„Die Vernunft anerkennt keine Wunder“?
Richard Dawkins neues Buch Der Zauber der Wirklichkeit verzaubert, und das in mehrerer Hinsicht. Einmal wieder zeigt der britische Biologe, dass er zu einem der besten Wissenschaftsautoren der Gegenwart gehört. Es ist kein Zufall, dass sich so gut wie alle seine Bücher sehr gut verkaufen. Der Zauber der Wirklichkeit ist flüssig und über weite Strecken fesselnd geschrieben, und in dieser Veröffentlichung kommen auch noch die hervorragenden Illustrationen von Dave McKean hinzu, die die Lektüre zu einem Genuss für die Sinne machen.
Der Zauber der Wirklichkeit richtet sich vor allem an ein jugendliches Publikum, das mit den Grundlagen der Wissenschaft vertraut gemacht werden soll – ein zu lobendes Anliegen. Doch eine genauere Analyse zeigt, dass Dawkins hier genau das macht, wovor er in Der Gotteswahn vehement warnt: die Indoktrination der Nachwachsenden. In dem Buch wirft der Atheist dies natürlich den Kirchen und Religionen vor. Offensichtlich hat Dawkins begriffen, dass in der Jugend wichtige Weichen gestellt werden, und so konnte wohl auch er der Versuchung nicht widerstehen, die junge Generationen mit seinen Thesen zu verzaubern, d.h. ihnen mit diversen Tricks seine atheistische Weltanschauung unterzujubeln.
In diesen Tagen beende ich (Holger) eine Kritik zur litauischen Ausgabe des neuen Dawkins-Buches: Magiškasis pasaulis. In den Buchhandlungen liegt es stapelweise, und noch, so scheint es, hat kaum jemand verstanden, dass dieses attraktive Buch des Biologen aus Oxford im Grunde viel gefährlicher ist als Der Gotteswahn. Denn für Christen ist ein Buch, das schon in seinem Titel einen gläubigen Leser vor den Kopf stößt, wohl kaum eine große Bedrohung. Anders dagegen eine Einführung in die Grundfragen der Wissenschaft wie Der Zauber der Wirklichkeit.
Im letzten Kapitel widmet sich Dawkins der Frage der Wunder. Es überrascht nicht, dass er diese für unmöglich hält (Bild o.: Jesu erstes Wunder bei der Hochzeit zu Kana). An dieser Stelle sei nur auf den Vortrag von Daniel von Wachter Ende November an der Ludwig-Maximilians-Universität in München hingewiesen: “Sind Wunder mit der Wissenschaft vereinbar?” Der junge deutsche Philosoph schildert den Angriff der Philosophen der Aufklärung von Hobbes, Spinoza bis Hume auf die Wunder und dann auch die “wunderliche Veränderung in der evangelischen Kirche”. Denn die Wunderkritik wurde auch ab etwa 1800 in die Kirche hineingetragen, vom “Kirchenvater des Protestantismus” Schleiermacher subjektiv umgedeutet, und so das Christentum inhaltlich “entkernt”, so von Wachter. Mit einem Wort: ein hervorragender Abriss der Geistesgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte und auch der modernen Theologie! Und all das allgemeinverständlich, ohne philosophischen Jargon. Unbedingt ansehen!
Hier noch ein Auszug aus von Wachters Die kausale Struktur der Welt zum Thema Wunder:
“Oft werden direkte Handlungen Gottes in der Welt, z.B. Wunder oder das Erschaffen von Lebewesen auf einem Planeten ohne Leben, mit Berufung auf die Vernunft, die Moderne oder die Wissenschaft ausgeschlossen. Es werden Aussagen gemacht wie „Die moderne Naturwissenschaft schließt Wunder und Immaterielles aus“, „Man kann heute nicht mehr an Wunder glauben“, „Die Vernunft anerkennt keine Wunder, an Wunder kann man nur glauben“, „Eingriffe Gottes sind wissenschaftlich nicht zu denken“. Hier einige Kostproben. Der Theologe Rudolf Bultmann drückt das Man-kann-heute-nicht-mehr-glauben-Gefühl besonders klar aus:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ (Neues Testament und Mythologie, 1941)
„Der Gedanke des Wunders als Mirakels ist für uns heute unmöglich geworden, weil wir das Naturgeschehen als gesetzmäßiges Geschehen verstehen, also das Wunder als eine Durchbrechung des gesetzmäßigen Zusammenhangs des Naturgeschehens; und dieser Gedanke ist uns heute nicht mehr vollziehbar. Und zwar nicht deshalb, weil ein solches Geschehen aller Erfahrung widerspräche, sondern weil die Gesetzmäßigkeit, die für ins im Gedanken der Natur eingeschlossen ist, nicht eine konstatierte, sondern eine vorausgesetzte ist, und weil wir uns von dieser Voraussetzung nicht nach subjektivem Belieben freimachen können.“ („Die Frage des Wunders“, 1933,) […]
„In den Naturwissenschaften werden Götter, Geister, Designer und Wunder per definitionem ausgeklammert (Prinzip des methodischen Naturalismus).“ [Biologe U. Kutschera in einem Leserbrief 2006]
Die These, daß göttliche Eingriffe auszuschließen sind, können wir die Anti-Eingriffs-These nennen. Ich nenne sie nicht „Naturalismus“, denn der Naturalismus sagt einfach nur, daß es nichts außer dem Inhalt von Raum und Zeit und beispielsweise keinen Gott gibt. Gegen die These, daß es keinen Gott gibt, habe ich hier nichts einzuwenden, und wenn es keinen Gott gibt, gibt es keine göttlichen Eingriffe. Ich kritisiere nur das Ausschließen göttlicher Eingriffe, das nicht auf Argumenten gegen die Existenz Gottes beruht. Man kann beispielsweise sorgfältig argumentieren, daß das Übel in der Welt gegen die Existenz Gottes spricht oder daß Gott seine Existenz offensichtlicher machen würde, wenn es ihn gäbe, und damit die Annahme, daß es keine göttlichen Eingriffe gibt, stützen. Das ist ordentliche, mühsame philosophische Arbeit, die – selbst wenn sie zu falschen Ergebnissen käme – zu Recht in Anspruch nehmen kann, durch die Vernunft überzeugen zu wollen. Die genannten Zitate aber berufen sich nicht auf Argumente gegen die Existenz Gottes, sondern auf die Vernunft, die Moderne, die Wissenschaft oder auf Prinzipien.
Gegen die Anti-Eingriffs-These behaupte ich: (Eingriffs-Möglichkeits-These) Wenn es einen Gott gibt, kann es auch direkte Handlungen Gottes in der Welt, also göttliche Entscheidungsereignisse in der Welt geben. Wir haben keinen Grund für die Annahme, daß Gott nie eingreifen würde. [v. Wachter fasst nun die bisherigen Argumente seines Buches zusammen]
Wir können einige Gründe erkennen, die Gott dazu bewegen könnten, manchmal nicht einzugreifen, obwohl andere Gründe für einen Eingriff sprächen. Wir können aber keine Gründe erkennen, die ausschlössen, daß Gott jemals eingreift. Wir können keine Pflicht Gottes, nie einzugreifen, erkennen.
Ich komme daher zu dem Schluß, daß die Anti-Eingriffs-These falsch und unbegründet ist. Die Anti-Eingriffs-These ist ein interessantes Phänomen. Sie wird mit äußerster Nachdrücklichkeit vertreten, die Begründung ist aber äußerst schwach. Bei rationalen Überzeugungen entspricht die Stärke der Überzeugung der Stärke der Begründung. Die zitierten Autoren geben nicht nur keine Begründung, die ich für gut halte, sie geben überhaupt keine Begründung, die sich nicht auflöst, sobald man nur einen flüchtigen Gedanken darauf verwendet, wieso man denn nun an die Anti-Eingriffs-These glauben sollte. Ihre Texte enthalten gar nichts, was einen überzeugen könnte. Die bloße Berufung auf „die Vernunft“ kann einen nicht überzeugen, denn wenn man sich auf die Vernunft beruft, muß man Argumente vortragen. Daß eine Überzeugung einer Person vernünftig ist, heißt, daß die Person Gründe für die Überzeugung hat, d.h. daß die Überzeugung mit allem, was die Person glaubt, im Einklang ist und dadurch gestützt wird. Ein Grund für eine Überzeugung kann ein Indiz sein, oder ein Gedankengang, durch den die These einleuchten kann, oder ein Wahrnehmungserlebnis, oder eine Zeugenaussage einer Person, die behauptet, das Betreffende gesehen zu haben. Vernunft ist, wenn man Gründe hat. Um jemanden durch Vernunft – und nicht durch Überredung oder Indoktrination – von etwas zu überzeugen, muß man Indizien anführen, oder einen Gedankengang, durch den die These einleuchten kann, oder man muß auf Wahrnehmungen verweisen oder auf verläßliche Zeugen, die behaupten, das Betreffende gesehen zu haben. Wenn man sich auf die Vernunft beruft, muß man solche Gründe anführen. Wenn man sich auf „die Moderne“ beruft, muß man sagen, was wir heute für Gründe haben, die man früher nicht hatte. Wenn man sich auf die Naturwissenschaft beruft, muß man die Experimente nennen, die die These stützen sollen, und sie am besten auch wenigstens ansatzweise erklären. Wenn man solche Gründe für eine These nicht hat, kann man die These als eine Hypothese vortragen, die man zu bedenken geben oder die man prüfen möchte. Wenn man solche Gründe für eine These nicht hat und dennoch stark davon überzeugt ist, dann ist die Überzeugung unvernünftig, sie ist irrational. Daran ändert die Berufung auf die Vernunft oder die Wissenschaft nichts, sie macht die Überzeugung nur noch irrationaler. Wenn man solche Gründe für eine These nicht hat, sie aber mit großem Nachruck vorträgt, d.h. große Gewißheit behauptet, ist die Behauptung dogmatisch oder apodiktisch oder, je nach Fall, auch einfach propagandistisch. Wenn dann jemand aufgrund der Äußerung der These und der Berufung auf die Vernunft die These annimmt, ist er nicht überzeugt, sondern überredet worden, und er hat dann ebenfalls eine irrationale Überzeugung. So kann sich unter Berufung auf die Vernunft die Unvernunft verbreiten. Inwieweit diese Unvernünftigkeit dann selbstverschuldet ist, hängt davon ab, wie groß die Fähigkeit der betreffenden Person ist, nach Gründen für eine bestimmte These zu suchen.”