„Gott, das Ornament“
Religion ohne Gott?
Die Neuen Atheisten wie Sam Harris (Das Ende des Glaubens), Daniel Dennett (Den Bann brechen), Christopher Hitchens (Der Herr ist kein Hirte) und vor allem Richard Dawkins (Der Gotteswahn) haben in den letzten Jahren für viel Provokation gesorgt. Mit ihren scharfen Thesen und Sprüchen landeten sie in Talksendungen, auf Titelblättern von Journalen, und Christen regten sie zu Antworten und Gegenreaktionen an. In Litauen erschien z.B. Alister McGraths The Dawkins Delusion? (deutsch Der Atheismus-Wahn), in dem der bekannte britische Theologe die dürftigen Argumente des Oxforder Biologen auseinander nimmt. (Zu empfehlen ist in deutscher Sprache Michael Kotschs Atheismus – Der neue Streit um Gott.)
Der Neue Atheismus muss argumentativ bekämpft werden, und wiederholt haben Apologeten wie John Lennox in öffentlichen Debatten wie z.B. mit Dawkins gezeigt, dass der christliche Glaube keineswegs Unfug ist, ja sogar besser dasteht (s. z.B. hier). Gerade Dawkins hat für viel Getöse gesorgt, doch ist es ihm wirklich gelungen, Menschen von der Religion abzubringen? Sind durch die vielen Bücher die Reihen der überzeugten Atheisten angewachsen? Entkehrten sich Menschen in nennenswerter Zahl durch die Lektüre des Gotteswahns? Wohl kaum.
Christen sollten das Ausmaß des Schadens und der Gefährlichkeit des Neuen Atheismus nicht unter-, aber auch nicht überschätzen. Denn die wohl wichtigste Front in der geistlichen Auseinandersetzung verläuft nicht zwischen Religion und Nichtreligion oder Atheismus, sondern zwischen der wahren Religion und der falschen Religion. Kaum einer hat dies schon vor Jahrhunderten so scharf erkannt wie Johannes Calvin. Er betonte, dass wir zwischen „reiner Religion und Aberglauben“, zwischen „rechter Gottesverehrung“ und der falschen unterscheiden müssen. Falsche Religion, „durch Irrtum verdorben und verdreht“, ist „ohne Wert“. „Jede religiöse Verehrung, die einem anderen Wesen zuteil wird als dem einigen Gott, ist für Frevel zu achten“ (Inst. I,12,1–3).
Hartgesottene Atheisten gibt es nicht all zu viele; der viel wichtigere – und gefährlichere – Haupttrend könnte so formuliert werden: freie Spiritualität statt kirchlicher Dogmen; Frieden statt Wahrheit; Religiosität statt Religion.
Wie üblich zu den hohen christlichen Feiertagen hat auch „Der Spiegel“ die Religion auf den Titel gehoben. In der Pfingstnummer der vergangenen Woche (24/2014) fragte das Hamburger Magazin mit der Titelgeschichte „Ist da jemand?“. Das Thema: „Die Zukunft der Religion: Glaube ohne Gott“. Man erfährt von der im Januar 2013 gegründeten „Sunday Assembly – a godless congregation“, einer ‘Kirche’ ohne Gott mit dem Motto „lebe besser, hilf öfter, mach dir mehr Gedanken“.
Man schmunzelt vielleicht über diese seltsame Truppe. Näher rückt da schon das Portrait einer lutherischen Gemeinde im wohlhabenden Hamburger Stadtteil Harvestehude: „Viele Kirchgänger hier glauben nicht unbedingt an Gott als konkrete Person, empfinden sich aber dennoch als gläubig.“ Über den Gemeinderat heißt es: „Niemand von ihnen stellt sich Gott als konkrete Person vor“. Viele sind auf der Suche nach einer Form von Religion, die „das Gefühl befriedigen [könnte], ohne die Ratio zu verraten“.
In dem Beitrag wird das Buch Religion ohne Gott des US-Philosophen Ronald Dworkin (1931–2013) vorgestellt. Dworkin, der an keinen Gott glaubt, versucht Raum für einen „religiösen Atheismus“ zu schaffen und meint: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und dies Fühlen macht wahre Religiosität aus“. Dworkin knüpft an einem „Grundgefühl“ an, dem „Geheimnisvollen“, dieses sei „das Schönste“. Sehr gut zeigt der „Spiegel“ nun, dass dieser Ansatz nicht neu ist: „Der romantische evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834) hat dieses Religionsverständnis schon ganz ähnlich wie Dworkin als ‘Sinn und Geschmack fürs Unendliche’ definiert. Religion sei ‘Ehrfurcht’ vor dem Unendlichen. Dieses religiöse Gefühl entsteht vor allem an den Grenzen de Lebens… Mit einer damals unerhörten Radikalität behauptete Schleiermacher sogar, dass ‘eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott’.“ (Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, dass auch ein knallharter Atheist wie Sam Harris die gottlose Religiosität entdeckt hat, s. sein Waking Up – A Guide to Spirituality Without Religion.)
Dworkin schreibt in Philosophensprache. Ein viel breiteres Publikum erreicht der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho, der ähnliche Töne wie Dworkin anschlägt. Im Interviewbuch Confessions of A Pilgrim: „Sie bezeichnen sich als gläubig. Was ist Gott für Sie? – Eine Erfahrung des Glaubens. Und mehr nicht. Denn ich betrachte Definitionen Gottes als Falle. Mir wurde diese Frage bei einer Konferenz gestellt und ich sagte ‘Ich weiß nicht.’ Und das Publikum applaudierte stürmisch. Die Leute fühlen eben, dass es nicht den einen Gott, passend für alle gibt… Für mich ändert der formale Akt des Glaubens oder des Nichtglaubens an Gott nichts.“ Und zur Religion: „Ich betrachte sie als eine Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Weg des Anbetens gefunden haben. Ich meine Anbetung, nicht Gehorsam. Dies sind zwei verschiedene Dinge. Diese Gruppe kann Buddha, Allah oder Gott, den Vater Jesu, anbeten – das ist egal. Was wichtig ist, dass wir in diesem Moment der Anbetung mit dem Mysterium Kontakt haben, dass wir uns einiger fühlen, offener für das Leben… Das ist Religion für mich, nicht eine Reihe von Regeln und Vorschriften, die mir von anderen vorgeschrieben werden… Ich habe den Katholizismus gewählt als einen Weg, um mit dem Mysterium zu kommunizieren.“
Religiosität ist in, Religion im Sinne von z.B. in Kirchen organisiertem Glauben ist out, so die grobe Tendenz unserer Kultur. Dies spiegelt sich in der Statistik wieder: in den meisten westlichen Länder halten sich etwa 60-80% für religiös; Gottesdienstbesuch, gemeindliches Engagement liegt dagegen meist weiter darunter. Religiosität ist daher weit verbreitet. Theologe James A. Herrick: „Spiritualität, so scheint es, beschränkt sich nicht mehr auf Kirchen und Synagogen, ist nun vielmehr in die Vorlesungssäle und die Klassenräume, die Kinos, Arztpraxen, Managerbüros und Regierungsgebäude gewandert“. (The Making of the New Spirituality)
Sicher kann man auch dem vielleicht noch etwas Positives abgewinnen. Doch es ist ja nicht biblische Wahrheit, die sich hier breit macht. Es ist Religion light, die in der harten Welt Sinn bietet und so tiefe Bedürfnisse anspricht. David F. Wells:
„Spiritualität reist mit leichtem Gepäck. Sie braucht keine Gebäude, keine Riten, keine Profis, auch keine heiligen Bücher. Sie kann allein praktiziert werden. Es sollte auch nicht überraschen, dass z.B. in der Geschäftswelt Spiritualität inzwischen überall anzutreffen ist, denn diese wird durch harten Wettbewerb vorangetrieben und steckt voller Unsicherheit, da eine florierende Firma sehr schnell zu einer toten werden kann… Nun machen spirituelle Gurus und Motivationsredner die Runde und bezeugen so alle, dass die harte, pragmatische, säkulare, materialistische Wirtschaftswelt nun vom Sehnen der Menschen durchdrungen wird, dem Sehnen nach dem inneren Selbst, dem Heiligen, nach etwas, das nach Bedeutung atmet.“ (Above All Earthly Pow‘rs)
Den Neuen Atheisten zum Trotz – Atheismus ist nicht auf dem Vormarsch. Viele angesehene Denker empfehlen heute den Christen vielmehr den Übergang von Religion zu Religiosität. Philip Kitcher (selbst nicht gläubig in irgendeinem Sinne) empfiehlt: „Es wäre notwendig, von der Religion des Übernatürlichen zur spirituellen Religion überzugehen“ (Mit Darwin leben). Es ginge in Religion nicht um Lehre, Dogmen (beliefs), sondern um psychologische Zustände, Erwartungen, Sehnsüchte, Emotionen und ethische Haltungen. Wir brauchen, so der in den USA lehrende Brite Kitcher, das Übernatürliche nicht unbedingt. Wir können und sollen Religion (womit er also Religiosität meint) bewahren, denn wir brauchen sie, weil sie bestimmte Bedürfnisse erfüllt. Religiöse Lehren müssen nicht wahr sein; wichtig ist, dass sie uns inspirieren, Emotionen auslösen usw.: „Für spirituelle Christen sind die in der Hl. Schrift erzählten Geschichten nicht deshalb bedeutsam, weil sie buchstäblich wahr wären, sondern weil sie uns anleiten, uns selbst zu verstehen und uns selbst wie auch unser Denken und Tun gegenüber anderen Menschen zu verbessern.“
Kitcher läßt aber auch keinen Zweifel daran, was dies kostet: der Glauben an „buchstäbliche Wahrheit“ muss verschwinden; göttliche Vorsehung, das Übernatürliche muss raus; die Bibel ist nur reine Mythensammlung.
Der wohl bekannteste deutsche Soziologe, Ulrich Beck, betitelte vor einigen Jahren einen Artikel provozierend „Gott ist gefährlich“ („Zeit“, 52/2007). Allen Religionen, vor allem den monotheistischen, wohne „eine totalitäre Versuchung inne“, weshalb er meint: Religion ist gefährlich. Auch Beck fordert Religiosität statt Religion, „synkretistische Toleranz des Sowohl-als-auch“ anstatt objektive Wahrheit. Er appelliert, „dass Religionen den Anspruch der Wahrheit ersetzen durch den Anspruch auf Frieden. Was aber nur geht, wenn sie das Nicht-Wissen akzeptieren“.
In seinem Buch Der eigene Gott erweiterte Beck diese Gedanken. Die christliche und kirchliche Religion müsse sich auf ihre eigentliche Aufgabe, ihren Kern konzentrieren. Dieser bestehe darin, „nichts als Religion zu werden; also die unaufhebbare Spiritualität des Menschseins, das Transzendenzbedürfnis und -bewußtsein der menschlichen Existenz zu wecken, zu kultivieren, zu praktizieren, zu zelebrieren, zu reflektieren…“ Beck spricht sich hier für eine radikal individualisierte „Bastelreligion“ aus, deren Maßstab das „souveräne Selbst“ ist. Dogmen, starke Geltungsansprüche, ja die Wahrheit überhaupt passen nicht in dieses Konzept. Beck meint sogar: „Inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann, entscheidet über die Fortexistenz der Menschheit.“
In dieser Reihe der einflussreichen Denker ist unbedingt noch der italienische Philosoph Gianni Vattimo (geb. 1936) zu erwähnen. Er spricht vom Ideal des „Nichtwissens“ und prägte den Begriff des „schwachen Denkens“. Vattimo, der sich ganz postmodern als „Halbgläubigen“ bezeichnet, hat einen Horror vor allem, was irgendwie Anspruch erhebt, ewig oder fest zu sein, ein für allemal festgelegt ist. Alles Objektive, Absolute und natürlich Dogmatische muss weg. Das Bibelverständnis und alle christlichen Lehren müssen offen für die totale Revision sein: man könne nicht mehr „metaphysisch eingegipste Doktrinen anbieten“, so in Credere di credere (Ich glaube, dass ich glaube). Anders als Kitcher und Beck meint Vattimo im Namen des Christentums zu sprechen.
Ein Sammelband von Aufsätzen des Italieners heißt treffend Jenseits des Christentums. Die Vorstellung einer „letzten Wahrheit“ sei in unserer pluralistischen Welt nicht mehr aufrechtzuhalten, ja sie laufe „jedem demokratischen Ideal zuwider“. „Gott als letztes Fundament“ ist nicht mehr vertretbar, daher könne nun aber wieder an Gott geglaubt werden, aber nicht „an den Gott der Metaphysik“.
Als Anhänger von Nietzsche und Heidegger verwirft Vattimo jede Metaphysik. Die Rückkehr der Religion hänge von der „Auflösung der Metphysik“ ab, „von der Diskreditierung jeder Lehre, die den Anspruch erhebt, absolut und endgültig als wahre Beschreibung der Strukturen des Seins zu gelten.“ Er versucht an der Lehre des Joachims von Fiore (12. Jhdt.) anzuknüpfen und dieser „ein Bild postmoderner Religiosität einzuhauchen“, um zu einer „Spiritualisierung des Christentums“ zu gelangen. Die wiederentdeckte Religion „hat nichts zu tun mit der dogmatischen, hart disziplinären und strikt antimodernen Religion, die sich in den verschiedenen Formen des Fundamentalismus und vor allem im Katholizismus von Papst Johannes Paul II ausdrückt. Sie kann keine Religion der Rückkehr zur Metaphysik sein, sondern nur ein Ergebnis der Auflösung der Metaphysik.“
Vattimo strebt eine „geistigere Lesart des biblischen Textes und der christlichen Dogmen im allgemeinen“ an. Kern der Offenbarung sei die Liebe, dies müsse herausgearbeitet werden, „was natürlich um den Preis geschieht, dass man die Ansprüche der Texte auf buchstäbliche Gültigkeit und den kategorischen Charakter der dogmatischen Lehre der Kirchen schwächt.“ Und: „Der Same des göttlichen Wortes“ dürfe nicht in den „autoritären Grenzen des Dogmas“ eingeschlossen und verhärtet werden. Die Liebe sollte „an den Platz des traditionellen Wertes des Wahren“ aufrücken. Einzig die Liebe zählt: „Nur die Liebe stellt nämlich die Grenze und das Kriterium der geistigen Interpretation der Schrift dar.“ Daher müsse „das Gewicht des Buchstabens der Bibel und der Dogmen“ verringert werden. Nur so sei die Wahrheit der anderen Religionen zu begreifen.
Ein Aufsatz ist vielsagend „Gott, das Ornament“ überschrieben. So eine Gottesvorstellung ist nur konsequent, denn Vattimo fordert die Verschiebung vom buchstäblichen Sinn zum geistigen, eine Verschiebung vom Realen zum Ornamentalen, eine „Schwächung des Seins“.
Vattimo ist zuzustimmen, wenn er meint, dass „die Philosophie die Gründe für den Atheismus verloren [hat] und also der religiösen Erfahrung eine Legitimität zuerkennen [kann]“. Dies sei aber nur insofern möglich, „als sie das Ende der Metaphysik und die Auflösung der Metaerzählung berücksichtigt.“ Er fordert daher „weniger absolute, mehr historisch bedingte Wahrheiten“; das Denken sollte „alle Ansprüche auf objektive, universale, apodiktische Begründung“ aufgeben.
Vattimo ist auch in Litauen recht einflussreich, da zu seinen Fans Rita Šepyrtytė, die Leiterin des religionswissenschaftlichen Instituts RSTC der Vilniuser Uni zählt; Vattimo war schon mehrfach in Litauen, hier ist sein Credere di credere als Tikėti, kad tiki erschienen.
(Übrigens bespricht MBS-Dozent Tobias Künkler auf seinem Blog Vattimos Aufsatz “Christentum in Zeitalter der Interpretation” recht wohlwollend. Er zitiert Vattimo: “Denn die Wahrheit, die uns Jesu zufolge frei machen wird, ist nicht die objektive Wahrheit der Wissenschaften, auch nicht die Wahrheit der Theologie, ebenso wenig wie es sich bei der Bibel um ein Buch über Kosmologie, ein Handbuch zur Anthropologie oder gar zur Theologie handelt. Die Offenbarung der Schrift ist nicht dazu da, uns darüber zu informieren, wie wir beschaffen sind, wie Gott beschaffen ist, worin die ‚Wesenheiten’ der Dinge oder die Gesetze der Geometrie bestehen – um uns auf diese Weise durch die ‚Erkenntnis’ der Wahrheit zu erlösen und zu erretten. Vielmehr besteht die einzige Wahrheit, die uns die Schrift offenbart, in der Wahrheit der Liebe und der caritas, die keiner Entmythologisierung unterzogen werden kann, da es sich bei ihr nicht um eine logische oder metaphysische Aussage, sondern um einen praktischen Appell handelt.” Wahrlich “provozierende Thesen”, wie Künkler meint. Leider vermisst man – wie fast immer bei emergenten Theologen – eine wirklich kritische Einordnung solcher Sätze.)
All dies ist nicht nur intellektuelles Gespinst. In Litauen hat die wohl wichtigste Autorin der letzten fünfundzwanzig Jahre, Jurga Ivanauskaitė (1961–2007), Gedanken dieser Art vertreten und weit verbreitet. Sie ließ sich keiner Religion ganz eindeutig zuzuordnen (auch wenn sie als Katholikin gestorben ist), war aber religiös von Scheitel bis zur Sohle. Im Sammelband Tikėti ir rašyti (Glauben und schreiben) sagte die Schriftstellerin:
„Die kategorische westliche Maxime des ‘entweder-oder’ ist im Osten inakzeptabel, vor allem in den buddhistischen Ländern. Daher brodelte in mir der Konflikt zwischen den beiden Religionen (Buddhismus und Christentum) nur zu Anfang – solange ich die beiden Religionen bloß auf der Ebene der geschriebenen Texte, Predigten und unbestreitbaren Wahrheiten und Tabus begriff. Doch mit der Zeit schwächten sich diese Widersprüche ab, wurden irrelevant bis sie ganz verschwanden. Schließlich sind alle Religionen gleichsam verschiedene Wege zur Liebe, Wahrheit und zum Frieden.“
Und Dworkin, Kitcher, Beck und Vattimo würden solchen Sätzen von Herzen zustimmen:
„Gerade die Anerkennung eines allgemeinen spirituellen Elements und der geistigen Vervollkommnung und nicht der Gottesbegriff ist, so scheint es mir, das Wesen jeder Religion. Intensives spirituelles Erleben, unabhängig davon, ob es einen Gott gibt oder nicht, kann nicht von ethischen und moralischen Kategorien, vom Glaube an eine höhere Bestimmung des Menschen, seinem guten Willen und seiner universeller Verantwortung getrennt werden. Gerade eine Ethik der Menschlichkeit… ist viel wichtiger als der eine oder andere Name Gottes.“ (Hervorhebung HL)
Die Antithese zum historischen und biblischen Christentum, welcher Konfession auch immer, könnte nicht größer sein. Die wahre Religion beginnt bei Gott und bei nichts anderem. Die Grundfrage aller Philosophie, Weltanschauung und Religion ist: Ist da ein Gott? Was ist sein Charakter? Und hat er geredet? Oder ist er nur Illusion? Ivanauskaitė will, wie die vier Herren, nicht bei Gott von oben beginnen, sondern von unten, bei der Erfahrung des Menschen. Falls das Christentum diesen Weg geht, wird es sich in Kürze selbst auflösen.
Es dürfte kein Zufall sein, dass die Bibel gar nicht so sehr vor Atheismus warnt, sondern erschreckend scharf vor falscher Religion und täuschender Religiosität. Man könnte sogar ohne große Übertreibung sagen: Die Bibel gibt uns wahre Religion, aber sie ist geichsam anti-religiös.
Falsche Religion ist der Begleiter der wahren Kirche seit Anbeginn. Denn von Anfang an versucht der Teufel das Werk Gottes zu zerstören. Die Bibel vergleicht ihn mit einem brüllenden Löwen wie in 1 Pt 5,8, vor dem wir uns in Acht nehmen müssen. Denn natürlich ist er gefährlich. So einen Löwe kann man hören und klar sehen und ihn so auf Distanz halten. Wir können diesem Bild die Herausforderung aus dem Bereich der Sekten und des Neuen Atheismus zuordnen, denn sie alle sind recht klar erkennbar.
Ein weiteres Bild für das Werk des Teufel gebraucht Jesus selbst in Mt 7,15, wo er von den Wölfen im Schafskleid spricht. Der unerkannte Wolf im Stall, auch noch im Rudel auftretend, ist heute wohl die größere Gefahr für die Kirche. Und sie geht aus von Seiten der zeitgenössischen Religiosität.