3000 Christen in Litauen?

3000 Christen in Litauen?

Mission in Litauen – ist das denn nötig? Rechnen sich nicht rund Vierfünftel der Einwohner einer Kirche zu? Ähnliches gilt ja für viele Länder Europas: Meist über Zweidrittel, manchmal sogar über 90% gehören christlichen Konfessionen an. Statistiken über den Gottesdienstbesuch rücken dies Bild aber zurecht: Auf keinem anderen Kontinent besuchen die Christen ihre Versammlungen so selten wie in Europa. Allein dies zeigt schon, dass unsere Länder in weiten Teilen entkirchlicht sind und die große Mehrheit der nominellen Christen eben nur dies ist: Namenschristen, aber keine gläubigen Nachfolger Jesu. Europa ist Missionsland geworden – in diesem Urteil sind sich gerade evangelikale Christen einig.

Um dies zu unterstreichen, verfallen jedoch nicht wenige Geschwister ins andere Extrem: die Lage wird so dunkel wie nur möglich beschrieben, die Christen gleichsam zu einer verschwindenden Minderheit. Die Wahrheit und die Logik gehen dabei nur allzu oft unter die Räder.

So schreibt ein leitender Mitarbeiter einer internationalen Mission in seinem Blog über „Die Kirche in Europa“. 870 Millionen Einwohner zählt unser Kontinent, so der Brite, davon „annähernd 17 Millionen, die wir als bibelgläubige Christen ansehen können (um die 2 %)“. Gemeint sind also evangelikale im Gegensatz zu bloß nominellen Christen. Diese Evangelikalen sind in einigen Staaten stärker vertreten. In einigen Ländern geht diese Zahl jedoch „runter auf erschreckende 0,02% der Bevölkerung, die regelmäßig Kirchen besuchende evangelikale Gläubige sind. Dies bedeutet, dass man in einer Stadt von 100.000 nur 20 Christen antreffen würde!“

Nur 20 Christen? Moment mal! Hier werden wie im Vorbeigehen die Besucher evangelikaler Gemeinden direkt mit Christen – und zwar allen Christen – gleichgesetzt. Dies macht auch eine weitere Aussage unmißverständlich klar: Von allen Europäern verstehen „wahrscheinlich weniger als 20 Millionen den Anspruch Jesu, Sohn Gottes zu sein“. Dies würde bedeuten, „dass 850 Millionen einer Ewigkeit in der Hölle entgegen sehen, getrennt von der Liebe Gottes.“

All dies sei „erschreckend“, und natürlich ist das Ausmaß des Unglaubens in Europa furchterregend. Aber nicht weniger erschreckend ist der leichtfertige Umgang mit Statistik, Logik und Wahrheit. Denn die fehlenden Prämisse in dem Argument ist, dass einzig und allein evangelikale Christen Gläubige sind und dereinst gerettet werden. Diese wird in den meisten Fällen nicht direkt ausgesagt, weil kaum jemand diese harte These aufzustellen wagt. Direkt gefragt, ob man glaubt, dass es überhaupt irgendwelche Gläubige in der römisch-katholischen, orthodoxen Kirche oder in „liberalen“ evangelischen Kirchen gibt, antwortet fast niemand mit einem klaren Nein.

Holger hatte den Mitarbeiter in einer Mail freundschaftlich darauf hingewiesen, dass es in seiner Schilderung eine gravierende Lücke im Argument gibt und der Text umformuliert werden sollte. Der Brite antwortete genauso feundlich, ließ aber alles beim Alten – der Beitrag ist bis heute (2 Jahre später) unverändert.

Die pauschale Gleichsetzung von „bibelgläubigen“ Christen mit allen Christen oder allen Gläubigen ist weit verbreitet und findet sich auch in Rundbriefen angesehener Missionen. So versucht man eben den Lesern klar zu machen, dass es in Europa nicht 70%, sondern nur 2% Christen gibt – und deshalb sei Mission hier nötig.

Artikel 12 der Lausanner Verpflichtung verurteilt jedoch die unterlautere Nutzung von Statistiken als weltlich (!). Diese Warnung ist ernst und aktuell. So hieß es vor und nach dem Festival der Hoffnung 2011 in Vilnius (s. Foto o.) auf der Internetseite der Billy Graham Evangelistic Association (BGEA), dass in Litauen „nur ein Zehntel eines Prozentes Gläubige sind, geschätzte 3000 Christen“; „Würde man an irgendeinem Sonntag alle aus den christlichen Kirchen in eine Reihe stellen, käme man auf 3000“; „3000 Gläubige in einem Land von drei Millionen“. Das klingt griffig, ist aber von der Wahrheit sicher meilenweit entfernt! Gemeint sind, wie Franklin Graham selbst in einem kurzen Video erkennen ließ, evangelikale Christen (Graham jr. nennt konkret Baptisten und Pfingstler). Doch auch diese zählen in Litauen schätzungsweise mind. 10-15.000. Litauische Kirchenleiter haben diese Zahl übrigens nicht verbreitet wie eine Rückfrage Holgers ergab.

Ein Blick ins Internet hätte leicht ein anderes Bild geliefert (z.B. das Nachschlagewerk Operation World, dt. Gebet für die Welt, nennt für die einzelnen Kirchen sehr exakte Zahlen, s. hier).  Holger schrieb der BGEA über ein Kontaktformular eine Notiz, die aber – wen wundert’s –nicht zu einer Korrektur führte. Auch hier steht z.B. bis heute das Video mit Graham in Vilnius im Netz. Denn zu schön sind ja auch diese Relationen: 3000 Christen und zehn Mal so viele Besucher des Festivals (an den Abenden zusammen); 3000 Gläubige und 1700 „Erst-Entscheidungen“. Im Vorfeld heiß es auf der BGEA-Seite sogar: „Potentiell könnte die Kirche Litauens verdoppelt werden“. So rühmt man sich nun des „grossen Prozentsatzes neuer Gläubiger“. Bei einer wirklich nüchtern-positiven und realistischen Rechnung käme man auf eine Vergrösserung der evangelischen Gemeinden von etwa 2%, der Kirche Christi von vielleicht 1%. Doch solche Zahlen lassen sich eben nur schlecht potentiellen Spendern verkaufen…

Graham

Franklin Graham blickt über Vilnius: ein Land mit “3000 Gläubigen”

Erschreckend, mit welcher Naivität – oder Kaltblütigkeit? – nach einer nun wahrlich nicht christlichen Maxime gehandelt wird: der Zweck heiligt die Mittel. Ich will für Mission motivieren, also male ich ein Bild so schwarz wie nur möglich; ich will für Wachstum der Kirche sorgen, also rechne ich den Leib Christi vorher klein. Noch erschreckender: darauf angesprochen sehen viele Christen überhaupt kein Problem in diesem Vorgehen.

Wurde in den oben geschilderten Fällen gelogen? Sind Sätze wie von den 20 oder 3000 Lüge? Wahr sind sie nicht, und ob bewußt gelogen wurde, lassen wir einmal offen. Bedenkt man all dies, kommt einem Harry G. Frankfurt in den Sinn. Der amerikanische Philosoph (Jg. 1929) befaßte sich mit dieser seltsamen Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge und schuf eine neue Kategorie: „bullshit“ (On bullshit, so der Titel seines Essays/Buches aus dem Jahr 1986/2005). Was ist „bullshit“ im Unterschied zur Lüge? Ein Lügner leugnet die Wahrheit, hat sie daher immer im Kopf und respektiert sie dadurch in gewissem Sinne. „Niemand kann lügen, wenn er nicht glaubt die Wahrheit zu kennen. Um bullshit hervorbingen zu können, ist so eine Überzeugung nicht nötig“, so Frankfurt. Wer bullshit von sich gibt, Humbug oder Quatsch, den interessiert die Wahrheit schlicht nicht. Der Bullshitter plappert, ohne sich darum zu kümmern, ob sein Gequassel wahr oder falsch ist. Ihn interessiert nur, mit seinen Behauptungen irgendwie durchzukommen, Eindruck zu machen usw. Der Bullshiter verachtet die Wahrheit, er hat keinerlei Verwendung für sie. Somit ist der bullshit für die Wahrheit eine noch größere Gefahr als die Lüge und, so Frankfurt, moralisch verwerflicher als das Lügen. Dennoch neigen die Menschen gegenüber dem bullshit und den „Schwindlern und Blendern“ zu größerer Toleranz als gegenüber der Lüge. 2006 legte Frankfurt dann einen zweiten Band On Truth (dt. Über die Wahrheit, 2009) nach – „ein leidenschaftliches Plädoyer für die Wahrheit“.

Frankfurt

H.G. Frankfurt

Evangelische müssen sich inzwischen von Katholiken an die Autorität der Bibel erinnern lassen (man denke an die Fragen von Ehe, Scheidung und Abtreibung), und nichtgläubige Denker ermahnen uns, die Wahrheit hochzuschätzen – soweit sind wir schon gekommen!

Überarbeiteter Beitrag aus „Labas“, Dezember 2011