Das Wort den Italienern!
Ein „historisches“ Ereignis? Vielleicht eine Übertreibung. Leonardo De Chirico ist sich dennoch sicher: „Was am 19. Juli geschah, ist ein Meilenstein in den 150 Jahren des italienischen Evangelikalismus. Zum ersten Mal überhaupt unterzeichneten fast 100 Prozent der italienischen evangelikalen Kirchen und Verbände (85 Prozent der 500.000 italienischen Protestanten) eine gemeinsame Erklärung, in der sie ihr evangelisches Bekenntnis zum Evangelium von Jesus Christus neu bekräftigen. Diese Erklärung beinhaltet biblische Standards, um den wachsenden ökumenischen Druck von Seiten der römisch-katholischen Kirche, ihre Katholizität auf Kosten der biblischen Wahrheit zu erweitern, beurteilen zu können“.
De Chirico betont unter der Überschrift “Roman Catholic Ecumenism: Let the Italian Evangelicals Speak“, dass „die italienischen Evangelikalen wohl nie zuvor zu so einem wichtigen Thema einen so großen Konsens erreicht und mit einer Stimme gesprochen haben.“ In ein paar Sätzen umreißt der Pastor der jungen Gemeinde Breccia Di Roma die Geschichte des italienischen Protestantismus und dessen heutige Lage. Die Evangelischen des Landes hätten Gründe genug, um frustriert zu sein, da der Katholizismus immer noch privilegiert wird, doch dies solle nicht die eigene Sicht bestimmen: Die Evangelikalen Italiens wollen den römischen Katholizismus bewusst nach biblischen Prinzipien bewerten. Die englische Übersetzung der kurzen Erklärung (Italian Evangelicals on Contemporary Catholicism) befindet sich am Ende dieses Beitrags.
De Chirico darf als ein profunder Experte der römischen Kirchen gelten. Die Padua-Erklärung von 1999 stammt hauptsächlich aus seiner Feder. Seine Doktorarbeit Evangelical Theological Perspectives on post-Vatican II Roman Catholicism erschien 2003 im schweizer Verlag Peter Lang – ein Muss für jeden, der sich in die Problematik der Ökumene vertiefen will. Insofern hat es durchaus besonderes Gewicht, wenn einer der führenden evangelikalen Denker des Landes recht streng formuliert:
„Die Evangelikalen Italiens sind in zunehmendem Maße verwirrt durch die Art, wie sich Evangelikale weltweit gegenüber der römisch-katholischen Kirche und in besonderer Weise Papst Franziskus verhalten. Manche Analyse beruht auf persönlichen Eindrücken oder der evangelikal erscheinenden Sprache des Papstes oder auf Informationsfetzen, die der Komplexität des römischen Katholizismus nicht gerecht werden. Es gibt viel Naivität und Oberflächlichkeit. Die weitere evangelikale protestantische Familie ist darauf angewiesen, die Stimme der italienischen Geschwister zu hören, da sie gleichsam von innen auf den römischen Katholizismus schauen; sie tun dies mit langjähriger Erfahrung im Umgang mit seiner vollen ideologischen und symbolischen Kraft.“
Schließlich warnt De Chirico vor dem Konzept der „versöhnten Verschiedenheit“ (reconciled diversity): „Es stimmt zwar, dass Evangelikale auf die Tatsache verweisen sollen, dass wir mit denen, die Christus allein für ihre Rettung vertrauen, vereint sind; dennoch sollten sie die katholische Kirche immer noch als Institution ansehen, die radikale Reformation nach dem Wort Gottes benötigt. Es gibt keine ‘versöhnte Verschiedenheit’ mit Sünde und Rebellion… Wenn Evangelikale den ‘versöhnte Verschiedenheit’-Ansatz auf die römisch-katholische Kirche, so wie sie sich heute zeigt, anwenden, werden sie aufhören, eine prophetische Stimme des Evangeliums zu sein, und sie werden Teil der heutigen religiösen Kakophonie werden… Biblisch gesprochen verkennt die ‘versöhnte Verschiedenheit’ in erheblichem Maße die Natur der römisch-katholischen Kirche und ist somit der Aufgabe, die Einheit in biblischer Wahrheit und Liebe zu erhalten, nicht treu.“
Hintergrund der Erklärung der italienischen Allianz, nun geleitet von Giacomo Ciccone (s. Bild ganz o.), und verschiedenen Pfingstbünden ist gewiss auch das Treffen von drei evangelikalen und drei charismatischen Leitern mit dem Papst am 24. Juni. Von Seiten der World Evangelical Alliance (WEA) nahmen Generalsekretär Geoff Tunnicliffe, der Globale Botschafter der WEA, Brian Stiller, sowie aus Deutschland Thomas Schirrmacher, Vorsitzender der Theologischen Kommission der WEA, teil.
Laut Schirrmacher war man von der WEA „nicht in offizieller Mission“ dort (Interview mit „Pro – das Medienmagazin“). Dennoch stieß das mehr oder weniger private Treffen bei der Allianz Italiens (AEI) übel auf, ganz übel sogar. Vier Tage später brachte die Allianz ein offizielles Statement dazu heraus: „Remarks on the visit to pope Francis by a WEA delegation“ (auf der Seite der AEI unter “News”).
Offensichtlich war die AEI, die ebenfalls ihren Sitz in Rom hat, von dem Besuch vorher nicht informiert worden. Sicher wird dies von Seiten der WEA mit dem privaten Charakter der Begegnung begründet. Wenn jedoch das Spitzenpersonal der WEA mehr oder weniger komplett im Vatikan, also praktisch um die Ecke, auftaucht, ist es letztlich recht belanglos, wie nun genau so ein Besuch in der Diplomatensprache etikettiert wird. So wundert es nicht, dass die AEI ihre „Enttäuschung“ ausdrückt, dass man nur aus der Presse von allem erfuhr und nicht vorher konsultiert worden war; dies stünde im Widerspruch zu bisherigen Richtlinien.
Man knüpft an die Bewertung des römischen Katholizismus im WEA-Dokument „Evangelical Perspective on Roman Catholicism“ aus dem Jahr 1986 und in der Padua-Erklärung an. Anschließend weisen die Autoren betonend auf die Tatsache hin, „dass Papst Franziskus eine charmante quasi-evangelische Sprache verwendet“. Diese ist aber von seinem intensiven Glauben an Maria, von Ideen, die der liberalen Theologie entstammen, und von einer universalistischen Spiritualität kaum zu trennen. „Diese gemischte Theologie steht im Konflikt mit dem biblischen Evangelium, wie es im Glaubensbekenntnis der WEA verankert ist.“
Die Italiener bringen aber auch hier ihre eigene Perspektive ein. Sie weisen auf eine jüngste Wiederveröffentlichung eines Buches von Bergoglio, also des heutigen Papstes, hin: „Chi sono i Gesuiti (Bologna, 2014) zeigt, dass er denkt, dass die protestantische Reformation die Wurzel aller Übel im Westen ist…“ De Chirico ist in “What Francis Really Thinks of the Reformation (and of Calvin in Particular)“ auf seinem Blog vaticanfiles näher auf den Inhalt eingegangen (seine Blogeinträge auf Spanisch übrigens hier). Was soll man davon halten, wenn der Papst sich gerne hier und dort (wie jüngst gegenüber Pfingstpastoren) „privat“ für Untaten seiner Kirchen entschuldigt und um Vergebung bittet, er aber in einer aktuellen Veröffentlichung in Italien immer noch auf Luther und Calvin eindrischt?
Schließlich wird die Beziehung der AEI zur weltweiten evangelikalen Bewegung betrachtet. Seit 1974 gehört die italienische Allianz zur WEA (damals noch WEF). Sie lädt den globalen Dachverband zur Klärung der weiteren Richtung in den Beziehungen zur Rom ein. Man ist – und hier wird es natürlich brisant – „offen“ für den Gedanken einer möglichen Aufkündigung der Mitgliedschaft in der WEA, falls diese „gewillt ist, ihre historische Position [in Bezug auf Rom] zu ändern“.
Die AEI hätte wohl kaum ein Treffen empfohlen, bei dem Tony Palmer teilnimmt (im Gruppenfoto ganz rechts). Der Bischof einer Episkopalkirche gehörte zu den engeren Vertrauten des Papstes und setzte sich für einen Zusammenschluss der Konfessionen ein (vor zehn Tagen verstarb er an den Folgen eines Verkehrsunfalls; s. auch hier). Schirrmacher würdigt Palmer als einen „Brückenbauer zwischen den Konfessionen“ (s. hier), doch über diese Brücke wollen die Evangelikalen Italiens und auch anderswo sicher nicht gehen. Denn Palmer glaubt (wie aus seinen nicht wenigen Videobotschaften ersichtlich ist), dass die reformatorischen Kirchen und Rom tatsächlich „dasselbe Evangelium“ verkündigen und dass Luthers Protest nun gegenstandslos, d.h. die Reformation vorbei sei.
“Christianity Today” hat den WEA-Besuch und die Entschuldigung bei den Pfingstlern thematisiert (“Popes Franics Apologizes for Pentecostal Persecution, But Italy`s Evangelicals Remain Wary“). Zitiert wird dort auch Dale M. Coulter von der Regent University, der im katholischen Journal “First Things” zu bedenken gibt (s. hier), dass De Chirico nicht unbedingt für alle Evangelikalen des Landes spricht und die evangelikale Bewegung Italiens komplexer ist als es die Erklärung erscheinen lässt. Möglicherweise. Dennoch ändert dies nichts daran, dass die Italiener grundsätzlich richtig vorgegangen sind: an einem runden Tisch wurde von offiziellen Vertretern bestimmter Bünde und Organisationen beraten und ein gemeinsames Dokument verabschiedet.
CT zitiert außerdem Brian C. Stiller, Global Ambassador der WEA, der ja ebenfalls an dem Treffen mit Franziskus teilgenommen hat. Auf seinem Blog gibt er Einblicke in die Begegnung mit dem Papst. Gewiss ist Stiller zuzustimmen, wenn er Konsultationen der Evangelikalen mit Vertretern Roms verteidigt. Sie sind heute nötig, und selbst freundschaftliche Kontakte mit dem Papst stellen als solche kein Problem dar.
Stiller berichtet, dass man über das Konzept der “reconciled diversity” gesprochen hat. Denkbar, dass De Chirico genau deshalb kritisch darauf eingeht. Die Antwort des Bischofs von Rom auf die Frage nach dem Herzen für Evangelisation: “I’m not interested in converting Evangelicals to Catholicism. I want people to find Jesus in their own community. There are so many doctrines we will never agree on. Let’s be about showing the love of Jesus.” Schön gesagt. Und vielleicht glaubt Franziskus dies sogar von ganzem Herzen. Doch unter Freunden sollten dann auch Rückfragen denkbar sein: Warum dann die Neuauflage seines reformationskritischen Buches? Und wann werden diesen Worten echte Taten folgen? Wann werden sich solche Überzeugungen in der Lehre und Dogmatik der Kirche Roms widerspiegeln? Was will das mächtige Oberhaupt Roms konkret dafür tun?
Angesichts der Charmeoffensive des Papstes wird es höchste Zeit, auf die Evangelikalen Italiens, Polens, Spaniens, Sloweniens usw. zu hören; auf die Stimme der Geschwister in katholisch dominierten Ländern (hier wäre natürlich auch Litauen zu nennen, wobei es dort noch keine nationale Allianz gibt). Theologen in diesen Ländern ergreifen durchaus das Wort und richten sich an die Evangelikalen in anderen Ländern. 2005 hieß es in einer idea-Meldung: „Naivität im Umgang mit der katholischen Kirche wirft ein führender Evangelikaler Italiens der internationalen evangelikalen Bewegung vor. Viele Evangelikale seien nicht in der Lage, das System des Katholizismus und seine Pläne zu durchschauen, erklärte der Vizepräsident der Italienischen Evangelischen Allianz, Leonardo De Chirico (Padua), in einem Interview mit der Zeitschrift „Bekennende Kirche“ (Reiskirchen bei Gießen). Man dürfe sich nicht ein paar Aspekte des Katholizismus herausgreifen, die einem gefallen, und darüber die unbiblischen Lehren der Kirche übersehen.“
Wie aktuell solch eine Warnung ist, wird im Gespräch von Schirrmacher mit „pro“ über den jüngsten Besuch beim Papst deutlich. Immerhin der oberste theologische Repräsentant der weltweiten Allianz nennt „Evangelii Gaudium“ dort ein „ausgezeichnetes Apostolisches Schreiben“; es enthielte „bis auf das Schlusskapitel über Maria eine schon fast evangelikal zu nennende Bibelarbeit über Evangelium und Evangelisation“. Gewiss sind ganze Abschnitte des Dokuments auch aus evangelikaler Sicht sehr positiv zu bewerten. Manche Äußerungen hat man so von einem Papst noch nicht gehört. Es wäre falsch, die erfreulichen Seiten von „Evangelii Gaudium“ zu ignorieren. Doch wieso das kaum zu übertreffende Gütesiegel “ausgezeichnet”? Würde “in Teilen gut” nicht reichen? Und warum „fast evangelikal“? Fast schon in unserem Lager? Schon fast ganz biblisch? Aus der Perspektive eines katholisch dominierten Landes kann ich dieses Lob nicht teilen (s. hier). Auch ein profunder Kenner des Katholizismus wie Schirrmacher sollte wohl besser darauf achten, kein Beispiel der von De Chirico beklagten Naivität abzugeben.
S. übrigens auch hier zu einer Erklärung der Allianzen von Polen, Spanien, Frankreich und Italien zu Franziskus vom Herbst letzten Jahres (hier eine Meldung der EAI in italienischer Sprache). Hier ein Grundlagenpapier des spanischen Allianz zur katholischen Kirche, Ökumene und Dialog. Gewiss ist aber auch auf die Evangelikalen Argentiniens zu hören, die ihren Landsmann positiver als die Europäer sehen (s. hier).
Der Wortlaut der Erklärung:
Following a round table promoted by the Italian Evangelical Alliance, the Federation of Pentecostal Churches, the Assemblies of God in Italy, the Apostolic Church, and the Pentecostal Congregations held in Aversa on 19th July 2014 at the Pentecostal College of Religious Sciences on the topic of “Roman Catholicism in Evangelical Perspective,” the above mentioned churches and bodies, being alerted by the recent ecumenical openings by national and international evangelical and Pentecostal circles with regards to the Roman Catholic Church and its present-day pontiff, without passing judgment on the faith of individual people, believe nonetheless that it is incompatible with the teaching of Scripture to have a church that operates as mediator of salvation and that presents other figures as mediators of grace since God’s grace comes to us by faith alone in Jesus Christ alone (Ephesians 2:8) and without the agency of other mediators (1 Timothy 2:5).
They also believe that it is incompatible with biblical teaching to have a church that took the liberty to add dogmas (such as the Marian dogmas) to the faith once and for all delivered to the saints (Jude 3; Revelation 22:18).
They also believe that it is incompatible with the teaching of Scripture to have a church whose heart is a political state that is a legacy of an “imperial” church from which it has inherited titles and prerogatives. Christian churches must refrain from imitating “the princes of this world” and follow the example of Jesus who came to serve and not to be served (Mark 10:42-45).
Furthermore they also believe that what appear to be similarities with the evangelical faith and spirituality of sectors of Roman Catholicism are not in themselves reasons for hope in a true change.
All the standing theological and ethical differences considered, they cannot initiate nor advocate for ecumenical initiatives with regard to the Roman Catholic Church.
They invite all evangelicals at the national and international levels to exercise a healthy biblical discernment (1 John 4:1) without falling into unionist initiatives that are contrary to Scripture and instead renew their commitment to take the gospel of Jesus Christ to the whole world (Matthew 28:18-20).
Nachtrag vom 1. August – „tiefgreifende Veränderungen“?
Erst gestern stieß ich auf Schirrmachers ausführliche Bewertung des Apostolischen Schreibens Evangelii Gaudium vom 29. Juli (Evangelii Gaudium: Der Papst zur Evangelisation –„Eine Neuausrichtung des Papsttums“). Dazu meine Stellungnahme.
Auffällig in Schirrmachers Analyse ist die Tatsache, dass er nur den Schluss (und die anderen Passagen) über Maria kritisch sieht. Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber in jedem Fall ist der Eindruck doch eindeutig: alles tatsächlich ausgezeichnet, fast evangelikal und nicht grundsätzlich zu kritisieren oder zu hinterfragen.
Kann das wirklich sein? Nun kann es nicht darum gehen, einzelne Haare in der Suppe zu suchen. Die würde wohl auch Schirrmacher finden, und an einigen Stellen äußert er sich auch vorsichtig in diese Richtung. Aber man muss sich doch fragen: ein lehramtliches Schreiben des Papstes, und das katholische Paradigma bzw. System scheint nirgendwo durch? Das wäre tatsächlich eine echte Revolution, aber die kann ich nicht erkennen.
Schirrmachers Nichtkritik ‘riecht’ nicht unbedingt nach Objektivität. Nun ist es ihm vorbehalten, Negatives herauszugreifen oder eben nicht. Der Leser gewinnt jedoch den Eindruck, dass es – abgesehen von Maria – so gut wie nichts gibt, was von Evangelischen abzulehnen wäre. Gegen Ende nennt er die „alten theologischen Unterschiede“ – und in dem Schreiben zeigt sich so gut wie nichts davon? Gewiss ist solch ein Blog-Eintrag kein offizielles WEA-Statement, doch solch nun eher einseitige Akzente schaffen in katholisch dominierten Ländern sicher kein Vertrauen.
Hier in Litauen wandert schon eine Weile eine CD mit übelster antikatholischer Propaganda durch die evangelischen Gemeinden. In Ländern, in denen Evangelische eine verschwindend kleine Minderheit darstellen, werden Verschwörungstheorien und Dämonisierungen nur zu gerne geglaubt. Antikatholizismus und Antiökumene können jedoch nicht die Antwort sein, weil sie meist selbst die Wahrheit verzerren. Wir brauchen Treffen mit dem Papst, und wir brauchen genauso Nüchternheit und möglichst große Objektivität im Umgang mit Rom. Und in diesem Zusammenhang glaube ich nicht, dass der „Enthusiasmus“ über die neue Persönlichkeit auf dem Thron des Petrus hier wirklich weiterhilft. Der Argentinier mag tatsächlich ‘ganz anders’ sein. Und die evangelikale Gemeinschaft soll und muss, auch aus persönlicher Erfahrung, über den Papst und Neues im Vatikan informiert werden. Aber muss man sich dafür fast schon als Apologet von Franziskus gerieren?
Schirrmacher bezeichnet folgenden Abschnitt als die „unglaublichste Aussage im Dokument“ (zitiert sie auch zwei Mal im Eintrag):
„In allen Getauften, vom ersten bis zum letzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes, die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Gottes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung, die es ‚in credendo‘ unfehlbar macht. Das bedeutet, dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben auszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit und führt es zum Heil.“ (119)
Sein Kommentar: „Genial! Denn hier wird es nun wirklich radikal. Der nach katholischer Lehre unfehlbare Papst sagt, dass das gesamte Volk Gottes, ja jeder Christ „unfehlbar“ ist, wenn er glaubend das Evangelium verkündigt! Der Papst interpretiert die Unfehlbarkeit der Kirche neu – um der Evangelisierung willen. Hätte ich das geschrieben, hätte jeder einen Seitenhieb auf die katholische Lehre darin vermutet. Ich sehe den Papst schmunzelnd vor mir, als er das schrieb. Und dennoch hat er Recht. Es gibt nichts Unfehlbareres als das Evangelium von Jesus Christus, wenn wir es recht glauben und anderen bezeugen.“
Ja, „der Papst interpretiert die Unfehlbarkeit der Kirche neu“. Aber ist das „nun wirklich „radikal“? Tja, vielleicht sogar neu und anders. Man muss jedoch ein äußerst wichtiges charakteristisches Element des römisch-katholischen Systems beachten, dass De Chirico in seinem Buch lat. et–et nennt, das alles durchziehende „sowohl–als auch“. Nur dadurch ist der konservative, ja manchmal starre Grundcharakter verbunden mit einem Geist der Erneuerung zu erklären; und nur so ist die ungeheure ‘Spannweite’ der Kirche zu verstehen.
Sehr deutlich wird dies ja bei der Frage der Heilsexklusivität. Immer noch ist das Heil einerseits an die Zugehörigkeit zu Rom gebunden, aber andererseits ist es nun auch real außerhalb zu finden. Protestanten erscheint dies mitunter widersprüchlich (und in vielerlei Hinsicht ist es dies auch), für Katholiken ist dies nur Ausdruck ihrer herausragenden Bedeutung und Weite zugleich. Dies führt praktisch dazu, dass z.B. Evangelische sowohl zurück nach Rom gerufen werden, als auch nicht zurückgerufen werden. Der Teufel liegt wie immer im Detail (katholisch Getaufte müssen nach wie vor zurückkehren).
Um wieder zum zitierten Abschnitt zu kommen: Es ist im katholischen System gar kein grundsätzliches Problem, die Unfehlbarkeit des Papstes bzw. der Kirche neu zu definieren und andere Definitionen im Sinne des et–et zu ergänzen. Böse formuliert könnte man das als genial schlau betrachten; aus protestantischer Perspektive sehe ich hier keine Genialität im eigentlichen Sinne, auch wenn tatsächlich von einem Fortschritt zu reden ist. Außerdem sollte nicht über den ersten Satz („alle Getauften…“), der aus evangelikaler Sicht ja nun wahrlich zu verwerfen ist und ein Bündel von Problemen aufwirft, nicht einfach so hinweg gegangen werden.
Richtig interessant würde es dann werden, wenn der Papst den Rahmen des et–et sprengen würde, d.h. echte lehramtliche Korrekturen, echte, substantielle Kritik des katholischen Lehrmaterials liefern würde. Da dies jedoch Anerkennung von Fehlern beinhaltet und z.B. Dogmen nicht abgeschafft werden können, bleibt nur die Politik der Erweiterung, der „konzentrischen Kreise“. Es gibt reale Fortschritte (nicht mehr alle Protestanten sind pauschal Häretiker), aber wirklich radikale Änderungen kann ich nicht erkennen.
Schirrmacher gesteht selbst ein: „Papst Franziskus ist nicht vor allem Dogmatiker oder daran interessiert, ältere katholische Texte aufzuarbeiten oder das Kirchenrecht zu ändern.“ Richtig. Doch da die katholische Kirche ja im Kern eine dogmatisch und kirchenrechtlich begründete, definierte und abgrenzte Kirche ist, geht’s doch erst hier ans Eingemachte. Würde Franziskus einer charismatischen, bekenntnisfreien evangelikalen Kirche vorstehen, könnte er vielleicht seine Radikalität direkt unter Beweis stellen und umsetzen. Tut er aber nicht.
„Aber Papst Franziskus ist niemand, der Veränderungen vor allem durch amtliche Lehraussagen oder neues Kirchenrecht bewirkt, sondern indem er Fakten schafft“, so Schirrmacher. Da haben wir ja das Dilemma. Tatsächlich können die Päpste ‘wie wild’ Fakten schaffen. Da reicht ein Papst einem Protestanten das Abendmahl, was ‘eigentlich’ nicht geht; da entschuldigt sich der neue für Unrecht, besucht diesen und jenen. Fakten, gewiss. Und natürlich auch irgendwie Veränderung. Aber nun z.B. Franziskus kann haufenweise ‘Veränderungen’ schaffen, aber gleichzeitig die Hand nicht an die dogmatische Grundlage legen. Konkret: Entschuldigung bei den Pfingstlern – kein Problem; aber das Hauptunrecht, die Verweigerung des Status als Kirche in vollem Sinne – über diesen Graben springt er nicht.
Franziskus ruft jeden auf, „noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen.“ (3). Schirrmacher zu diesen und andere guten Aussagen: „Wichtig ist dabei aber die Beobachtung, dass solchen Aussagen nicht mehr sofort einschränkend etwas zur Wichtigkeit der Kirche, der Priester oder der Sakramente folgt, sondern solche Aussagen für sich stehen bleiben.“
Das stimmt, aber damit verschwindet dieser „einschränkende“ Kontext ja nicht, er hat sich nur erweitert. Das Dumme ist ja, dass von dem Papst neben zumindest evangelikal klingenden Sätze auch so etwas zu hören ist wie am 22. Mai 2013 im Vatikan: „Der Herr hat uns alle erlöst, uns alle, mit dem Blut Christi: alle von uns, nicht nur die Katholiken. Jeden! ‘Vater, und die Atheisten?’ Auch die Atheisten, jeden, und das Blut macht uns zu Kindern Gottes der ersten Klasse!“ Man hört von ihm eben sowohl Evangelistisches, als auch Formulierungen, die an Karl Rahner erinnern.
Wenn er dann schreibt, dass „wir rasch auf gemeinsame Formen der Verkündigung, des Dienstes und des Zeugnisses zugehen können“, wenn wir uns denn „auf die Überzeugungen konzentrieren, die uns verbinden, und uns an das Prinzip der Hierarchie der Wahrheiten erinnern“, dann ist die Message eindeutig: gemeinsames Evangelisieren. Der Druck in diese Richtung ist in katholisch dominierten Ländern manchmal stark zu spüren, und z.B. die evangelikalen Studentenmissionen in diesen Ländern sehen durchaus, dass solch eine Kooperation für sie existenzgefährdend sein kann.
Wenigstens kurz ist auf die Aussagen des Papstes zu Wirtschaftsfragen einzugehen. Schirrmacher stellt sich auch hier hinter Franziskus, zitiert zustimmend Frank A. Meyer, der ihn als „Kapitalismus-Reformer der Stunde“ bezeichnet. Ich kann dies beim besten Willen nicht nachvollziehen. Der Papst zeigt sich in den Passagen zur Wirtschaft nicht von seiner kenntnisreichen Seite; das Thema brennt ihm zwar auf der Seele, aber, mit Verlaub, hier bestehen bei ihm schlicht Kompetenzmängel (weshalb ihn Katholiken wie Samuel Gregg oder Robert Sirico ja auch kritisiert haben). Es gibt natürlich Mißstände in der Weltwirtschaft, aber häufig schießt Franziskus gewaltig übers Ziel hinaus. Die vollmundigen Äußerungen bleiben leider meist im Ungefähren und Allgemeinen. Um Reformer des Kapitalismus zu sein, müsste man sich zuerst einmal in die Funktionsweise der Marktwirtschaft hineindenken, sie begreifen. Der Papst schlägt dagegen wie wild um sich und sitzt auf einem hohen moralischen Ross. Würde er mal so über seine heimatliche argentinische Regierung reden, die eine in Teilen schreckliche Wirtschaftspolitik macht und das Land noch ganz ruinieren wird. Aber nein, es sind, wie in diesen Tagen gemeldet wurde, die bösen Hedgefonds, die Argentinien in den Abgrund treiben…
Im Abschnitt „Evangelisation“ schreibt Schirrmacher: „Der katholischen Kirche stehen mit diesem Dokument tiefgreifende Änderungen bevor, wo immer sie es ernst nimmt. Für nichtkatholische Christen wird es spannend sein, ob die gewaltige Zahl katholischer Christen auf diesen Weckruf hört oder nicht. Wohlgemerkt: Die katholische Kirche ist keine schnittige und wendige Yacht, die der Papst mal eben wendet, sondern ein riesiger Tanker, der nur behäbig und mit gewaltiger Anstrengung seinen Kurs halten oder ändern kann. Doch wenn der Kapitän dieses Tankers Kurskorrekturen anmahnt, muss man aufhorchen, auch wenn man realistisch wissen muss, dass niemand genau weiß, welche Konsequenzen das im Einzelnen haben wird.“
Das ist vielfach richtig und ausgewogen formuliert. Die entscheidende Frage lautet aber: Ist Rom wirklich auf neuem Kurs? Um im Bild zu bleiben: Umbauten am Schiff, neue Takelage, neuer Anstrich und vielleicht auch eine neue Route; neuer Stil, neuer Ton, neue Akzente – all das gibt es wohl. Eine neuer Kurs? „Kurskorrekturen“ ist leider eben nicht so ganz eindeutig. Was würden evangelikale Geschwister in Brasilien und den Philippinen, in Spanien und Polen, in Litauen und Italien sagen? De Chirico hat es ja schon mehrfach so ausgedrückt: Rom ruft nicht mehr im Befehlston zurück, nun werden die Protestanten umarmt. Viele Evangelikale in diesen Ländern empfinden keinen „Enthusiasmus über lang ersehnte Veränderungen“. Die WEA-Spitze muss auch auf sie hören.
[…] Erfahrung. Nun zeigt aber die „Debatte“ zwischen den WEA-Vertretern und dem Italiener einmal wieder, dass die Chemie hier irgendwie nicht stimmt – wer auch immer dafür die Hauptverantwortung […]