Der lutherische Nationaldichter Litauens
Die Wiege der litauischen Literatur steht außerhalb Litauens – im benachbarten Preußen. Hier wurde das erste Buch in litauischer Sprache gedruckt, der evangelische Katechismus von Martynas Mažvydas. Und hier verfasste Christian Donalitius (1714-1780) das erste Werk weltlicher litauischer Literatur: Die Jahreszeiten (lit. Metai) – von vielen sogar als das wertvollste der litauischen Belletristik überhaupt bezeichnet.
Donalitius (wie er sich zeitlebens latinisierend nannte) oder nun litauisch Kristijonas Donelaitis wurde vor 300 Jahren unweit Gumbinnen in „Preußisch-Litauen“ als Sohn eines Freibauern geboren. Früh starb der Vater und hinterließ die Mutter mit sieben Kindern. Der Sohn Christian kam nach Königsberg auf die Domschule. Zweiundzwanzigjährig begann er ein Studium der Theologie. Von 1743 bis zu seinem Tode 1780 wirkte Donelaitis als lutherischer Pfarrer in Tollmingkehmen, litauisch Tolminkiemis (nun russisch Tschistyje Prudy, ganz im Südosten des heutigen Oblast Kaliningrad). Sein Kirchspiel umfasste 36 Dörfer mit 3.000 Seelen, von denen ein Drittel litauischsprachig war; er hielt also Gottesdienst in beiden Sprachen.
Donelaitis war umfassend gebildet und – für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich – auch technisch interessiert: er baute Mikroskope und sogar ein Klavier. Meisterlich beherrschte er die antiken Sprachen. Vom Werk des Dorfpfarrers sind heute im Wesentlichen neben den Jahreszeiten nur sechs Fabeln erhalten. Er verfasste seine Gedichte immer in Hexametern – ein aus der antiken griechischen Literatur wie schon bei Homer bekannter Versrhythmus (ein „Sechsfüßler“, ein Vers von 13-17 Silben). Dieser Rückgriff auf das Griechische war damals noch völlig neu, die Anwendung auf eine „Bauernsprache“ wie das Litauische originell und kreativ.
In den Jahren 1765–75 schrieb Donelaitis an den Jahreszeiten: vier einzelne Gedichte („Idyllen“) über die „Freuden des Frühlings“, die „Arbeiten des Sommer“, die „Früchte des Herbstes“ und die „Sorgen des Winters“, insgesamt knapp 3000 Verse. Das Poem hat das Landleben zum Gegenstand und spiegelt die Welt seiner Bauern (lit. „būrai“) wieder. Es gibt jedoch keine fortschreitende Handlung, vielmehr eine freie Szenenfolge, möglichst vielseitige Schilderung des Bauernlebens, Episode an Episode gereiht.
Der Hauptgegenstand des Herbstgesangs ist eine litauische Hochzeit, die die Sitten von Festmahl, Trachten, Spiel und Tanz schildert. Donelaitis verbindet alles oft mit moralischem Anspruch an seine Landsleute und spart daher auch nicht mit Kritik:
Sieh, als die Hochzeitsgäste sich schon mit Behagen gesättigt
Und vom gehaltreichen Bier geschlürft recht reichliche Schlückchen,
Da vergaßen sie ganz die Gebete, wie’s christlicher Brauch sonst,
Gleich wie die Säue des Hofmanns – o eine Schand ist’s zu sagen! –
Grölten sie säuische Lieder, begannen greulich zu grunzen.
Man vermutet daher, dass einzelne Abschnitte für die Sonntagspredigt gedichtet wurden; Lehren und Mahnungen, griffig und leicht verständlich formuliert, gibt es genug: „gegen Verschwendung, Geiz, Trunksucht, modischen Firlefanz, Schmutz, Faulheit, Übermut; für Sparsamkeit, haushälterische Vorsorge, bis hin zu praktischen Rezepten, Bescheidenheit, Sauberkeit, Vätertugend usw. – ein einfacher ländlicher Tugendkanon“, wie Alfred Kelletat schreibt („Erinnerung an Christian Donalitius …“).
Der Historiker und lutherische Pfarrer Darius Petkūnas meint jedoch: „Bei näherer Betrachtung bemerkt man zwar regelrechte Homilien und daraus folgenden Belehrungen, die jedoch an keiner Stelle als homogene Predigt, sondern höchstens als ihre Fragmente bezeichnet werden können. Sehr charakteristisch sind die zahlreichen Vergleiche biblischer Sprüche mit dem Leben und Schicksal von Gottes Kreaturen in der Natur… Außerdem ist unschwer festzustellen, welche biblischen Texte er konkret benutzt, und, häufig poetisch verfremdet, an Adam und Eva, als Vertreter des sündigen Menschengeschlechts wie an seine Zeitgenossen richtet. Des weiteren sind eschatologische Themen bei Donelaitis sehr beliebt, die er zur Ermahnung nutzt, um seine Gemeindemitglieder zum gottgefälligen Leben und zur Umkehr zu bewegen. Die Behauptungen einiger frühen Donelaitisforscher…, dass Donelaitis sein Poem möglicherweise… von der Kanzel herab vorgetragen habe, ist kaum wahrscheinlich, denn er war ein sehr konservativer Pastor, dem solch “lose Reden” in der Kirche sicherlich unannehmbar gewesen sind.“
Umstritten ist außerdem, ob Donelaitis dem Pietismus anhing. Viele entdecken pietistische Überzeugungen in den Metai wegen der zahlreichen Aufrufe und Ermahnungen zu unermüdlichem Fleiß, zu Nüchternheit und Einfachheit in der Lebensführung sowie natürlich Kirchentreue. In jedem Fall wird in der Dichtung deutlich, dass sich Nordostpreußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einer Phase des Umbruchs befand: Nach der großen Pest um 1710 und der Entvölkerung ganzer Landstriche siedelten sich Salzburger, Schweizer und französischsprachige Neuenburger an, die natürlich ihr Brauchtum mitbrachten. Die Germanisierung der dortigen Litauer schritt voran. In manchen Zeilen von Donelaitis ist die Sehnsucht nach der guten alten Zeit herauszuhören:
Unsere Väter von einst, die keine Schulen noch hatten,
Kannten, wie’s scheint, keine Fibel und nicht Katechismen.
Auswendig lernten sie deshalb die heiligen christlichen Lehren,
Aber sie hielten Gott nur umso mehr noch in Ehren,
Und sie gingen zusammen an Festtagen immer zur Kirche.
Jetzt aber, Gott bewahre uns, ist’s eine Schande zusehen,
Wie die Litauer sich fast ganz französisch schon kleiden,
Kaum in die Kirche den Kopf noch stecken, ein bisschen zu hören,
Aber dann gleich in die Kneipe hinlaufen zum Spielen und Tanzen.
Manche von ihnen, nachdem sie ganz sinnlos voll sich gesoffen,
Fangen nachher gleich an, derb bäurisch und schweinisch zu schwatzen,
Nicht mehr der Worte gedenkend, die in der Kirche sie hörten.
Donelaitis Jahreszeiten waren seinen Zeitgenossen durchaus bekannt. Möglicherweise wurden sie am Litauischen Seminar in Königsberg für Studienzwecke genutzt. Zu Lebzeiten des Geistlichen wurde das Werk aber nicht gedruckt. Über die Gründe streiten sich die Experten bis heute. Ein wahrscheinlicher Grund dürfte ein politischer sein. Schließlich kritisierte der Pastor auch die Reichen als „widerliches Herrenpack“:
Aufgedunsene Dickbäuche, o ihr Gottlosen alle,
Schämt ihr euch schon, eure Hände fromm zu Gebeten zu falten
Und zum Himmel zu blicken, wenn knusprige Bissen euch munden?
Wir vom Schmutz überkrusteten Bauern, Arme in Bastschuhn,
Die, hier- und dorthin gestoßen, vielerlei Ungemach leiden,
Stecken oft kaum trockene Krusten in unseren hungrigen Magen
Und erfreun unsre Herzen alleine mit kläglichem Dünnbier,
Aber wir danken tagtäglich in Demut Gott auch noch dafür.
Doch ihr widerlich Herrnpack, stets saftige Bissen verschlingend
Und in den Wanst euch gießend immer nur kostbare Weine,
Hört gar schon auf, des Himmels und Gottes treu zu gedenken.
Fürchtet ihr euch denn nicht, zu ersticken beim Fressen von Kaviar,
Oder daß euer Haus Perkuns bis zum Grunde verbrenne?
Erst Ludwig Rhesa, der 1777 bei Nidden auf der Nehrung geboren wurde, veröffentlichte 1818 Das Jahr in vier Gesängen – ein ländliches Epos. Rhesa unterrichtete in Königsberg und war ein großer Freund der litauischen Sprache. Sein Buch enthält den litauischen Text und seine, die erste, Übersetzung.
Erst mit dem Erstarken der litauischen Nationalbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Donelaitis, der preußische Bürger und „dörfliche Hobbydichter“, zum ersten litauischen Nationaldichter, ja zum Gründer und Stifter der litauischen Literatur. In der Sowjetunion hatte man dann keine Probleme, den Geistlichen für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Bei den Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag 1964 nannte man ihn einen „mutigen Vorkämpfer für die litauischen Leibeigenen, gegen die deutschen Feudalherren.“ An der Universität in Vilnius wurde sogar ein Denkmal des lutherischen Pfarrers errichtet (was auch noch in anderer Hinsicht ironisch ist: die Universität war eine Gründung der Jesuiten im Zuge der Gegenreformation). Seine Kirche in Tolmingkehmen baute man wieder auf.
Heute gehört der Dichter in Litauen natürlich allen. Im Jubiläumsjahr wurde der 300. Geburtstag mit vielen Veranstaltungen begangen. Im Beisein des lutherischen Bischofs wurde schon im November 2013 ein Denkmal in Marijampolė enthüllt. Die Kirche in Jurbarkas ist nun nach dem Litauer aus Preußen benannt. Dass er zu einer Kirche gehörte, der sich heute in Litauen weniger als ein Prozent der Einwohner zurechnen, gerät aber oft aus dem Blick. Bei der Einweihung des nun in Bronze gegossenen Denkmal an der Uni in Vilnius (Bild ganz o.) Anfang September, mitten in der Altstadt, war kein evangelischer Geistlicher zugegen und nicht geladen. Und jüngst meinte eine Litauischlehrerin zu ihrer 11. Klasse in einem Šiauliaier Elite-Gymnasium, Donelaitis sei kein Christ gewesen – weil Lutheraner…
Zahlreiche Informationen zu Donelaitis gibt es nun auch in der Ausgabe 22 der Annaberger Annalen.
[…] Interessant ist nun der allgemeine Umgang mit diesem durch und durch religiösen Text. Schon die Kommunisten bekamen es hin, die theologische Seite vollkommen wegzudeuten. 1988, noch in der Sowjetrepublik, wurde die Nationalbibliothek nach Martynas Mažvydas benannt (Lietuvos nacionalinė Martyno Mažvydo biblioteka). Man beachte: nach einem evangelischen Pfarrer. Im gleichen Jahr schenkte sich das spätere (ab 1994) Stasys Šalkauskis-Gymnasium in Šiauliai zum 50. Schuljubiläum zwei prächtige Bleiglasfenster im zentralen Treppenhaus über dem Eingang (unsere beiden Älterten besuchen die Schule). Das eine ist Mažvydas und seinem Katechismus gewidmet, das andere dem katholiken Mikalojus Daukša und seiner Postille (Postilla chatholicka) von 1599. Wohlgemerkt: alles noch zu Herrschaftszeiten der atheistischen Kommunisten.Man kann dies Phänomen wohl nur durch selektive Wahrnehmung oder auch einfacher: durch Ausblenden von nichtgenehmen Dingen erklären. Da Mažvydas vor dem eigentlichen Katechismus eine Art kurze ABC-Schule vorgeschaltet hat (schließlich konnte damals noch kaum jemand lesen), wird die „Lehre“ der Vorrede heute gerne darauf bezogen. So stellen es heute jedenfalls die Lehre in den Schulen gerne da. Dass der Autor der Minderheitskirche der Lutheraner angehörte, erfährt kaum ein Schüler. Damit teilt Mažvydas das Schicksal des anderen großen Vaters der litauischen Literatur: Kirstijonas Donelaitis, ebenfalls ein lutherischer Geistlicher (mehr zu ihm hier). […]