Das Evangelium ist anders
Die Grundlage aller Religionen ist Liebe und Barmherzigkeit. Zuneigung und Mitgefühl – das ist das Wesen aller religiösen Lehren der verschiedenen Traditionen. Ihr Hauptziel ist das Streben nach Vollkommenheit. Der Zweck jeder Religion besteht darin, den Menschen zu nützen. – Dies sind Sätze des XIV Dalai Lamas, und an ihnen stößt sich heute kaum noch jemand. Gott kommt in der Definition von Religion und ihrem Wesen bei dem Tibeter nicht vor. Und das ist durchaus konsequent: entweder ist eine Religion vom Menschen gemacht und dreht sich dann letztlich doch immer um den Menschen oder sie von Gott offenbart.
Das Evangelium der Bibel stammt dagegen von Gott, ist daher seine Gute Nachricht. Es ist ganz anders als das, was sich Menschen ausdenken, um Heil, Vollkommenheit, Erleuchtung oder was auch immer zu erreichen. Das Evangelium ist Gottes Erfindung und daher nicht Religion und nicht Antireligion, etwas ganz Eigenständiges. Das Evangelium ist anders, ja es ist ein radikal andersartiges System von Grundsätzen, Werten und Prinzipien als wir sie sonst in der Welt finden.
Das Evangelium kann auf vielfältige Weise zusammengefasst werden. Hier seien nur drei Aspekte herausgegriffen – Christus, Reich und Kreuz – und an ihnen kurz deutlich machen, wie sehr das Evangelium unsere üblichen Kategorien durcheinander bringt und radikal gegen den Strich bürstet.
Im Zentrum der Guten Nachricht steht Christus, und zwar historische Ereignisse um diese Person (s. z.B. 1 Kor 15). Es ist die Nachricht über das, was Jesus von Nazareth in Raum und Zeit für uns, für unser Heil, objektiv getan hat. Dieser Jesus kam nicht, „dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mt 20,28). Es ist eine wirklich gute Nachricht, weil es eben nicht nur ein guter Rat ist, wie zu leben wäre. Das Evangelium sagt: das hat dieser Christus „getan“; es sagt nicht: „tue dies, und du wirst ein weises/erfolgreiches/sinnvolles Leben führen“.
In allen Religionen und auch in der säkularen Welt gilt das Prinzip, dass wir etwas bringen, leisten, präsentieren müssen. Das Evangelium sagt dagegen: Du kannst rein gar nichts bringen, du kannst nur deinen Bankrott erklären; du kannst dich nicht zu Gott hocharbeiten. Das Evangelium stellt so unsere Vorstellungen von Religion, vom Weg zum Heil auf den Kopf. Es geht nicht darum, dass wir uns durch unseren Dienst zu Gott hocharbeiten, sondern Gott diente uns. Im Christentum ist daher keinerlei Raum für einen religiösen Moralismus, für Erlösung durch fromme gute Werke.
Das griechische Wort euangelion, Evangelium, finden wir ganz überwiegend in den Briefen des Paulus. In den vier Evangelien des NT überwiegt die Botschaft vom „Reich“. Mit Jesus ist dieses Reich angebrochen, wenn auch noch nicht vollendet. Wer dem Evangelium glaubt, ist hier und heute Bürger dieses Reiches, erhält eine neue, reale Identität. Dies wird vielfältig ausgedrückt: Christen sind „Kinder Gottes“ (Röm 8,14), „Gottes Hausgenossen“ (Eph 2,19), „Bürger des Himmels“ (Phil 3,20), „Erben“ (Tit 3,7), „Gerechtfertigte“ (Röm 5,1), „Heilige“ (Röm 1,7).
Christen sind also privilegiert, genießen eine Sonderstellung. Dennoch hat dieses Leben im Reich nichts mit Macht und Privilegien zu tun wie man sie sich üblicherweise vorstellt. Die Mutter der Jünger Johannes und Jakobus bat Jesus um eine besonders angesehene Stellung für ihre Söhne in seinem ewigen Reich (Mt 20,20s). Jesus macht dann aber klar, dass in seinem Reich ganz andere Regeln herrschen (V. 25–27):
„Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht…“
Jesu Antwort trifft bis heute voll ins Schwarze. Sie drückt den radikalen Kontrast zur allgemeinen Vorstellung in der Welt aus. Der christliche Glaube ist also kein Weg zur Macht, und er ist auch sonst kein Weg, um an das zu kommen, was wir unbedingt haben wollen. Wir werden nicht Christ, um nun eine überirdische Macht anzapfen und für unsere Bedürfnisse einspannen zu können. Und schon gar nicht, um über andere zu herrschen. Das Reich Christi ist eben ganz anders, „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). So hat Gott hat die „Einfältigen und Machtlosen“ erwählt (1 Kor 1,27), um in das Reich zu gelangen – keine geistige, religiöse, kulturelle, intellektuelle Elite. All dies ist so anders, dass es alle unsere Vorstellungen vom Leben als diese Geretteten auf den Kopf stellt.
Schließlich stellt das Evangelium unser gesamtes Denken auf den Kopf. Dies wird am besten durch das Wort Kreuz ausgedrückt. Gott kam nicht in Herrlichkeit zu uns, hat sich selbst in der Gestalt seines Sohnes erniedrigt, ist schwach und verletzbar geworden, lässt die schandbarste damalige Strafe über sich ergehen (Phil 2,6s), die Kreuzigung. Dies „Wort vom Kreuz“, so Paulus, ist in den Augen der Welt „Torheit“ (1 Kor 1,18).
Wir unterschätzen heute in unserer christlich geprägten Kultur, welche ungeheure Provokation das Evangelium und besonders das Kreuz in seinem Zentrum in den ersten Jahrhunderten mit sich brachte. Das Kreuz war damals tabu. Cicero: „Weder in Gedanken, noch mit Augen, noch mit Ohren darf ein römischer Bürger mit dem Wort ‘Kreuz’ in Berührung kommen… Es ist gänzlich unwürdig selbst vom einfachsten freien Bürger auch nur erwähnt zu werden“. Umso erstaunlicher ist, dass die Christen ausgerechnet das Kreuz in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung stellten. Martin Hengel:
„Das Herz der christlichen Botschaft, das Paulus als ‘Wort vom Kreuz’ (logos tou staurou) bezeichnet, widersprach grundlegend dem römischen politischen Denken, und darüber hinaus auch der ganzen Ethik der Religion in der Antike und im Besonderen der Gottesvorstellung von gebildeten Menschen.“ (Crucifixion)
Kein Wunder, dass die neue christliche Religion gerade auch von den führenden Intellektuellen als abartig und verrückt angesehen wurde. Sueton nannte sie einen „neuen und bösartigen Aberglauben“, Plinius d.J. sprach von einer „perversen“ Religion. Justin der Märtyrer berichtet, dass Christen wegen der Kreuzigung „der Geisteskrankheit angeklagt werden“. Muss man nicht tatsächlich etwas verrückt sein, um freiwillig sein Kreuz zu nehmen und zu tragen (Mt 10,38; 16,34)?
Der christliche Glaube ist anders, und Christen sind zur Andersartigkeit berufen. Dies ist auch die Hauptaussage der ganzen Bergpredigt Jesu. In Mt 6,8 sagt er (im Kontext des Gebets, aber dies gilt auch für die ganze Nachfolge): „Ihr sollt ihnen [den Heiden, d.h. Nichtchristen] nicht gleichen“.
[…] Weg zum Heil, auf den Kopf. Es hinterfragt, was Menschen üblicherweise von Macht halten (s. dazu hier). Es führt außerdem zu einem neuen Verständnis von Leben und Dienst. Nachfolge als von Gott […]