Der Meistgehasste
Zum 450. Todestag von Johannes Calvin am 27. Mai
Wir schauen mit Achtung zu Alexander dem Großen auf – einem größenwahnsinnigen Säufer und Choleriker, der einen Freund ermordete, vielleicht sogar seinen Vater. Bis heute bewundern wir den äußerst kaltblütigen Machtpolitiker Julius Caesar, der ebenfalls vor keinem Mord zurückschreckte. Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz, Frauenheld, vielleicht größter Reliquiensammler Europas, Liebhaber von Kunst, Geld und Macht; sein akuter Geldbedarf löste den Thesenanschlag Luthers und die Reformation aus. Doch für die Kirchenspaltung macht man den Augustinermönch aus Wittenberg verantwortlich, und Albrechts prunkvolles Denkmal kann bis heute im Mainzer Dom bewundert werden.
Viele üble Gestalten der Geschichte beurteilen wir wohlwollend, ja nachsichtig. Die schillernden Figuren lieben wir. Und Johannes Calvin? Wer würde es denn wagen, ihn als sein persönliches Vorbild zu nennen?
Calvin war, so kann man durchaus behaupten, nach Thomas von Aquin der größte Theologe des 2. Jahrtausends. Doch wenn juckt schon Theologie. Und gerade aus der Ecke der befreundeten Theologie schlug ihm schon früh die größte Ablehnung entgegen. Der Begriff „Calvinist“ ist bis heute eher so etwas wie ein Schimpfwort, und er war auch anfangs eine spöttische Bezeichnung. Erstmals gebrauchte ihn 1552 Joachim Westphal, ein lutherischer Pfarrer in Hamburg und scharfer Calvin-Gegner. Calvin selbst, der jeden Personenkult verabscheute, lehnte diesen Begriff natürlich ab. Er, der sich immer als Anhänger Luthers sah und dessen Freundschaft suchte, wusste um den „tödlichen Hass“ vieler aus dem lutherischen Lager. Trotz der großen theologischen Nähe der Reformierten und Lutheraner drückt eine Inschrift aus dem 16. Jhdt. den Geist der Zeit aus: „Gottes Wort und Lutheri Schrift ist des Bapst [sic] und Calvini Gift“. (Calvin wurde am 28. Mai 1564 auf eigenen Wunsch anonym begraben – jeglicher Personenkult sollte verhindert werden; im 19. Jhdt. wurde jedoch eine Grabstätte markiert, damit Besucher einen Ort des Gedenkens haben – s. Bild o. Interessanterweise werden auf der kleinen Platte an diesem ‘Grab’ die „lutherischen Ideen“ [idées luthériennes] genannt, die Calvin zum Glauben geführt haben.)
Der Hass der Katholiken war natürlich noch größer. 1577 verfasste Jerome Bolsec, selbst zuvor lange Jahre Protestant gewesen, seine Biographie Calvins. Dieser sei der Erzhäretiker in einer langen Reihe von Häretikern, ein williges Werkzeug des Teufels. Zahlreiche Legenden über Calvin gehen auf dieses Werk zurück, obwohl es selbst weitgehend nur auf Gerüchten beruht. So gut wie jede sexuelle Sünde dichtete Bolsec ihm an: Sodomie, Hurerei und Homosexualität; außerdem hätte er es mit so gut wie jeder verheirateten Frau aus Genf getrieben. Bolsecs „Biographie“ wurde in zahlreiche Sprache übersetzt und von Katholiken bis 1875 herausgegeben.
Jean-Papire Massons Vita Calvini aus dem Jahr 1583 bemühte sich schon mehr um Objektivität. Masson schätzte sogar die literarischen Fähigkeiten und den Fleiß Calvins. Er räumte auch ein, dass es diesem nie um persönlichen finanziellen Gewinn ging. Doch auch sein Urteil ist streng: Calvin sei tyrannisch, verurteilend und arrogant gewesen; ein Despot von schlechtem Charakter: „Stolz und Selbstliebe. Ein Laster, dem alle Gründer von Sekten zuneigen…“ Masson wünschte, Calvin wäre nie geboren worden oder früh gestorben, denn er hätte nur Unglück über seine Heimat gebracht.
Calvin wurde noch in so manch weiteren Werken angeschwärzt und entstellt. Im 19. Jhdt. ergänzte Jean-M. Vincent Audin in seiner Calvin-Biographie von 1841 das Bild des Reformators. Er spottete über das Äußere Calvins, seine „Kadavergestalt“ mit krummem Rücken, halbtoten Augen, farblosen Lippen und rückte ihn so wohl bewusst in die Nähe von Hexen. Das Bild vom unbarmherzigen, herzlosen, verkopften Calvin, der seinen Anhängern einen Lebensstil ohne jede Freude aufzwang, prägte sich ein.
Gab es Gründe für diesen Hass? Calvin war wahrscheinlich nicht der einfachste Mensch mit einem teilweise schwierigen Charakter. Er hielt sich selbst für von Natur aus ängstlich und schüchtern. Gegen Ende seines Lebens, ist er, so Freunde, launisch geworden. Er war nicht so rechthaberisch wie manchmal Luther, aber auch nicht der großer Vermittler wie Martin Bucer oder so weich wie Philipp Melanchton. Calvin zeichnete aus, dass er seine Unvollkommenheit kannte. In der Abschiedsrede an die Genfer Pfarrer 1564 bekannte er: „ich habe viele Schwächen gehabt, die Ihr ertragen musstet.“
Natürlich wusste er auch um das schon zu seinen Lebzeiten von ihm gezeichnete Bild. In der Vorrede zum Psalmenkommentar 1557: „Die einen verbreiten alberne Gerüchte über mein Vermögen, die anderen über meine gewaltige Macht. Von wieder anderen wird mein Luxusleben hervorgehoben…“ Auch wenn Calvin nicht wirklich asketisch lebte – von Luxus konnte keine Rede sein; genauso wenig von Reichtum. Calvin sah, dass er hier die Erfahrung seiner evangelischen Landsleute in Frankreich teilte, die mit „lügenhafte Verdrehungen“ beim König angeschwärzt wurden (Widmung der Institutio von 1536).
Und die Macht? War Calvin ein Machtmensch? Trotz allem Gerade vom „Diktator von Genf“ – wohl kaum. Calvin war ein Mann des Wortes, des Gesprochenen und vor allem des Geschriebenen. Mehrfach betonte er, dass er am liebsten eine ruhige wissenschaftliche Arbeit bevorzugt hätte. Zu seinen Diensten in Straßburg und Genf wurde er berufen, durch Bucer und Farel geradezu genötigt. Er war dann mit der Umsetzung der Reformation in Genf betraut, was auch zu manchen Konflikten führte – Machtfragen waren hier also sicher im Spiel. Doch Calvin hatte gar keine Zeit für Intrigen, sondern schrieb ständig oder predigte (sein Gesamtwerk aus gut 25 Jahren Dienst füllt mehrere Regalmeter!). Er kümmerte sich außerdem um Fragen der Diakonie, der Armenfürsorge, besuchte Kranke und schuf eine Art Gefangenenseelsorge, schrieb lange Briefe des Trostes wie an eingekerkerte gefangene Evangelische in Frankreich. Calvin glaubte an Macht – an die Macht der Predigt, an die Macht des Evangeliums.
Auch in Genf war Calvins Macht äußerst begrenzt. Das Sagen in der Stadt hatte der Rat, und auch in der Kirche gab es keinen Bischof oder anderen Alleinherrscher. Calvin hatte auch in Genf keine Hausmacht. Warum? Er war ein Flüchtling. Er war auch in seinem ständigen Wohnort von 1541 bis zum seinem Tod 1564 die meisten Jahre, trotz aller auch inneren Nähe und Verbundenheit, ein Fremder – das Bürgerrecht erwarb er erst einige Jahre vor seinem Tod! Kein Zufall, denn Genf stand trotz allem Einsatz nie im Zentrum seines Denkens – er hatte die Reformation und die verfolgten Geschwister in ganz Europa im Blick.
Calvin der Flüchtling, der Vertriebene – dies ist sicher einer der Schlüssel zum Verständnis seiner Person und Theologie, des Calvinismus und auch des Verhältnisses zur römisch-katholischen Kirche. All die mehr oder weniger hasserfüllten Biographen Calvins waren wie er Franzosen. Für sie war er ein Verräter, der sein Land und seine Kirche verlassen hatte. Hass konzentriert sich nur zu gern auf Abtrünnige und Fliehende. Mit der Vernunft ist dies kaum zu erklären.
Hier liegt auch einer der großen Unterschiede zu Luther und der Reformation in Deutschland. Luther wirkte in seiner Heimat. Der Reformation in Deutschland verhalfen auch „nationale“, anti-römische Gefühle zum Durchbruch, und umgekehrt verfestigte die lutherische Reformation Nationalgefühl (Luthers deutsche Bibelübersetzung!). Hinter Luther und den Evangelischen standen bald mächtige Reichsfürsten. Wer stand hinter Calvin? Dieser war durch und durch Franzose, schrieb ein glänzendes Französisch, das sich mit dem Montaignes messen lässt; er war neben Napoleon wohl der einflussreichste Franzose aller Zeiten. Doch die Franzosen lieben und achten andere. Lutherdenkmäler gibt es in Deutschland an jeder Ecke, dazu einige „Lutherstädte“. Eine „Calvinstadt“ Noyon?
[…] in „Johannes der grausame“; das schon früh verzerrte Portrait des Reformator ist in „Der Meistgehasste“ Thema. Über den genialen Beginn der Institutio, Calvins Hauptwerk, in „Gottes- und […]