Noch nie war die Not so gering wie heute

Noch nie war die Not so gering wie heute

Gestern, am 19. August, war der „Welttag der Humanitären Hilfe“, international der „World Humanitarian Day“. „idea“ meldete unter der Überschrift „Noch nie war die Not so groß wie heute“: „Die humanitäre Not hat einen Rekordstand erreicht. 81 Millionen Menschen weltweit brauchen Hilfe zum Überleben“. Ähnlich liest man bei der Deutschen Welle (DW): „Es ist ein trauriger Rekord: Die Zahl der Menschen, die sich in einer humanitären Notlage befinden, ist so hoch wie nie zuvor. Kinder sind besonders stark betroffen. Und auch die Helfer leben so gefährlich wie nie.“

Tatsächlich gibt es aktuell genug Krisengebiete, in denen viele Menschen von akuter Not betroffen sind: der Irak und Südsudan sowie Syrien und die Zentralafrikanische Republik sind zu nennen; hinzukommen die Ebola-Epidemien in Westafrika. „Noch nie musste Unicef zusammen mit seinen Partnern vier Nothilfe-Einsätze der höchsten Dringlichkeitsstufe gleichzeitig bewältigen”, so Christian Schneider von Unicef Deutschland. 2013 organisierte Unicef 289 Nothilfeeinsätze in 83 Ländern.

Dabei wird es für die Helfer weltweit gefährlicher. „idea“ schrieb: „Mitarbeiter humanitärer Organisationen werden viel häufiger als früher Ziele von Entführungen und Angriffen… In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der verletzten, verschleppten und getöteten Helfer nahezu vervierfacht.“ Besonders Afghanistan, Syrien, der Südsudan, der Sudan und Pakistan sind ein gefährliches Pflaster. „Stand up for humanitarian heroes“, so die Kampagne der UNO.

In einzelnen Ländern ist die Not fraglos groß; der Einsatz der Hilfswerke ist gefordert; und das Risiko, das Mitarbeiter auf sich nehmen, ist wirklich in vielen Fällen heldenhaft. Dennoch machen Überschriften wie „Noch nie war die Not so groß wie heute“ und Begriffe wie „trauriger Rekord“ große Sorgen, weil sie unbedacht gewählt werden, die Wahrheit verzerren und wohl nur bestimmten Zwecken dienen.

Die akute Not mag durchaus in der letzten Zeit größer geworden sein, was vor allem auch an der Entwicklung im Nahen Osten und den Kriegen dort liegt. Und natürlich ist nicht zu bezweifeln, wenn ein Werk wie Unicef nach eigenen Angaben so viel zu tun hat, wie nie zuvor. „81 Millionen Menschen weltweit brauchen Hilfe zum Überleben“ – das ist ein klares Faktum, das sicher nach recht klaren Kriterien berechnet wird. Und diese Zahl mag wirklich eine Art Höchststand darstellen. Doch davon wird übergegangen zu Bewertungen globaler und historischer Dimension: die humanitäre Not habe einen Rekordstand erreicht und sei noch nie so groß gewesen.

Nöte gibt es viele, aber hier ist vom Überleben die Rede. Noch nie drohte so vielen Menschen der Tod durch Hunger und Krieg, durch Seuchen und Krankheit. Noch nie? Äußerungen dieser Art sind Unsinn und unverantwortlich. Sie missachten die gewaltigen Dimensionen der Not in der Vergangenheit und die Erfolge, die im Kampf gegen das Elend schon erreicht wurden.

Denn man mache sich nichts vor: „noch nie“ leitet eine historische Aussage ein, es sei denn, dies „noch nie“ wird zeitlich klar eingegrenzt (z.B. „noch nie in den letzten vierzig Jahren“). Historisch gesehen war die Not noch nie so gering wie heute – sicher in relativen Zahlen und wohl auch in absoluten Zahlen. Allein die großen Hungersnöte der Neuzeit, vor allem in Indien und China, forderten oft Millionen, ja Zig Millionen Tote. Noch im Irland des 19. Jahrhunderts wurden Millionen dahingerafft. Frankreich erlebte im 18. Jahrhundert acht Hungersnöte; allein im Winter 1709 starb eine Million – von 20 Millionen Einwohnern. Hinzu kommen die Pestepidemien, die noch vor dreihundert Jahren ganze Landstriche entvölkerten und bekanntlich im 14. Jahrhundert fast den halben Kontinent leer fegten.

Auch in der jüngeren Geschichte war die Not z.B. nach dem II Weltkrieg erschreckend groß. Selbst in Siegerländern wie Großbritannien herrschte teilweise Hunger, ganz zu schweigen von Deutschland und anderen Ländern im Osten. Weite Teile Europas lagen in Schutt, viele Millionen irrten umher oder wurden von Stalin vertrieben. Die westliche Sowjetunion war ein Trümmerfeld; auch Polen hatte besonders zu leiden. Spanien war neutral geblieben, hatte aber noch einen grausamen Bürgerkrieg in den Knochen; in Griechenland brach nun einer aus; und Partisanen kämpften in Baltikum.

Europa in den 40er Jahren war ein elendiger Kontinent, und in Asien sah es nicht viel besser aus. Auf das Grauen der Japaner folgte in China ein Bürgerkrieg. Der Korea-Krieg ab 1950 forderte Millionen Tote (vor allem auch Zivilisten), die die aktuellen Konflikte im Nahen Osten fast schon verblassen lassen. Und das Allerschlimmste kam noch: Maos „Großer Sprung nach vorne“, der in China in den 60ern Zig Millionen Opfer kostete, sicher hunderte Millionen dem Überlebenskampf aussetzte.

Das vergangene Jahrhundert war blutig und reich an Opfern. Aber historisch gesehen war es immer noch ein helles mit gewaltigen Fortschritten. Denn in Relation zur Gesamtbevölkerung nahm die Zahl der Opfer und der Menschen in akuter Not stetig ab. Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor konnten Kriege und Epidemien 10, 20 ja 50 Prozent und mehr der Einwohner eines Gebietes ausradieren. Diese Dimensionen wurden im 20. Jahrhundert nur noch von den allerschlimmsten Menschenverächtern wie Mao, Hitler, Stalin und Pol Pot erreicht, und das meist auch nur annähernd.

Natürlich geht es bei der genannten Not um Hilfe zum konkreten Überleben. Diese Not ist zu unterscheiden von der extremen Armut, die nicht immer akut lebensbedrohlich ist, aber eben doch auch Not darstellt. Und diese ist sicherlich nicht auf Rekordniveau, im Gegenteil. Noch nie war die extreme Armut in Relation zur Weltbevölkerung so gering wie heute. Bei Antritt seiner zweiten Amtszeit 1949 meinte US-Präsident Harry Truman, dass „mehr als die Hälfte der Menschen in der Welt unter Bedingungen lebt, die sich dem Elend nähern. Das erste Mal in der Geschichte besitzt die Menschheit die Kenntnisse und Fähigkeiten, das Leiden dieser Menschen zu erleichtern.“

Die Fortschritte seither, seit dem letzten Weltkrieg, waren gewaltig. Die Hälfte der viel größeren Weltbevölkerung lebt nun in einem Wohlstand, von dem Truman wohl nur geträumt hätte. Selbst in den sich entwickelnden Ländern ist die extreme Armut rasant auf dem Rückzug, verringerte sich dort zwischen 1990 und 2010 von 43 auf 21 Prozent, in absoluten Zahlen fast eine Milliarde. In den drei Jahrzehnten nach dem Beginn der Wirtschaftsreformen in China 1981 schafften es fast 700 Millionen aus dem Elend, fiel die Rate der extremen Armut im bevölkerungsreichsten Land von 84 Prozent 1980 auf sage und schreibe 10 Prozent 2013. (s. auch HumanProgress.org)

Was für eine Entwicklung! „Aber das meinen wir doch gar nicht“, so wenden Nothelfer, viele Journalisten und Vertreter von Hilfswerken ein. Aber was meint ihr dann? 80 Millionen brauchen konkrete Hilfe – das ist konkret und genügt. Und es sollte der Ehrlichkeit wegen auch einmal hier und da deutlich werden, warum es zu diesen Rekorden und zu den vielen Einsätzen kommt. Inzwischen wissen wir von Not im hinterletzten Winkel der Welt und haben auch die logistischen, technischen und finanziellen Mittel, im relativ großen Maßstab zu helfen. Die Not ist weltweit nun auf dem Radar. Und das ist eine recht neue Situation. Kaum jemand wusste, was sich im China Maos abspielte. Und selbst, wenn man etwa ahnte von den vielen Millionen Toten – was hätte man tun können? Ähnliches gilt ja für die vielen Hungeropfer in der Ukraine in den 30ern. Heute wissen wir viel mehr und können viel mehr helfen. Damit geht auch eine größere Verantwortung einher, aber die Not an sich erreicht damit noch lange nicht objektiv und historisch gesehen Rekordhöhen. Heute kann diese Not gemessen werden, und bei diesen Messwerten ist der eine oder andere Ausschlag nach oben zu verzeichnen. Warum kann man dies dann nicht klar formulieren?

Wie die Meldung bei „idea“ deutlich machte, ist die „Zurückhaltung bei Spendern“ ein Problem. Zitiert wird die Geschäftsführerin der „Aktion Deutschland Hilft“: „Wie die Aktion mitteilt, ist die Spendenbereitschaft nach Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Wirbelstürmen um ein Vielfaches höher als bei gewaltsamen Konflikten. Jedoch seien die Betroffenen in allen Fällen auf Hilfe angewiesen“. Geschäftsführer des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) in Berlin: „Gerade bei humanitären Katastrophen, die auf kriegerische Auseinandersetzungen oder politische Konflikte zurückgehen, beobachten wir häufig eine große Zurückhaltung und Verunsicherung der Spender.“

Vor diesem Hintergrund ist die Versuchung groß, in möglichst dunklen Farben zu malen und extreme Formulierungen zu wählen. „Noch nie war die Not so groß wie heute“ – kaum einer stört sich an solchen Sätzen, weil zu einer guten Tat motiviert werden soll. „Noch nie war die Not so gering wie heute“, global und historisch gesehen – warum erntet man Kritik für solche wahren Sätze? Warum heißt es dann: So darf man das doch nicht sagen! Weil es dazu führen könnte, dass jemand vom Spenden abgehalten wird? Doch ist alles zu rechtfertigen, was Menschen zum großzügigen Geben ermutigt?

Man kann den Eindruck gewinnen, dass Christen bei Nothilfe und Evangelisation gerne mal zu den saftigen Schlagzeilen greifen, die aber einer näheren Analyse nicht standhalten. Vor drei Jahren verbreitete die „Billy Graham Evangelistic Association“ im Vorfeld des Festivals der Hoffnung in Vilnius, dass in Litauen „nur ein Zehntel eines Prozentes Gläubige sind, geschätzte 3000 Christen“; „Würde man an irgendeinem Sonntag alle aus den christlichen Kirchen in eine Reihe stellen, käme man auf 3000“; „3000 Gläubige in einem Land von drei Millionen“. Alles hanebüchener Unsinn, den übrigens nicht litauische Kirchenleiter in die Welt gesetzt hatten. (Ausführlicher dazu s. hier.)

Mein Kommentar damals: „Erschreckend, mit welcher Naivität – oder Kaltblütigkeit? – nach einer nun wahrlich nicht christlichen Maxime gehandelt wird: der Zweck heiligt die Mittel. Ich will für Mission motivieren, also male ich ein Bild so schwarz wie nur möglich; ich will für Wachstum der Kirche sorgen, also rechne ich den Leib Christi vorher klein.“ Und zu ergänzen im Hinblick auf die humanitären Nöte: Ich will Hilfe zum Überleben organisieren,  also muss die Not „so groß wie noch nie“ sein.

Viele ‘saftige’ Formulierungen sind sicher eher auf Unachtsamkeit zurückzuführen. Man hat sich leider auch angewöhnt, es mit der Wahrheit nicht ganz so streng zu sehen. Noch erschreckender ist, dass viele Christen darauf angesprochen überhaupt kein Problem in solch verzerrenden Aussagen sehen.

Fazit: Die Wahrheit ist komplex und vielfältig. Die Wahrheit ist, dass Menschen in Mossul und Mogadischu, in Syrien und im Südsudan konkret ums Überleben kämpfen und Hilfe benötigen. Die Wahrheit ist, dass sich viele Helfer in Todesgefahr begeben und z.B. allein in Afghanistan vor einigen Jahren 81 Todesfälle zu beklagen waren. Doch man bleibe nüchtern: Die Angriffe auf Mitarbeiter von Hilfswerken werden erst seit einigen Jahren gemessen – man kann nur erahnen, wie viele allein im 19. Jahrhundert schon ihr Leben ließen. Die Wahrheit ist auch, dass wir so gut wie nie zuvor über die Not auf der Welt Bescheid wissen und Möglichkeiten der konkreten Hilfe besitzen, von denen die Menschen in Jahrhunderten und Jahrtausenden zuvor nur träumen konnten. Die Wahrheit ist aber eben auch: Noch nie war die Not insgesamt so gering wie heute.