„Herold Gottes hoher Lieder“
Kopenhagen hat seine Meerjungfrau, Brüssel den Manneken Pis, und in Klaipėda geht für keinen Touristen ein Weg an Ännchen von Tharau vorbei. Auf dem Theaterplatz in der Altstadt steht der Simon-Dach-Brunnen mit einem Relief des Dichters und dem Ännchen in Bronze darüber. „Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt, / Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld… Ännchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut, / Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“ – diese Zeilen haben Dach zum bekanntesten Memeler/Klaipėdarer aller Zeiten gemacht. Die Figur des Ännchen wurde 1912 erstmals feierlich enthüllt. 1939 verschwand sie zugunsten eines Hitler-Denkmals (Bild o.: der Brunnen in den Zwischenkriegsjahren; auf dem Balkon dahinter verkündete der deutsche Diktator den Wiederanschluss des Memellandes ans Reich).
Dach schrieb dieses Lied 1637 für Anna Neander, die junge Braut des Predigers Johannes Portatius, eines Studienfreunds Dachs. Ursprünglich im preußischen Niederdeutsch verfasst übertrug Johann Gottfried Herder es gut einhundert Jahre später ins Hochdeutsche. Die Vertonung aus dem Jahr 1827 von Friedrich Silcher ist bis heute bekannt und beliebt. Um das Lied rankt sich so manche Legende (war Dach selbst in die Siebzehnjährige verliebt?), selbst seine Autorenschaft gilt nicht als gesichert. Recht gut bescheid weiß man aber über die besungene Anna aus Tharau, südlich von Königsberg (heute Wladimirowo). Wegen Tod der Ehemänner heiratete sie drei Mal und bekam 11 Kinder, von denen nur drei die Kindheit überlebten. Sie selbst starb erst 1689.
„Taravos Anikė“ (so litauisch) steht im Brunnen über Dach und überschattet ihn auch sonst bis heute. Obwohl „Ännchen von Tharau“ eines der ersten bedeutenden Ehegedichte der deutschen Literatur ist, geriet Dach selbst als einer der großen Dichter des Barock und auch zahlreicher Kirchenlieder weitgehend in Vergessenheit. Geboren wurde er 1605 in Memel, 1619 starb die Mutter. Dach besuchte die Domschule in Königsberg, später Schulen in Wittenberg und Magdeburg. Wieder in der Heimat studierte „Simon Dachius Memelensis Borussus“ Theologie, Philosophie und Poesie an der Universität Königsberg. Nach Arbeit an der Domschule wurde er 1639 an der Universität Professor für Poesie, 1656 sogar zum Rektor der Hochschule ernannt. Drei Jahre später, vor 455 Jahren, verstarb Dach jedoch an Tuberkulose. Eine erste Sammlung von Dachs Werken erschien erst 1876 mit 1202 deutschen und 259 lateinischen Gedichten und Liedern.
Königsberg wurde zwar vom Schrecken des Dreißigjährigen Krieges weitgehend verschont, aber der Tod war vor allem in Gestalt der Pest immer gegenwärtig (fünf Epidemien verheerten Ostpreußen bis Anfang des 18. Jahrhunderts!). „Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein / Soll unsrer Liebe Verknotigung sein“ heißt es auch im „Ännchen“. Die Realität und Nähe des Todes war daher ein wichtiges Thema in Dachs Werk. „Mit was Gefahr bist du, o Mensch, umgeben! / Kein Augenblick hält dich vom Tode frei“, dichtete er. Wir leben oft sorglos dahin, doch „Der Tod dringt sich bei allen Sachen ein, / Du nimmst ihn stets zu Tisch und Bett“. Und weiter: „Kein einigs Ding kann auf der weiten Erden / Gewisser sein als unser aller Tod“. Und wohl Ps 90,12 umschreibend schließt er: „Ach Herr, lehr uns dies alles wohl bedenken, / Bring uns die Flucht [Flüchtigkeit] des Lebens gründlich bei, / Damit wir uns zur rechten Klugheit lenken / Durch steten Haß der Welt und wahre Reu…“
Dachs Familie wurde nicht von Schicksalsschlägen verschont. Sein Sohn Christoph wurde kein Jahr alt. In einem Lied zu dessen Tod nennt Dach den Mensch auf Erden „ein Pilgrimm und ein Gast“. „Das Beste, das du hier stets zu gewarten hast, / Ist Arbeit, Müh und Not, ist Hagel, Blitz und Regen.“ Dies Leben ist „ein Haus der Siechheit und der Sünden“. Er endet: „Nur der, so stets hinauf in seine Heimat schaut, / Nach Gott, und sich in ihm sein wahres Erbteil baut, / Wird hier in Unlust Lust und Ruh in Unruh finden.“
In zahlreichen Liedern Dachs spiegeln sich wie in den Psalmen Not, Leid, Tod und Verzweiflung wider. Wie schon David schreckte auch Dach nicht davor zurück, seinen Wunsch zu sterben herauszurufen. Wegen Zeilen wie den folgenden wurde er auch ein „Dichter des Todes“ genannt: „Die allerletzte Pein ist, glaub ich, ärger nicht, / Als leben müssen, tot sein wollen und nicht können.“
Doch Dach war natürlich kein barocker Grufti. All die ‘dunklen’ Verse münden immer in Hoffnung auf das ewige Leben: „Schöner Himmelssaal, Vaterland der Frommen, / Ende meiner Qual, heiß mich zu dir kommen, / Denn ich wünsch allein bald bei dir zu sein“. Dieses Lied, „Ak, gražus dangau“, ist eines der über ein Dutzend Kirchenlieder Dachs in litauischer Übersetzung im neuen lutherischen Gesangbuch. Auch im Liederbuch der Baptisten wurden einige Lieder mit den tiefen Einsichten des großen Memelers übernommen. Im deutschen „Evangelischen Gesangbuch“ findet sich nur noch ein Lied von Heinrich Albert, Dichterfreund Dachs und Domorganist aus Königsberg: das in Ostpreußen bis ins 20. Jahrhundert sehr populäre „Gott des Himmels und der Erden“ (Nr. 445), wohl eines der schönsten Lieder aus der evangelischen Liedtradition überhaupt.