Für Riga sterben?
Heinrich August Winkler gehört zu den angesehensten deutschen Historikern. Mit dem dritten Band wird der ehemalige Professor der Berliner Humboldt-Universität seine monumentale Geschichte des Westens im Herbst abschliessen. In der vergangenen Woche gab der 1938 in Königsberg Geborene dem „Spiegel“ ein Interview: „Eine große Schweiz“ (26/2014). Da Winkler dort auch zur Sicherheitslage in Zentraleuropa Stellung genommen hatte, fand der Beitrag auch in Litauen recht großes Echo und wurde in Teilen auf dem katholischen Portal bernardinai.lt hier wiedergegeben.
Der Historiker sieht kritisch, dass die feste Verankerung Deutschlands im westlichen Bündnis von weiten Teilen der Bevölkerung infrage gestellt wird. Putin, so gibt Winkler zu bedenken, wird besonders auf Seiten der deutschen Linken erschreckend naiv gesehen, seine Wendung ins Radikale „völlig ausgeblendet“. Aber auch das andere politische Lager bekommt sein Fett weg: „Wenn zum Beispiel Alexander Gauland von der Alternative für Deutschland sinngemäß sagt, das Einsammeln russischer Erde sei eine ganz nachvollziehbare Politik, dann kann ich nur sagen: Das ist völkischer Nationalismus in Reinkultur.“
Winkler vermisst die „deutlichen Ansagen“ der deutschen Politiker. Umso mehr verteidigt er das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik, das gerade wegen dieser Ansagen in die Kritik geriet: „Ich habe es sehr begrüßt, dass Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz klare Worte gefunden hat und einforderte, dass Deutschland sich international stärker engagieren muss.“
Die „Spiegel“-Journalisten bringen es auf den Punkt: „Glauben Sie, dass Deutschland bereit wäre, für das Baltikum in den Krieg zu ziehen?“ Diese Frage stellt man sich tatsächlich auch in Tallinn, Riga und Vilnius. Winkler unumwunden: „Das ist die Gretchenfrage an das Selbstverständnis der Deutschen. In Artikel 5 des Nato-Vertrages steht, dass ein Angriff auf ein Nato-Land einem Angriff auf alle Nato-Länder gleichkommt. Das ist der Kern der Beistandspflicht. Wenn Artikel 5 nicht mehr gilt, ist die Nato tot. Dann steht aber auch unsere eigene Sicherheit existentiell auf dem Spiel.“
Diese Erkenntnis hat es in Deutschland, das schon Jahrzehnte von befreundeten Staaten umringt wird, schwer. Zumal man sich wegen der wenig ruhmreichen Vergangenheit gerne Zurückhaltung in militärischen Fragen auferlegt. Winkler sieht auch dies nüchtern: Jahrzehntelang war Deutschland „nicht im Besitz der vollen Souveränität. In dieser Zeit lebten wir in einer weltpolitischen Nische…“ Aber gleichzeitig warnt er auch: „Viele Deutsche sympathisieren immer noch mit der Vorstellung, Deutschland könne so etwas sein wie eine große Schweiz mitten in Europa. Aber das ist eine gefährliche Illusion.“
Der „Spiegel“ hakt noch einmal konkret nach: „Glauben Sie ernsthaft, dass die Kanzlerin eine Rede halten könnte mit dem Tenor: Liebe Mitbürger, notfalls müsst ihr bereit sein, für Riga zu sterben?“ Winkler antwortet einem Politiker gleich, wohl wissend, dass so eine Rede eben nicht gehalten wird: „Die Bundesrepublik darf wie bisher keinen Zweifel daran lassen, dass ein Angriff auf ein Mitgliedsland der Ernstfall wäre. Und das gilt selbstverständlich auch für Riga oder Warschau.“ Und im Hinblick auf die Lage in Zentraleuropa und das Baltikum: „Es bedarf gegenwärtig einer glaubwürdigen militärischen Präsenz, um deutlich zu machen, dass Artikel 5 für die neuen Mitglieder des atlantischen Bündnisses gilt.“
Diese Präsenz wird zur Zeit von Dänemark, Großbritannien, Frankreich und natürlich den USA zeichenhaft demonstriert. In Deutschland diskutiert man derweil – auch in den Kirchen. Letzte Woche hieß es in „idea“: „Soll sich Deutschland militärisch engagieren?“ Die Überschriften geben den altbekannte Tenor wieder – „Vorrang für zivile Konfliktlösungen“, „Mehr Verantwortung ja – Militärisches Eingreifen nein“. Es wird noch einmal an den Brief der Leiter der VEF, der Vereinigung ev. Freikirchen, aus dem Frühjahr erinnert: „Die Vereinigung plädiert für gewaltfreie Strategien zur Konfliktlösung als Mittel deutscher Außenpolitik. Es gehe nicht um den Handel und Einsatz von Waffen, sondern darum, dass Deutschland ‘die Stärke ziviler Hilfe im Blick hat’, schrieben der VEF-Präsident, Präses Ansgar Hörsting (Witten) und die Vizepräsidentin, Bischöfin Rosemarie Wenner (Frankfurt am Main).“
Gewiss haben zivile und gewaltfreie Lösungen Vorrang. Doch befreundete Staaten wie im Baltikum ohne eigene Rüstungsindustrie sind auf Importe hochwertiger Waffensysteme angewiesen. Und für sie ist es eine Frage des Vertrauens: Stehen die Länder des Westens, vertraglich mit den exkommunistischen Ländern in der Nato verbunden, zu ihren Verpflichtungen – und das heißt eben auch: sind sie bereit, im Notfall Waffen auch einzusetzen? Ist Vertragstreue und Schutz des Schwachen und Angegriffenen nicht genau das, was unseren christlich geprägten Westen auszeichnet – auszeichnen sollte? Wann hört man endlich einmal von leitenden deutschen Kirchenvertretern, dass dem „Wüten des Bösen und der Gewalt“ nicht nur im fernen Südsudan, sondern auch in Zentraleuropa Einhalt geboten werden sollte?