25 Jahre Freiheit und Demokratie

25 Jahre Freiheit und Demokratie

„Wollen Sie uns nach Jakutien bringen?“

Mitte Januar 1990 besuchte Michail Gorbatschow die litauische Sowjetrepublik. Noch einmal versuchte der Generalsekretär der KPdSU das nach Unabhängigkeit strebende Land auf den Pfad der Vernunft zu führen, und das hieß für ihn: im Herrschaftsbereich Moskaus zu halten. Der sowjetische Hoffnungsträger sprach wieder einmal von „Reformmechanismen“, hatte aber sonst den immer selbstbewusster auftretenden Litauern wenig zu bieten. Gorbatschow nutzte jede Gelegenheit, sich unters einfache Volk zu mischen, um wenigstens mit seinem Charme zu punkten. Doch auch hier stieß er bald auf Grenzen.

In Vilnius zog die Moskauer Delegation durch die riesige Werkhalle einer Fabrik für Heizöfen, begleitet von zahlreichen Journalisten. Gorbatschow sah etwas abseits einen älteren Arbeiter stehen, der in der Hand ein Plakat hielt, auf dem in russischer Sprache stand: „Nicht mehr Rechte, sondern die volle Unabhängigkeit“. Gorbatschow ging auf den Arbeiter zu und sagte: „Na, was steht denn hier geschrieben? Nicht mehr Rechte, sondern die volle Unabhängigkeit. Was für eine Unabhängigkeit?“ Der Mann antwortete: „Ich wurde in einem freien und unabhängigen Litauen geboren [also vor 1940] und will auch in einem unabhängigen Litauen sterben.“ Gorbatschow: „Wer hat Sie beauftragt, dies zu schreiben?“ Antwort: „Ich persönlich…“ Der Parteichef: „Sie haben geschrieben ‘volle’. Wollen Sie [und die Litauer] also die Union verlassen?“ Der Arbeiter: „Ja. Früher oder später…“ Gorbatschows Replik: „Sie haben an alles gedacht und wissen alles?“ Der Generalsekretär fiel langsam aber sicher aus der Rolle, fuchtelte mit erhobenem Zeigefinger, fing mit der Hand zu gestikulieren an und schrie fast schon: „Glauben Sie, dass Sie mich durcheinander bringen können?“ Seine Frau musste ihn beruhigen. Genervt zog Gorbatschow weiter. „Es wird schwer für euch werden…“, so beim Weggehen. Doch da hörte man auf einmal aus der Menge: „Wo? Wollen Sie uns nach Jakutien bringen?“ Wieder nach Sibirien verbannen wie unter Stalin?

Ein einfacher Arbeiter sagt dem Chef der Noch-Supermacht UdSSR, dass er für sein Land die Unabhängigkeit von der glorreichen Sowjetunion anstrebt, und er lässt sich auch bei Nachfragen nicht verunsichern – das hatte Gorbatschow bisher wohl noch nicht erlebt und passte ganz und gar nicht in seinen Vorstellungsrahmen. Die Episode zeigt, dass die Bemühungen des Parteichefs schon vergebens waren. Die Litauer, und auch die einfachen, ja gerade diese, hatten ein Selbstbewusstsein gewonnen, das sie die Schwierigkeiten einer Unabhängigkeit nicht mehr fürchten ließ. Der Zug war schon abgefahren. Einzig mit massiver Gewalt hätte Moskau den Freiheitsdrang der baltischen Länder noch unterdrücken können. (Vier Jahre später sollte leider genau das in Tschetschenien geschehen.)

Brazauskas Landsbergis

Algirdas Brazauskas und Vytautas Landsbergis, die dominanten politischen Akteure 1990

„Ab jetzt ist Litauen ein unabhängiger Staat“

Nur fünf Wochen nach der Visite Gorbatschows wählten die Bürger der Litauischen Sowjetrepublik erstmals ein freies Parlament. Bei den demokratischen Wahlen zum Obersten Sowjet (oder Rat) erlangten die Anhänger der 1988 gegründeten „Erneuerungsbewegung Litauens“ eine überwältigende Mehrheit (litauisch „Lietuvos Persitvarkymo Sąjūdis“, meist einfach kurz „Sąjūdis“, also „die Bewegung“). Zügig bereiteten die Leiter von Sąjūdis, allen voran Musikprofessor Vytautas Landsbergis, die Verkündigung der Unabhängigkeit Litauens vor. Denn unmittelbar bevor stand die Sitzungsperiode des neuen Kongresses der Volksdeputierten der Sowjetunion in Moskau. Bei diesem sollte ab dem 12. März u.a. das Präsidentenamt in der UdSSR eingeführt werden. In Litauen befürchtete man, dass ein neu gewählter Präsident Gorbatschow mit breiten Vollmachten womöglich den Ausnahmezustand in Litauen ausrufen könnte und das Unabhängigkeitsstreben unterdrückt. Dem wollte man unbedingt zuvorkommen.

Direkt auf die Nachwahlen Anfang März folgend trat der frisch gewählte Oberste Sowjet am 10. März zu seiner ersten Sitzungsperiode zusammen. Einige wichtige Gesetze wurden verabschiedet, darunter die Umbenennung der Staates: aus der Litauischen sozialistischen Sowjetrepublik wurde die Litauische Republik (oder Republik Litauen); das Staatswappen wurde geändert, der alte litauische Vytis, der Ritter mit Schwert zu Ross (der nun auch die litauischen Euro-Münzen ziert) wiedereingeführt. Hammer und Sichel im Sitzungssaal hängte man kurzerhand zu. Landsbergis wurde zum Vorsitzenden des Parlaments gewählt. Als die nötigen rechtlichen Strukturen geschaffen worden waren, folgte schließlich am 11. März, vor 25 Jahren, die Verkündigung der „Erklärung über die Wiederherstellung des unabhängigen litauischen Staates“.

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Die „Erklärung über die Wiederherstellung des unabhängigen litauischen Staates“ mit den Unterschriften von über 120 unterzeichnenden Parlamentariern, den „Signatarai“.

In wenigen Sätzen wird dort in sehr präzis gewählten Worten Wesentliches ausgesagt. Die „1940 von fremden Mächten zerstörte Ausübung der Souveränitätsrechte“ des litauischen Staates wird wiederhergestellt. Man beachte: „wiederhergestellt“ und nicht„ geschaffen“. Denn rechtlich und völkerrechtlich war die Republik Litauen nie untergangen; und die Souveränitätsrechte hatten immer beim Volk gelegen, nur konnte es diese nicht frei ausüben. Feierlich heißt es: „Ab jetzt ist Litauen ein unabhängiger Staat“.

Die Unabhängigkeitserklärung vom 16. Februar 1918 und die Resolution des ersten Seimas, des Konstituierenden Parlaments, vom Mai 1920 über den wiederhergestellten demokratischen litauischen Staat hatten nie ihre Gültigkeit verloren und sind Grundlage der Verfassung des litauischen Staates. Das litauische Territorium wird für unteilbar erklärt, und nicht weniger wichtig: Verfassungen anderer Staaten (also vor allem der UdSSR) haben im Land keine Gültigkeit. Der litauische Staat erklärt außerdem seine „Treue gegenüber den allgemein anerkannten Prinzipien des internationalen Rechts“. Die Unverletzbarkeit der Grenzen wird geachtet. Man bezieht sich auf die Helsinki-Schlussakte von 1975, garantiert Menschen- und Bürgerrechte.

Bewusst wurde im letzten Satz formuliert, dass der Oberste Rat nun, mit dieser Erklärung, die gesamte staatliche Souveränität „umzusetzen beginnt“. Man verwarf den Ausdruck, dass man nur danach „strebe“ oder die Souveränitätsausübung umsetzen „wolle“. Nein, hier und heute, so unterstrich man in Vilnius, beginnen wir mit der tatsächlichen Ausgestaltung der Unabhängigkeit.

 „Seine Exzellenz“

Litauen besaß als erster Staat die Unverfrorenheit, die Sowjetunion auf rechtlich sauberem Wege und demokratisch legitimiert zu verlassen. Dies war somit auch der erste Sargnagel in der UdSSR. Noch stand sie nach außen hin stabil da, war Gorbatschow im Westen als Reformer geachtet. Der Schritt der Litauer zeigte großen Mut, wusste doch niemand genau, was nun folgen würde. Am 12. März informierte man Moskau in einem offiziellen Schreiben über den Beschluss vom Vortag. Auf Vorschlag von Landsbergis redete man den Chef der KPdSU und der Sowjetunion nicht mit „Genosse“ (wie bis dahin üblich) und nicht einfach nur neutral als „Herr Vorsitzender“ o.ä. an – nun war in der Anrede auch von „Seiner Exzellenz“ die Rede.  So wenden sich hohe Staatsorgane an die Amtsinhaber in anderen Staaten. Auf dem Volksdeputiertenkongress wurde dieses Schreiben auch genau so verstanden: Litauen macht sich tatsächlich aus dem Staub und will mit uns nichts mehr zu tun haben.

Die litauische Perspektive ist natürlich eine etwas andere: Nicht die Litauer haben gleichsam die Sowjetunion hinter sich oder gar im Stich gelassen; diese ist endlich, nach 50 Jahren Besatzung, aus Litauen verschwunden. Nicht Litauen ist gegangen, denn es war nie in die UdSSR hineingegangen. 1940 wurde das Land in die Obhut Russlands gezwungen.

Geschafft!

Schwere Jahre folgten. Moskau verhängte eine Wirtschaftsblockade, im Januar 1991 waren ein Dutzend Tote in Vilnius zu beklagen. Erst im Februar 1991 anerkannte ein westlicher Staat die Unabhängigkeit Litauens: das kleine, aber stolze Island machte den Anfang. Nach dem August-Putsch 1991 folgte im Herbst die Anerkennungswelle. Wirtschaftlich ging es dann jedoch zwei Jahre nur bergab – Hyperinflation, Energiemangel, Privatisierungschaos. Gegen Ende 1993 stabilisierte sich die Lage, im Juni war der Litas als eigene Währung eingeführt worden. Ende August zogen damals auch die letzten Einheiten der Roten Armee ab. Erst dann war die erste Phase der Unabhängigkeit bewältigt.

In Litauen träumte man bald von einem Leben wie in Schweden – die „blühenden Landschaften“ des Baltikums. Gewiss ist man noch ein gutes Stück von diesem Ziel entfernt. Doch so naiv war diese Erwartung gar nicht. In seiner jüngsten Nummer vergleicht das litauische Journal „IQ“ die Entwicklung der postsowjetischen Staaten. Verschiedene internationale Indizes (u.a. HDI, GINI, BIP/Kopf, Freiheitsindex) wurden zusammengemixt. Auf einer Skala von eins bis zehn erreicht das Traumland Schweden 9,38 – gefolgt von Estland (7,22), Litauen (7,13) und Lettland (6,61). Den größten Sprung nach vorne hat dabei seit 1995 Litauen gemacht (von 5,26, Estland von 5,44). Russland kam nur von 4,85 auf 5,63, Kasachstan liegt nun bei 5,60, andere zentralasiatische Staaten weitabgeschlagen.

Warum haben es die drei baltischen Staaten so weit nach vorne geschafft? Viel ist hier natürlich zu nennen. Sie waren nicht durch territoriale Konflikte oder gar Kriege belastet wie Georgien, Moldawien und Armenien. Über die nationale Identität gab es keine große Debatte. Auch der Weg gen Westen wurde von einer breiten Mehrheit getragen. Vorteilhaft wirkte sich sicher auch das Fehlen von Rohstoffen und Bodenschätzen aus. denn Verteilungskämpfe um Öl und Gas gab es deshalb nicht. Daher konnte sich auch keine mächtige Oligarchenschicht etablieren – zumindest nicht so mächtig wie in den östlichen Nachbarländern (nicht zufällig ist der reichste Litauer, Nerijus Numavičius, mit einer Einzelhandelskette zu seinem Vermögen von über einer Milliarde gekommen).

Der vielleicht wichtigste Faktor: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – und das von Anfang an. Die Ablösung von der Sowjetunion wurde, wie gesagt, rechtlich einwandfrei umgesetzt. Es folgen Volksabstimmung im Februar 1991, neue demokratische Verfassung und regelmäßige demokratische Wahlen. Als Ende 1992 die Exkommunisten (die Demokratische Arbeitspartei) die Mehrheit im Seimas gewannen und auch noch Anfang 1993 Algirdas Brazauskas, der ehemalige Parteichef der Kommunisten, zum ersten Präsidenten des Landes gewählt wurde, wurden Ängste wach: Wird sich die alte Nomenklatur wieder etablieren? Dass solche Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen waren, zeigt das Beispiel Weißrusslands. Anders als 1926, als die „Völkischen“ (Tautininkai) gegen eine linke Parlamentsmehrheit putschten, zeigte sich die junge litauische Demokratie nun als stabil. Die Linke missbrauchte die Macht nicht, und die aus Sąjūdis hervorgegangene konservative „Heimatunion“ akzeptierte ebenfalls die neuen Regeln. 1996 fand erneut eine reibungslose Machtübergabe im Parlament statt. Inzwischen ist der unblutige Regierungswechsel feste Tradition und wird von niemandem in Frage gestellt. 2004 zeigte das Land schließlich besondere Reife, als man seinen Präsidenten, Rolandas Paksas, in einem geordneten Verfahren wegen Verletzung der Verfassung des Amtes enthob.

Die baltischen Staaten sind ein Beispiel dafür, dass Sowjetrepubliken sich zu demokratischen, freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ländern wandeln können. Der kürzlich ermordete Boris Nemzow kam gerne nach Litauen (wo er auch auf Schritt und Tritt von russischen Agenten begleitet wurde), denn hier sah er einen alternativen Weg verwirklicht. Die Ausstrahlungswirkung der baltischen Länder war aber nie so groß; immer galten die Länder an der Ostsee als ‘anders’. Putin wird nun alles daransetzen, dass mit der Ukraine nicht ein slawisches Land zu einem demokratischen, freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Vorbild für Russland wird.

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Feierliche Hissung der Flaggen der baltischen Staaten am Parlament in Vilnius, 11. März 2015

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