Christlicher als Christus?
Der Dalai Lama, Gebet und die Feindesliebe
Der Dalai Lama ist in diesen Tagen schon das sechste Mal in Hamburg (zuletzt war er 2011 in der Hansestadt); insgesamt wohl schon über 35 Mal besuchte der Tibeter die Bundesrepublik, weshalb er sogar meint: „Deutschland ist meine zweite Heimat.“ (In Litauen war “Seine Heiligkeit” bisher drei Mal.) Aus diesem Anlass hier ein Beitrag Holgers aus dem Jahr 2008, eine litauische Version gibt es hier.
Aufstand in Tibet, Proteste gegen Peking, der gestörte Fackellauf und Boykottdrohungen – Monate vor den Olympischen Spielen tritt das Tibetproblem wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wieder schaut die Welt auf das Oberhaupt der Tibeter im Exil: auf den Dalai Lama, der im Mai – schon zum 33. Mal – Deutschland, anschließend Großbritannien besuchte. Auch wenn er nicht immer die erste Garde im Staat trifft (dieses Mal in Deutschland nicht die Kanzlerin, sondern nur eine Ministerin; mit G. Brown sprach er nicht an dessen Amtssitz), so erreicht er doch durch zahlreiche Interviews eine Massenpublikum.
Auf dem Titel des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ (Nr. 20, 2008) heißt es plakativ: „Die Welt muss uns helfen“. Im Gespräch mit „Seiner Heiligkeit“ fragten die Spiegel-Journalisten ihn nach seiner Reaktion auf die Gräuel in Tibet. Der Dalai Lama: „Ich war einfach nur traurig, tieftraurig.“ Spiegel: „Und nicht wütend?“ Der Tibeter: „Manchmal entschlüpft mir ein böses Wort, schlimm genug. Aber nein, Wut kenne ich nicht, denn Wut bedeutet, jemandem Schaden zufügen zu wollen. Mein Glaube hilft mir, solche negativen Emotionen zu überwinden und mein Gleichgewicht zu finden. Jedes meiner buddhistischen Rituale ist ein Geben und Nehmen. Ich empfange chinesisches Misstrauen und ich sende Mitgefühl…“ Das Oberhaupt der Tibeter betonte, „dass ich selbstverständlich auch für die Chinesen bete, für ihre Führung“. Sicher sehne er sich nach Tibet, aber er kenne kein Heimweh.
Interessantes war auch im Gespräch von „Welt online“ mit der Schwester von Tensin Gyatso zu lesen. Auf die Frage „Haben Sie nie Angst?“ entgegnete Jetsun Pema: „Nein, nie. Wir haben gelernt, positiv zu denken.“ Welt: „Und Ihr Bruder?“ Pema: „Der erst recht nicht. Den Optimismus haben wir ja von ihm.“ Welt: „Wird er nie müde?“ Pema: „Nein, er ist so aktiv…“
Er empfindet so gut wie keine Wut, keinerlei Angst, kein Heimweh, kein Müdigkeit; und im Buch Die Regeln des Glücks antwortet der Dalai Lama auf die Frage „Fühlen Sie sich jemals einsam?“ mit einem klaren „Nein“. – Was ist das für ein Mensch? kann man da nur fragen. Ein Übermensch? Ein Gott? Selbst Jesus, der Gott-Mensch, scheint da neben ihm zu verblassen. Der Jude ist bekannt durch sein Worte über die Feindesliebe, aber er wurde müde, empfand Wut und Traurigkeit, fürchtete sich vor der Kreuzigung. Hat der Tibeter eine höhere Bewusstseinsstufe erreicht? Ist er christlicher als Christus? V. und V. Trimondi über das Image des perfekten Vorbildmenschen/Übermenschen im Westen:
„Zeitlos, gigantisch, respektvoll, tolerant, geduldig, bescheiden, schlicht, humorvoll, herzlich, sanft, gütig, geschmeidig, erdhaft, harmonisch, transparent, rein und immer wieder lachend und lächelnd – so kennt mittlerweile jeder den Kundun… Es gibt keine positive menschliche Eigenschaft, die nicht irgendwo einmal vom Dalai Lama behauptet worden wäre. Für zahlreiche Bewohner unseres Planeten, auch wenn sie keine Buddhisten sind, repräsentiert er die respektabelste Persönlichkeit unserer Epoche“ (Der Schatten des Dalai Lama).
Der Dalai Lama „betet“ für die, die ihn bekämpfen und hassen, für seine Feinde – so wie es auch Christus bei der Kreuzigung tat (s. Lk 23,34). So etwas macht im christlich geprägten Europa mächtig Eindruck. Das Problem ist allerdings, dass der buddhistische Tibeter unter Gebet etwas völlig anderes versteht als wir Christen.
Nach jüdisch-christlichem Verständnis wendet sich ein Gläubiger im Gebet in Worten an Gott: an eine Person, den Schöpfer und Herrn des Universums; an den Vater der Gläubigen. Der Buddhismus ist dagegen eine Religion ohne Schöpfergott, ohne personales Gegenüber der Menschen. David Shenk bringt es auf den Punkt: „In der buddhistischen Philosophie ist Gebet oder irgendeine andere Form der Kommunikation von Gott und Mensch undenkbar“ (Global Gods). Und Ravi Zacharias: „es ist niemand da, an den sie [die Buddhisten] sich wenden könnten“. In Zacharias Buch Lotus and the Cross, einem fiktiven Dialog zwischen Jesus und Buddha, sagt der Jude zu dem Inder: „Deine Anhänger meditieren, sie singen, sie versuchen ihren Geist frei zu machen von jedem Verlangen; doch wie kommt es, dass ihnen hin und wieder ein Gebet ‘herausrutscht’, wenn es keinen Gott gibt, zu dem sie beten könnten?“
Echtes Gebet (Gebet, das diesen Namen wirklich verdient) widerspricht der buddhistischen Philosophie. Manchmal „rutschen“ Gebete jedoch heraus. Der aus Indien stammende amerikanische Apologet Zacharias über den Grund:
„Selbst atheistische Religionen wie der Buddhismus und pantheistische wie der Hinduismus leugnen zwar einen persönlichen, absoluten Gott, doch sie schmuggeln dennoch Formen der Anbetung herein, bei denen ein personhaftes Wesen angesprochen wird, und der Grund ist allein, dass die innere Isolation den Menschen zu einem transzendenten persönlichen Anderen hintreibt.“ (Jesus Among Other Gods)
Was ist Gebet? Die Verwirrung dürfte inzwischen in Europa fast schon ein Höchstmaß erreicht haben. In Jurga Ivanauskaitės [1960-2007; eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Litauens und zu Lebzeiten gute Freundin des Tibeters] posthum erschienenem Buch Viršvalandžiai (Überstunden) hat Gott wieder recht personenhafte Züge, tritt als Gegenüber im Gebet hervor. Im Sammelband Einu meinte sie aber noch: „Für mich persönlich ist das Gebet nicht so sehr ein Gespräch, als vielmehr die Auflösung im alles Sein umfassenden Göttlichen.“ Ähnlich östlich klingt es auch in Malda pasaulio religijose (Das Gebet in den Weltreligionen; D.L. und J.T. Carmody): „Durch Eintauchen des menschlichen Geistes in den Ozean des göttlichen Geistes, in das grenzenlose Geheimnis der göttlichen Gegenwart, befreit Gebet den Menschen und ermutigt ihn, in dieser Erfahrung letzten Sinn zu suchen.“ In Vienas Dievas, trys tiesos (Ein Gott, drei Wahrheiten) antwortet der Christ Vater C. Geffre auf die Frage „Was ist Gebet?“: „Gebet ist der Atem der Seele. Wenn ein Mensch in sich kehrt, berührt er ein Geheimnis, das ihn zum Geheimnis Gottes zurückführt und schafft eine Stille in ihm – das ist schon ein Gebet.“ Es ist geradezu tragisch, dass ein christlicher Theologe mit einer nichtchristlichen Definition von Gebet beginnt. Erst am Ende des Absatzes bekommt er die Kurve zu einem theistischen Verständnis: „Gebet hat Sinn, wenn man vor dem Angesicht dessen, den wir Gott nennen, betet…“
Die Vermischung von östlicher und westlicher Kultur ist in Litauen auch gerade unter Intellektuellen populär. Dass dadurch auch massive Probleme entstehen, wird dabei gerne unterschlagen. Noch einmal: Was geschieht im Gebet? Wenden wir uns an eine Person?
Die Position des Buddhismus ist eigentlich eindeutig. In Die Regeln des Glücks zitiert der Dalai Lama ein tibetisches „Gebet“ aus dem 11. Jhdt.: „Wann immer ich auf einen anderen treffe, möge ich mich für den Geringsten unter allen halten und den anderen als den Höchsten in der Tiefe meines Herzens bewahren… Wenn ich… Wenn andere mich… Kurz, möge ich direkt und indirekt allen Wesen Nutzen und Glück bringen, möge ich insgeheim Unbill und Leid aller Wesen auf mich nehmen!“
Hier wird sehr gut deutlich, was für einen Buddhisten Gebet ist: ich, mich, ich, kein du – ein Selbstgespräch. Im selben Buch meinte der Tibeter noch deutlicher: „Ich meine, das Gebet ist vorwiegend eine tägliche Erinnerung an unsere Prinzipien und Überzeugungen. Ich für meinen Teil rezitiere jeden Morgen bestimmte buddhistische Verse. Sie mögen wie Gebete aussehen… Meine Praxis besteht also größtenteils aus Appellen an mich selbst, bei denen ich Mitgefühl, Nachsicht und andere positive Eigenschaften Revue passieren lasse.“
Da haben wir‘s. Es sieht aus wie Gebet, ist es aber nicht. Gebet als „Appelle an mich selbst“. Etwas anderes ist eben im Buddhismus auch nicht denkbar. Mag es auch nach gewissen buddhistischen Schulen und Lehren göttliche Wesen, erhöhte Menschen und Bodhisattwas geben, die uns Menschen helfen – letztlich ist der Mensch allein und selbst für seine eigene Rettung verantwortlich. Zacharias:
„Der Buddhismus ist ein wohl durchdachter Glaube, dem Gott fehlt. Genauer gesagt, ist er eine Philosophie dessen, wie man ohne Gott ein guter Mensch sein kann, indem man sich an den eigenen moralischen Haaren aus dem Sumpf zieht. Sein Reiz ist offensichtlich. Auf sehr subtile Art und Weise ist der Buddhismus die ultimative Krönung des Individuums mit totaler Autonomie, während er gleichzeitig behauptet, dass das selbst eine Illusion ist.“ (Lotus and the Cross)
Das Christentum ist eine Erlösung- und Gnadenreligion mit einem persönlichen Gott und Schöpfer im Zentrum. Trotz manchen Elementen der Gnade hat der Buddhismus nichts Vergleichbares zu bieten. Insofern kann man sich nur wundern, wenn Ivanauskaite über ein Gespräch mit Monsignore Vasiliauskas schreibt: „Nach jeder Reise lud er mich immer zu Besuch ein und bat ‘zu erzählen, wie sie dort im Himalaya mit Gott Freundschaft pflegen’.“ („Širdies neatskiriamasis“) Allerdings pflegt dort niemand Freundschaft mit Gott! Mit einem persönlichen Gott mit großen „G“ sucht dort niemand eine freundschaftliche Beziehung (im okkult-dämonischen Buddhismus Tibets schon gar nicht!).
Gemeinsame Fotos von lächelnden „Brüdern im Geiste“ wie Mon. Vasiliauskas und dem Dalai Lama 2001 mögen eine Ähnlichkeit des Charakters ausdrücken. Von einer Ähnlichkeit der Religionen kann jedoch keine Rede sein. Zumindest nicht aus christlicher Perspektive, denn der Dalai Lama selbst sieht dies natürlich anders. In Tyra širdis (Reines Herz) heißt es:
„Auf die Frage nach dem Wesen der buddhistischen Lehre antwortet Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, in der Regel so: ‘Wenn möglich helfen Sie anderen, und wenn Sie dies nicht können, dann tun Sie ihnen zumindest nichts Böses.’ Das ist die wichtigste Lehre des Buddha. Hier gibt es zwischen den Lehren des Buddha und den Lehren von Jesus Christus keinen Unterschied. Beide lehrten, dass der Weg zur Erlösung Mitgefühl und Dienst für andere ist…“
Vielleicht hat der Dalai Lama das Wesen des Buddhismus hier richtig wiedergeben. Seine Deutung des Christentums ist aber schlicht falsch. Erlösung geschieht nicht durch Mitgefühl und Dienst für andere. Unsere Handlungen und unsere inneren Einstellung erlösen uns eben nicht. Es ist Gott, der rettet (s. z.B. Ps 3,8). Im Buddhismus rettet sich der Mensch selbst. Denn diesem fehlt der Eckstein in seiner Weltanschauung: der persönliche, souveräne Schöpfer- und Erlösergott.
Daher fehlt auch der Feindesliebe das Fundament. Der Buddhismus hat eine miserabel schlechte Erklärung für Übel und Not in der Welt (Christen haben auch nicht alle Antworten hierauf, aber ihre Antworten sind besser; übrigens ist das Böse in der Welt nur für den christlichen Glauben ein echtes Problem). Ihm mangelt es vor allem an Realismus. Die Feinde sind gar nicht so schlimm, denn der Dalai Lama ist (mit den Buddhisten) überzeugt, „dass Freundlichkeit die elementare oder tiefer liegende Natur der Menschen ist.“ Er ist der „festen Überzeugung, dass die Natur des Menschen im Wesentlichen mitfühlend und freundlich ist“; „Zorn, Gewalt und Aggression“ befinden sich auf einer „sekundären, oberflächlichen Ebene“ (Die Regeln des Glücks).
Das klingt gut, und so ein Menschenbild muss jemand wohl auch haben, der sich selbst erlösen will. Die große Stärke des Christentums dagegen ist seine Wirklichkeitsauffassung: die Welt ist völlig real; und auch das Böse ist seit dem Sündenfall knallharte Wirklichkeit. Wir Menschen sind gefallen und von Herzen, im Innersten, böse. Dieses realistisches Bild vom Menschen kann sich der biblische Glaube ‘leisten’, weil Gott uns rettet.
Ist Feindesliebe etwas Natürliches? Taizé-Gründer Fr. Roger meint: „Für das menschliche Herz gibt es nichts Natürlicheres als das Gebet für die Feinde“ (Dievas tegali mylėti, Gott kann nur lieben). Dies meint zwar ein Christ, doch solche Sätze sind unchristlicher Unsinn. Das absolute Gegenteil ist wahr. Hier wird die Feindesliebe verbilligt.
Es ist eine seltsame Feindesliebe, die der Dalai Lama verkündet, Feindesliebe auf Distanz und eine seltsam egoistische obendrein. Ihm ist – wie im Buddhismus – der Andere letztlich nicht wichtig: es geht um meine Erlösung, um meine Erleuchtung (und letztlich um die Auslöschung meines Ichs). „Bei der Entwicklung von Mitgefühl beginnen Sie mit dem Wunsch, von Leid frei zu sein und vergegenwärtigen sich, daß es Ihnen zusteht, glücklich zu werden“ (Die Regeln des Glücks). Man fängt bei sich und seinen ‘Rechten’ an. Die eigenen Feinde sind „wegen der Gelegenheit zum inneren Wachstum, die sie einem bieten, hoch zu schätzen.“ Sie sind also letztlich Mittel zum Zweck. Dies wird auch in einer Beschreibung einer Meditationsübung deutlich:
„Die Tong-len-Meditation wirkt unserer Eigensucht entgegen, indem wir uns den Leiden anderer öffnen… Konzentrieren Sie Ihre gesamte positive Energie auf sie [verzweifelte und bedürftige Menschen]. Übertragen Sie geistig Ihren Erfolg, Ihre Ressourcen und Tugenden auf diese Menschen. Anschließend visualisieren Sie, wie Sie all deren Leid, Probleme und negativen Aspekte auf sich nehmen… Auf diese Art können Sie durch ‘Geben und Nehmen’ Ihren Geist trainieren…“ (Die Regeln des Glücks).
Es gibt nun wahrlich schlimmeres als solche Meditationen, aber welchen Sinn sollen sie haben, wenn das „Geben und Nehmen“ im Geiste bleibt? Wenn wir nur mental „Energien“ übertragen? Sympathisanten des Buddhismus im Westen ergänzen solche Sätze in Gedanken und eher unbewusst dann meist mit Prinzipien aus unserem christlichen europäischen Erbe: für uns ist Mitgefühl, Geben und Nehmen, Nächstenliebe wesentlich konkret und praktisch wie beim Barmherzigen Samariter in Lk 10 – Wundenpflege, Rettung von Menschen in Not, finanzielle und zeitliche Opfer usw. Die östlichen Kulturen und Religionen haben eben keine Institutionen der Pflege von Kranken, Verletzten, Behinderten und Alten hervorgebracht.
Jesu berühmtes Gleichnis ist seine Antwort auf die Frage eines jüdischen Schriftgelehrten, wer denn sein Nächster sei (Lk 10,29). Die Geschichte zeigt, dass auch der Feind uns zum Nächsten werden kann, denn das ist ja gerade die Aussage: ein Samariter hilft dem verhaßtem Juden. Und das ganz handfest. Nächstenliebe bedeutet Pflicht zur Hilfe gegenüber jedem in Not, selbst wenn es der Feind ist.
Dies ist keine ‘Erfindung’ Jesu, sondern ein Prinzip, das sich schon im AT findet: „Hungert dein Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser“ (Spr 25,21). Auch in Lk 6,27.35 wird das Tun betont („tut wohl denen, die euch hassen“). Feindesliebe im Geiste mag wohl jedem Menschen noch irgendwie möglich sein, aber die konkrete Feindesliebe der Tat ist es nicht. Sie ist nicht das Natürliche. Sie ist dem natürlichen Menschen praktisch unmöglich, weshalb sie Kennzeichen der Christen sein soll, denen Gott ein neues Herz gegeben hat.
All dies illustriert „To End All Wars“ von David Cunnigham. Der Film beruht auf der Erzählung von Ernest Gordon, der im II Weltkrieg in japanische Kriegsgefangenschaft geriet (auch der berühmte Film „Bridge on the River Kwai“ von 1957 wurde von Gordons Bericht inspiriert). Die Japaner schaffen es, in ihrem Kriegsgefangenlager alle sozialen Strukturen unter den Briten zu zerstören, so dass unter diesen bald jeder gegen jeden ums Überleben kämpft und aus den Menschen fast Tiere zu werden drohen. Doch der selbstlose Dienst zweier Christen (eines Evangelischen und Katholiken), die ihre Mitgefangenen pflegen, ihre Rationen mit ihnen teilen und von Hoffnung erzählen, wendet das Blatt. Gordon schreibt:
„Barmherzigkeit wirkte ansteckend… Die Männer begannen weniger an sich selbst zu denken, an ihre eigenen Schwierigkeiten und Nöte, sondern vielmehr an ihre Verantwortung für die anderen… Der Tod war uns immer noch nahe, doch er hatte seinen zerstörerischen Griff verloren. Wir sahen nun den scharfen Kontrast zwischen den Kräften, die zum Leben und die zum Tod führen. Egoismus, Hass, Neid, Eifersucht, Gier, Zügellosigkeit, Faulheit und Stolz erwiesen sich als gegen das Leben gerichtet. Liebe, Mut, Selbstopfer, Einfühlungsvermögen, Gnade, Integrität und Glaube zeigten sich als die Bausteine des Lebens. Sie verwandelten unsere bloße Existenz in Leben. Sie waren Geschenke Gottes an uns.“
Was motivierte die Christen, Hass nicht mit Hass zu beantworten? Gordon sagt es an anderer Stelle eindeutig: Glaube. Nicht das Gute im Menschen – oder der Glaube an dies Gute –, sondern das Vertrauen auf den Gott, der wirklich existiert – auch wenn die Wirklichkeit um einen herum in die Verzweiflung treibt. Dieser Gott ist der Eckstein, und ohne diesen bleibt uns nur das einfache ‘Evangelium’ des Dalai Lama: „Wenn wir uns jedoch nach Kräften bemühen, gütiger und einfühlsamer zu werden und die Welt zu verbessern, können wir schließlich sagen: ‘Wenigstens habe ich getan, was ich konnte’.“ Tun, was in unseren Möglichkeiten liegt. Feindesliebe gehört fast nie dazu.