Von Spitzeln umringt
Die evangelisch-lutherische Kirche Litauens gedachte am 24. April des einhundertsten Geburtstages von Jonas Viktoras Kalvanas. Ab 1971 leitete er das Konsistorium der Kirche, wurde 1976 zum ersten lutherischen Bischof in Litauen gewählt. In der Nachkriegszeit bis zu seinem Tod 1995 war Kalvanas die bedeutendste – wenn auch nicht unumstrittene – Persönlichkeit der lutherischen Kirche.
Kalvanas wurde 1914 in der Gegend von Biržai unweit der Grenze nach Lettland geboren und zählte zu den ethnischen Letten. Von 1933 bis 1936 studierte er an der Ev.-theologischen Fakultät in Kaunas. Nachdem diese geschlossen worden war, setzte er seine Studien in Riga fort und beabsichtigte auch, in der lettischen lutherischen Kirche zu arbeiten. Die litauische Kirchenleitung rief in jedoch nach Hause und wies ihm die lettischsprachige Gemeinde in Būtingė, nördlich von Palanga, zu. Am 28. Juli 1940 wurde Kalvanas von den Leitern der drei Sprachgruppen der Kirche (Litauer, Letten und Deutsche) ordiniert.
Der Krieg brachte nun alles durcheinander. Kalvanas wurde Pfarrer in Tauragė/Tauroggen, weit entfernt von seiner nordlitauischen Heimat. In der bis heute größten lutherischen Gemeinde des Landes diente er bis zu seinem Lebensende. Doch schon 1941 und dann vor allem 1944/45 verließen zahlreiche Lutheraner und die meisten Pfarrer das Land. Kalvanas blieb, und ihm wurden daher schon 1941 15 Gemeinden zugeteilt. Die Zuständigkeit für weit verstreut lebende Lutheraner setzte sich Jahrzehnte fort, denn es war nur ein halbes Dutzend Hirten übrig. Bis Anfang der 90er Jahre gab es für die meisten Lutheraner nur eine geistliche Minimalbetreuung.
Wie alle Pfarrer in der Sowjetunion geriet auch Kalvanas sofort ins Visier der atheistischen Obrigkeit. Ein erstes Mal wurde er im April 1941 vom sowjetischen Geheimdienst in Kretinga festgenommen und drei Tage lang verhört. Ende 1945 versuchte man ihn vergeblich als Zuträger zu gewinnen. 1946 heiratete Kalvanas, in den kommenden acht Jahren wurden sechs Kinder geboren. Im Mai 1948 wurde das Haus der Familie erstmals komplett durchsucht. Marta Kalvanienė fürchtete die Verbannung nach Sibirien, die damals vielen drohte und von der auch viele Lutheraner betroffen waren. Noch im selben Jahr setzte man die Familie ein erstes Mal auf die Straße. Erst ab 1961 hatten sie einen wirklich festen Wohnsitz.
1948 wurde Kalvanas ins KGB-Hauptquartier nach Vilnius geladen, in dessen Kellern so mancher Regimegegner verschwand. In Tauragė schwirrten in manchen Jahren bis zu zwei Dutzend Spitzel des Geheimdienstes um den Pfarrer herum, zweitweise wohnte eine von diesen sogar im gleichen Haus. 14 Agenten berichteten regelmäßig über so gut wie jeden Schritt und jedes Wort des Geistlichen. Da die Kalvanas-Akte beim KGB 1952 umqualifiziert worden war, drohte der Familie nun ständig die Deportation.
Dem KGB war es ja gelungen, so manchen Vertreter von Kirchen zu gewinnen. Auf Kalvanas wurde der deutschstämmige ehemalige Pfarrer Arthur Pfeiffer, Agent „Schultz“, angesetzt. Aber auch er fand nichts, was harte Maßnahmen gegen Kalvanas gerechtfertigt hätte. Denn dieser setzte sich zwar über einige Vorschriften wie das Verbot der Katechese der Konfirmanden hinweg, mied aber sonst den offenen Widerstand.
Die lutherische Kirche ging nicht den Weg des aktiven und direkten Widerstands, baute keinen Geheimstrukturen auf, wie es sie ab den 70er Jahren in der katholischen Kirche gab. Diese ließ in Untergrunddruckereien ihre „Kirchenchronik“ drucken. Die Lutheraner konnten in den 50er und 60er Jahren so gut wie gar nichts publizieren, und wenn, dann sehr stark zensiert. Kalvanas, ab 1971 Leiter der Kirche, wählte den Weg der gemäßigten Kooperation, um überhaupt etwas zu erreichen. Es dauerte bis 1985 als erstmal Luthers Kleiner Katechismus gedruckt werden konnte.
1968 ließen die Sowjets die litauische Kirche Mitglied im Lutherischen Weltbund werden. Kalvanas konnte nun vermehrt ins westliche Ausland reisen. Die neue Taktik der Kommunisten war, diese Kontakte der Kirchenleute für ihre Friedenspropaganda zu nutzen. Auch in dieser Frage musste Kalvanas einen Balanceakt durchhalten. Im Museum von Tauragė wurde am 24. April auch eine Ausstellung über Leben und Werk des lutherischen Bischofs eröffnet. In einem Schaukasten befindet sich eine Urkunde eines örtlichen sowjetischen Friedenskomitees, das die Verdienste von Kalvanas um die Völkerverständigung in höchsten Tönen lobt. So etwas musste er sich gefallen lassen, wollte er denn weiter die internationalen Kontakte knüpfen.
Noch etwa fünf Jahre war Kalvanas Bischof im freien Litauen. Im folgte im Amt sein gleichnamiger Sohn, der zuerst Medizin studiert hatte und erst 1984 zum Pfarrer ordiniert worden war. Kalvanas Jr. verstarb jedoch plötzlich im Jahr 2003. Im folgte 2004 Mindaugas Sabutis als dritter lutherischer Bischof.
An Kalvanas Sen. erinnert nun der Park mitten in Tauragė um die Martin-Luther-Kirche, der seit den Feierlichkeiten seinen Namen trägt.
Einen Artikel in litauischer Sprache über Kalvanas von Pfr. Dr. Darius Petkūnas gibt es hier.