augsburg. 1949 siedelte er in die USA über und landete in Chicago. Die Stadt am Michigansee war ein Zentrum der US-Litauer, da sich dort schon Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Landsleute angesiedelt hatten und in den Schlachthöfen und Fabriken arbeiten (hier mehr). […]