Der gebrochene Vertrag
Aussagen können wahr oder falsch sein. Aussagen über etwas, nämlich die Wirklichkeit. Dies setzt voraus, dass zwischen der Sprache und der Realität irgendeine Beziehung besteht. Der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner (geb. 1929) hat diese Beziehung in seinem großen Werk Von realer Gegenwart (Real Presences, 1989) ausführlich analysiert. Er sieht einen großen Bruch Ende des 19. Jhdts. Auch davor gab es schon Skeptiker, die bezweifelten, dass wir die Wirklichkeit und Wahrheit genau erkennen können. Doch auch die radikalsten unter ihnen (Steiner nennt den antiken Pyrrhonismus, Montaigne und Hume), auch „die subversivste Antirhetorik [blieb] immer der Sprache verpflichtet. Man wusste sich ‘im Vertrauen’ auf die Sprache.“ Sie waren immer noch davon überzeugt: zwischen Welt und Sprache besteht eine Beziehung. Sie glaubten noch an einen, wie Steiner formuliert, Vertrag oder „Kontrakt“ zwischen Welt und Sprache. Steiner weiter:
„Ich bin der Überzeugung, daß dieser Vertrag zum ersten Mal in irgend fundamentalem und folgenreichen Sinne während der Jahrzehnte zwischen 1870 und 1940 in Kultur und spekulativem Bewußtsein Europas, Mitteleuropas und Rußlands gebrochen wird. Es ist dieser Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt, der eine der wenigen echten geistigen Revolutionen in der Geschichte des Westens darstellt und durch den sich die Moderne definiert“. (Wenn Steiner hier von der „Moderne“ spricht, dann meint er – im Sinne von Wolfgang Welsch – die postmoderne Moderne.)
Dann analysiert Steiner den französischen Dichter Stéphane Mallarmé (1842–1898) und dessen „Loslösung der Sprache von äußerer Referenz“ sowie „Rimbauds Dekonstruktion der Ersten Person Singular“. Steiner weiter: „Diese beiden Vorgänge und alles, was sie zur Folge haben, sprengen die Fundamente des hebräisch-hellenistischen-kartesianischen Gebäudes, in dem ratio und Psychologie der kommunikativen Tradition des Westens behaust waren. Verglichen mit dieser Zerstörung haben, so wage ich hier einmal zu behaupten, selbst die politischen Revolutionen und die großen Kriege der Geschichte des modernen Europas nur die Oberfläche berührt.“
Drastische Worte. Was soll damals passiert sein? Steiner hält zuerst Unbestreitbares fest: „Das Wort Rose hat weder Stiel noch Blatt noch Dornen. Es ist weder rosa noch rot noch gelb. Es verströmt keinen Geruch. Es ist per se ein völlig willkürliches phonetisches Kennmal, ein leeres Zeichen.“ Die Rose und das Wort „Rose“ sind nicht das gleiche. Doch Mallarmé „geht weiter, und der ontologisch kritische Schritt findet bei ihm statt“: „Worten eine Entsprechung zu ‘den Dingen da draußen’ zuzuschreiben, sie anzusehen und zu verwenden, als könnten sie irgendwie für die ‘Realität’ der Welt stehen, ist nicht nur eine verbreitete Illusion. Es macht die Sprache auch zur Lüge.“ Das Wort Rose hat mit der der Rose ‘da draussen’ nichts zu tun. Mallarmé nannte dies l’absence de toute rose – die Abwesenheit der ganzen Rose, d.h. ihre Abwesenheit in jeder Hinsicht. Genau hier stehen wir „an der Quelle philosophischer und ästhetischer Moderne [und wieder wäre postmoderne Moderne genauer], am Punkt, an dem mit der Ordnung des logos gebrochen wurde“, so Steiner. Er nennt dies „ontologischen Nihilismus“. Die Sprache bezieht sich nun nur noch auf Sprache, nicht mehr auf die wirkliche Welt.
Die Folgen ließen sich in Mallarmés Lyrik erkennen. Er wurde bekannt für seinen unklaren Stil, lehnte den literarischen Realismus ab, betonte die klangliche, musikalische Qualität der Sprache, ihre Aufgabe seit zuerst die Suggestion. Mallarme wurde so einer der Väter der modernen Lyrik. Etwas Wahres sagen macht nach diesem Verständnis keinen Sinn mehr – wahr in welchem Sinn?
Was ist die Ursache dieser Revolution? Mallarmé selbst war überzeugt: „der Himmel ist tot“. Steiner gibt es so wieder: „Gott… hat das Spiel verlassen“. Gott hat diesen Vertrag zwischen Welt und Sprache garantiert. Dies ist Steiners Hauptthese, die seinem Buch auch den Namen gab. Gleich eingangs stellt er dar, „dass jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß.“
Steiner schlägt die Brücke zu Friedrich Nietzsche: „Die Aufkündigung des Vertrages zwischen Wort und Welt… fand eine logische Entwicklung in Nietzsches Subversion von ‘Wahrheit’ und ‘Wahrheitsverkündigung’…“ Der deutsche Philosoph war ein überzeugter Atheist. Aber er hat vor allem auch die Folgen dieses Atheismus genau erkannt. Einer seiner bekanntesten Texte sind die Worte des „tollen Menschen“ aus Die fröhliche Wissenschaft (125):
„Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?“
Gott ist tot. Daran gibt es für Nietzsche keinen Zweifel. Aber ist das ein triumphierender, fröhlicher Atheismus? Klingt er befreit? Keineswegs. Wir taumeln nur noch orientierungslos durch die Gegend; wir sind ins Nichts geworfen; es ist dunkle, kalte Nacht; wir brauchen Trost. Denn der Horizont ist weggewischt. – Der Horizont ist eigentlich selbstverständlich für uns. Aber wehe dem, der z.B. bei bestimmten Wettersituationen wie nicht selten auf dem Meer oder in der Arktis keinen Horizont erkennen kann! Licht mag noch da sein, aber Orientierung ist dann unmöglich.
Die Menschen, so Nietzsche, schrecken vor den Folgen des Gottesmordes zurück. Wir wollen am „metaphysischen Glauben“ an Wissenschaft und Wahrheit festhalten, an jenem „Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist“. Selbst „Gottlosen und Antimetaphysiker“ wie auch Nietzsche schöpfen noch von diesem Glauben. Sie sind metaphorisch gesprochen diejenigen, die „unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat“. Hier fragt Nietzsche kritisch: „Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, — wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?“ (Die fröhliche Wissenschaft, 344) Mit dem Tod Gottes ist auch der Glaube an Metaphysik, Moral, Erkenntnis von ‘wahrer’ Wahrheit nicht mehr möglich.
(Bild ganz o.: Portrait Steiners von Christopher Le Brun)