Keine Beengung gewünscht
Wer in diesen Wochen durch den Salduvė-Park vor den Toren von Šiauliai spaziert, muss sich auf ein ohrenbetäubendes Spektakel gefasst machen: zwei polnische MiGs und zwei britische Eurofighter Typhoon drehen ihre Runden oder befinden sich im Landeanflug. Seit zehn Jahren wird vom Flughafen Zokniai bei Šiauliai der baltische Luftraum durch eine Nato-Staffel geschützt (sog. air policing). Die turnusmäßig stationierten Polen wurden nun noch durch vier britische Jäger verstärkt. Gerne trainieren die Nato-Partner auch in der Luft zusammen. Dänemark hat vier weitere Maschinen nach Estland geschickt.
Wenigstens das. Angesichts Putins imperialer Ambitionen und der Kämpfe um die Ostukraine war die Verlegung von Flugzeugen ein wichtiges Signal an die baltischen Staaten – wir lassen euch nicht allein. Denn ein Blick auf die Landkarte (s.o.) zeigt ja: Die drei Länder sind auf dem Landweg nur durch einen kleinen Streifen mit Polen im Süden verbunden, ansonsten ragt das Gebiet nach Norden heraus und ist gleichsam zwischen dem russischen Gebiet von Kaliningrad im Süden, der Ostsee sowie Russland und Weißrussland im Osten eingeklemmt. Eine Verteidigung gegen russische Aggressoren mit den eigenen insg. nicht einmal 20.000 Mann unter Waffen – praktisch unmöglich.
In Litauen diskutiert man nun eifrig: Sollte nicht das Verteidigungsbudget kräftig erhöht werden – oder wenigstens ein bisschen? Man erreicht ja nicht einmal die versprochenen und eigentlich vorgegebenen 1 Prozent Verteidigungsausgaben vom BIP, ganz zu schweigen von 1,5 oder 2. Sind unsere Verbände waffentechnisch so ausgestattet, dass Invasionstruppen wenigstens einige Tage aufgehalten werden könnten? Und haben wir einen Plan für die Abwehr von „grünen Männchen“ – Kämpfern ohne Hoheitsabzeichen wie in der Ukraine? 1940 ließ man sich ohne Gegenwehr von der Sowjetunion besetzen, mit bekannten Folgen. Dies Trauma wirkt immer noch nach.
Die Gemütslage der Balten wurde auch im „Spiegel“ der vergangenen Woche erörtert (21/2014): „Szenario mit bitterem Ende“, so die Überschrift. Nato-Generalsekretär Rasmussen verkündigt überall, dass die Nato-Partner und Lettland, Estland und Litauen „Schulter an Schulter“ stünden. Schließlich ist die Nato ein kollektives Verteidigungsbündnis: ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat muss von den Allianzmitgliedern gemeinsam abgewehrt werden. So sieht es der berühmte Paragraph 5 des Nordatlantikvertrages vor. „Was, wenn die Balten Artikel 5 ‘ziehen’, wie es m Nato-Jargon heißt. Was, wenn es Russland auf eine Destabilisierung baltischer Staaten mitsamt militärischen Drohgebärden angelegt? Oder gar die Grenzen zu Estland und Lettland verletzt?“ Der Autor zitiert eine Bestandsaufnahme aus Brüssel, wo erstmals seit vielen Jahren wieder konkret von „Bedrohung“ vom Osten her die Rede ist. Und davon, dass eine entsprechende konkrete Verteidigung vor Ort bis zu einem halben Jahr dauern könnte. Eine Nachricht, die auch in den litauischen Medien auf Echo stieß. Die Haltung der Nato wird so zusammengefasst: „Das Bündnis sehe sich derzeit außerstande, das Baltikum mit konventionellen Mitteln zu verteidigen, also mit Panzern, Flugzeugen und Bodentruppen“. Der langjährige Europaparlamentarier Elmar Brok, der auch schon oft in den baltischen Ländern war: „Derzeit könnte das Bündnis das Baltikum mit konventionellen militärischen Mitteln nicht schützen“.
Die Nato muss nun an ihren veralteten Einsatzplänen arbeiten und sich für eine Auseinandersetzung mit Russland wappnen. Doch leider ist dies fürchterlich unpopulär. Jahrelang hat man sich in Afghanistan verzettelt, lieber schickt man nun die Bundeswehr nach Mail oder in den Kongo, doch Truppen für den Schutz der Bündnispartner? „Sterben für das Baltikum?“ – eine Debatte, so der „Spiegel“, die die Regierung in Berlin unbedingt vermeiden will.
Zum Schluss des Beitrags kommt ein Berater des polnischen Präsidenten zu Wort: „Auch wir in Polen haben geglaubt, dass Russland sich ändern und sich Europa annähern will. Dass es nicht mehr in Kategorien von militärischer Stärke und den Einflusszonen wie im 19. Jahrhundert denkt. Wir haben uns getäuscht.“
Sehr viele in Deutschland berührt dies nur wenig. Seit Jahrzehnten ist man umringt von guten Freunden. Das Gefühl, von anderen Staaten irgendwie konkret bedroht zu sein, hat man in Deutschland so gut wie ganz verloren. Und auch die Bereitschaft, unmittelbar Bedrohten und Bedrückten beizustehen. Dirk Kurbjuweit (sein Name deutet übrigens auf litauische Vorfahren hin) schildert in seiner „Spiegel“-Kolumne (Nr. 22/2014), wie im Flug nach Spanien eine Truppe Russen mit Alkohol Party macht. Eine Spanierin mit dem „Hintern [der Russen] im Gesicht“ will sich umsetzen. Kurbjuweit: „In dem Flugzeug war genau ein Platz frei, der Mittelplatz hinter mir. Die Flugbegleiterin fragte die beiden Frauen, die links und rechts davon saßen, ob sie die Spanierin in ihre Reihe aufnehmen würden, und die Frauen sagten Nein. Sie wünschten keine Beengung. Es waren Deutsche. Mir ist seitdem klar, dass die Balten nicht mit der Solidarität anderer Nato-Staaten rechnen können, sollte Putin sie in Bedrängnis bringen.“
Mir ist inzwischen klar, dass man auch von Seiten der deutschen Kirchen nicht mit zu viel Beistand rechnen sollte. Vor zwei Wochen machte diese Meldung die Runde: „Friedenspolitik: Freikirchen und EKD plädieren für gewaltfreie Strategien zur Konfliktlösung“ (s. z.B. hier.)
Der Artikel ist wie folgt überschrieben: „Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) kritisiert die von deutschen Politikern signalisierte Bereitschaft, dass sich Deutschland bei internationalen Konflikten aufgrund seiner Größe und Verantwortung militärisch stärker einbringen soll.“ VEF-Leiter Ansgar Hörsting und Rosemarie Wenner haben in Briefen an die Kanzlerin und die Minister Steinmeier und von der Leyen „ihre ‘ernsthafte Sorge’ über die Impulse zu stärkerem militärischem Engagement zum Ausdruck gebracht. Stattdessen müsse der Frage Raum gegeben werden, ‘worin Deutschland stark ist’ und worin die Verantwortung Deutschlands liege, für die ‘wir unsere volle Unterstützung einbringen wollen’.“ Es gehe darum, „dass Deutschland ‘die Stärke ziviler Hilfe im Blick hat.’ Eine Politik, die sich dem Globalwohl verschreibe, ‘können wir aus ganzem Herzen unterstützen.‘“
Warum nun diese Schreiben? „Anlass für die geäußerte Kritik und die Unterstützungsangebote der in der VEF zusammengeschlossenen evangelischen Freikirchen waren Äußerungen von Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen. Beide hatten im Februar bei der 50. Münchner Sicherheitskonferenz mit ihren Redebeiträgen weitreichende Überlegungen angestoßen, wie Deutschland in Fragen internationaler Sicherheitspolitik und militärischen Engagements stärkeres Gewicht bekommen könnte.“
Die Redebeiträge der Minister sind in der Mediathek der Sicherheitskonferenz mit deutscher Übersetzung anzusehen. Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum diese Anstoß zu „ernsthafter Sorge“ gegeben haben können. Keinerlei Säbelrasseln, kein Drang nach Waffeneinsätzen, keine Abwertung der Diplomatie, viel Politikersprech… Hintergrund war und ist doch vielmehr, dass die europäischen Nato-Staaten hinter ihren eigenen Selbstverpflichtungen zur militärischen Verteidigung zurück hängen und, salopp formuliert, gerne die Amerikaner den Karren aus dem Dreck ziehen lassen. Von der Leyen forderte zu Recht mehr Engagement. Wo soll da das Problem sein??
In der VEF hat man offensichtlich nicht verstanden, dass das eher diffuse „Globalwohl“ mit der Sicherheit und das heißt zuerst auch der territorialen Unverletzlichkeit von Staaten beginnt. Diese Sicherheit wird durch militärische Gewalt geschützt (wenn auch nicht nur durch sie). Heute ist Konsens, dass man gewaltfreien Mitteln der Konfliktlösung eine gewisse Priorität gibt. Lieber einmal mehr reden, als zu früh zu den Waffen greifen. Doch diese Waffen müssen eben bereit liegen, und man muss auch zur Not zum Einsatz von Gewalt bereit sein. Ja, militärischer Gewalteinsatz ist unter Umständen gerechtfertigt und nötig und dann auch moralisch begründet. Was denn sonst! Wenn sich die VEF-Leiter schon in die Tagespolitik vorwagen – wollen Hörsting und Wenner etwa behaupten, die Verlegung von Kampfjets nach Estland, Polen und Litauen sei dem Frieden nicht dienlich und keinerlei „effektive“ Lösung? Für die Menschen, die sich konkret bedroht fühlen, ist es gut zu wissen und zu sehen und zu hören, dass es – anders als in den 40er Jahren – endlich einmal ein Signal von Beistand durch militärische Gewalt vom Westen gibt. Natürlich haben einige der Freikirchen Kompetenz in friedensfördernden Maßnahmen. Doch sie sollten die Politiker ihre Hausaufgaben machen lassen und nicht noch weiter eine pazifistische Grundhaltung verfestigen, die in den meisten Kirchen eh schon dominiert. Die aber auch, und das ist ja das Absurde, von Leuten wie Putin nur zu genau wahrgenommen und auch ausgenutzt wird.
Und apropos Hausaufgaben: Der Staat hat, wie gesagt, sein Territorium vor Aggressoren zu schützen. Kirchenleiter sind für die Bewahrung des Evangliums zuständig. Bevor jemand wie Hörsting Ministern schlaue Ratschläge gibt, sollte er sich mal die Darstellung des Evangeliums auf jesus.de ansehen, denn die Seite wird vom Bundesverlag seiner Kirche, der FeG, verantwortet. Hörsting selbst bloggt dort. “Ernsthafte Sorge” sollte sich auf theologisch Haarsträubendes konzentrieren, wie es hier zu lesen ist (s. auch hier und hier).