Die Lehren eines Atheisten

Die Lehren eines Atheisten

In diesem Semester unterrichtet Holger am EBI „Einführung in die Philosophie“. Traditionell stehen Evangelikale diesem Fach eher skeptisch gegenüber, und das natürlich nicht ganz ohne Grund. Viele bedeutende Philosophen der letzten beiden Jahrhunderte waren Atheisten. Zu den bekanntesten Gottesleugnern unter ihnen zählte Bertrand Russell. Gerade seine Person ist aber auch für Christen interessant. In negativer wie in positiver Hinsicht ist Einiges von ihm zu lernen.  

Vor 86 Jahren, im Frühjahr 1927, hielt Bertrand Russell in London einen Vortrag zum Thema „Why I am not a Christian“ (Warum ich kein Christ bin). Jahrzehnte später wurde dieser Text mit anderen Beiträgen zu einem gleichnamigen Buch erweitert – bis heute eine der Bibeln des Atheismus.

Der berühmte britische Philosoph macht gleich im Vorwort seine Überzeugungen deutlich. Er lehnt jede Form des religiösen Glaubens ab, denn er ist sich sicher, „dass die Religionen Schaden anrichten und dass sie unwahr sind“. Gläubige lehnen „unvoreingenommene Untersuchungen“ ab, so dass die Tugend des Zweifels verkümmert. Religionen verleiten zu Fanatismus, ja verbreiten „das Gift der Feindschaft“.

Nach der Analyse der Gottesbeweise kommt Russell auch auf Jesus zu sprechen und fragt, „ob Christus der beste und weiseste der Menschen war“. Russell, nicht unbescheiden: „Ich stimme mit ihm weit mehr überein als die meisten Bekenntnischristen“. Indirekt zeigt er damit schon, dass selbst für einen Atheisten die Maßstäbe Jesu gelten. Dann meint er jedoch: „Geschichtlich gesehen ist es ziemlich zweifelhaft, ob Christus überhaupt jemals gelebt hat, und wenn ja, so wissen wir nichts [!] über ihn“ – so der berühmte Satz des Philosophen. Einhundertfünfzig Jahre zuvor hatten französische Aufklärer wie Voltaire und d‘Holbach diesen Gedanken in die Welt gesetzt. Man kann sich nur wundern, dass Russell dies – wohl wider besseres Wissens – immer noch wiederholt.

Jesus habe einen „schweren Charakterfehler“ gehabt, denn er „glaubte ganz gewiss an eine ewige Strafe“. Russell ist jedoch überzeugt: Niemand, „der zutiefst menschenfreundlich ist, [kann] an eine ewigwährende Strafe in der Hölle glauben“. „Rachsüchtige Wut“ finde sich eben nur bei Jesus, nicht bei Sokrates.

Im Englischen beginnt der entscheidende Satz jedoch so: „I do not myself feel that any person…“ Russell beruft sich letztlich auf sein Empfinden. Und natürlich hat gerade diese Lehre von der Ewigkeit eine emotionale Komponente. Wen könnte ewiges Glück oder ewige Verdammnis kalt lassen? Nun wirft aber Russell den Christen vor, sie würden nur aus Gewohnheit, wegen ihrer Erziehung und aufgrund von Gefühlen der Unsicherheit und Angst glauben, und nicht wegen vernünftiger Argumente. Und was tut er hier? Letztlich gefällt ihm die Lehre von der Hölle nicht; er lehnt sie aus emotionalen Gründen ab. Echte Argumente bringt er hier nicht vor, er stellt einfach fest: echte Freunde der Menschheit müssen die Hölle ablehnen. Punkt.

Ob nun Atheisten wie Russell, Dawkins oder Deschner – sie versuchen meist, Jesus im Nebel der Geschichte verschwinden zu lassen oder machen ihn zu einem naiven Dummkopf. Oder sie holen die Keule der moralischen Entrüstung heraus: das garstige Höllenfeuer! Doch halt: Die Lehre von der Hölle ist einzig dann ein greifender Vorwurf, wenn man schon als zweifellos wahr voraussetzt, dass Gott nicht existiert. Lässt man dies aber zumindest offen, ist es durchaus vernünftig, so zu denken: Wenn ein personaler Gott mit einem bestimmten Charakter existiert und dieser Gott personale Wesen, uns Menschen, neben sich erschaffen hat, und wenn diese Wesen sich dem Willen Gottes widersetzen, entziehen und von Gott getrennt leben wollen – wo bleibt dann der rationale Skandal der Hölle?

In einem TV-Interview mit der BBC 1959 wurde der große Denker gefragt, welche Botschaft er als Vermächtnis oder Lektion seines Lebens den Menschen in „eintausend Jahren“ überbringen wolle. Nur zwei Dinge nennt Russell: ein moralisches und ein intellektuelles Prinzip. Egal, was man studiert und untersucht, so Russell, man solle sich einzig fragen, was die Fakten und die Wahrheit über diese Fakten sind; man dürfe nicht nach seinem Geschmack oder Kriterien wie bloßer Nützlichkeit urteilen. Wie wahr!

Und der moralische Grundsatz: „Liebe ist weise, Hass ist töricht.“ Nur die Liebe, konkret Barmherzigkeit und Toleranz, werde in Zukunft ein menschliches Zusammenleben möglich machen. Ähnlich hieß es von ihm schon im oben zitierten Werk: „Das gute Leben ist von Liebe beseelt und von Wissen geleitet“ (Why I am not a Christian). Und zu Beginn seiner Autobiographie sehr offen („Wofür ich gelebt habe“): „Mein Leben… wird von drei Leidenschaften getrieben: der Sehnsucht nach Liebe, dem Drang nach Wissen und dem unerträglichen Mitleid mit den Leiden der Menschheit“.

Die Fakten über Jesus und das Christentum? Jesus wurde von Russell weitgehend ignoriert, und das Christentum, ja jede Religion sei eine „Macht des Bösen“, ein Drache, den es zu töten gilt. Zu diesem Schluss gelangt man jedoch durch keine vorurteilsfreie Prüfung der Fakten. Russell lehnte den Glauben, Jesu Lehre und Person – wie wir sahen – aus weitgehend emotionalen Gründen ab. Seinen eigenen Ansprüchen wurde er damit nicht gerecht.

Und die Liebe? Russell hat schon Recht, Liebe ist weise, Hass zu verwerfen. Doch was ist Liebe? „Nach Liebe trachtete ich, weil sie Verzückung erzeugt, eine Verzückung, so gewaltig, dass ich oft mein ganzes, mir noch bevorstehendes Leben hingegeben haben würde für ein paar Stunden dieses Überschwanges. Zum anderen habe ich nach Liebe getrachtet, weil sie von der Einsamkeit erlöst, jener entsetzlichen Einsamkeit… Und letztens habe ich nach Liebe getrachtet, weil ich in der liebenden Vereinigung in mystisch verkleinertem Abbild die Vorahnung des Himmels erschaute…“ – eines Himmels, an den er damals schon viele Jahre nicht mehr glaubte. Ist dies selbstlose Liebe? Russell hatte vier Ehefrauen und zahllose Geliebte und Affären. Sein Liebesideal verhedderte sich in Widersprüchen .

Ein vergebender Gott war Russell immer fremd. Den Einfluss der Vergebung und der Feindesliebe in der Geschichte wollte er nicht sehen. So sah er die Menschen dem „Tyrann Schicksal“ („A Free Man‘s Worship“, 1903) ausgeliefert, betrachtete unser Leben als einen „langen Marsch durch die Nacht“ mit ungewissem Ende, ein Leben, das wir „auf dem Fundament der unnachgiebigen Verzweiflung“ bauen.

„Entweder eine Sache ist wahr oder nicht. Wenn sie wahr ist, soll man sie glauben“, so Russell. Genau! Auch wenn der Brite selbst nicht zu Erkenntnis der Wahrheit durchgedrungen ist, so hat er zumindest damit auch uns Christen etwas ins Stammbuch geschrieben.

Illustration oben: Ausschnitt aus dem Logicomix, ein Comic über Russells „epische Sucher nach Wahrheit“; mit Wittgenstein (oben  im Bild links neben Russell), Whitehead, Frege, Gödel und anderen Denkern.