Die Geburt eines Mythos
Eine etwas überarbeitete Version eines Beitrags, der in diesen Tagen auch im litauischen Netz erscheint:
„Schwestern und Brüder aus Amerika“ – kaum hatte der junger Inder seine Zuhörer angeredet, brauste tosender Beifall über ihn hinweg. Im Namen „des ältesten Mönchsordens der Welt“ und „der Mutter der Religionen“ bedankte sich der Hinduist für die Einladung zum ersten „Parlament der Weltreligionen“ in Chicago im Jahr 1893.
Vor genau 120 Jahren, am 11. September, hielt der bis dahin unbekannte Mönch Swami Vivekananda eine der Eröffnungsreden vor den Vertretern der vielen Religionen, in der Mehrzahl aber Christen aus dem Westen. Die Ansprache des Dreißigjährigen dauerte gerade ein paar Minuten, aber sie hatte es in sich: Vivekananda schuf den Mythos des toleranten Orients im Gegensatz zum von Fanatismus, Verfolgungen und Dogmatismus geplagten Westen – zum christlichen Westen. (Foto o.m.: Vivekananda mit Teilnehmern des Parlaments)
Die „Idee der Tolerierung“ stamme aus den „weitentfernten Ländern“ im Osten. „Ich bin stolz einer Religion anzugehören, die der Welt sowohl Toleranz, als auch universale Annahme gelehrt hat. Wir glauben nicht nur an universale Tolerierung, wir anerkennen alle Religionen als wahr“, so der Hindu-Mönch. Schon Vivekanandas Guru Sri Ramakrishna lehrte die Erfahrung der Wahrheit in allen Religionen. Der Schüler verpackte die Botschaft attraktiv, nahm westliche Ideen und Begriffe auf, und begründete so die hinduistische Mission in Amerika und Europa.
Vivekananda mischte respektvolle Anrede („eine der ehrenwertesten Zusammenkünfte, die es jemals gab“) mit geradezu missionarischem Selbstbewusstsein, denn er „verkündigt“ nun „der Welt“ eine Wahrheit aus der Bhagavadgita: „Wer auch immer zu Mir [der Gottheit] kommt, in welcher Weise auch immer – Ich erreiche ihn; alle Menschen mühen sich auf Wegen ab, die am Ende zu mir führen.“ Schließlich sieht er auch am Ende der Rede die Menschen der verschiedenen Religionen „auf dem Weg zu dem gleichen Ziel“ und hofft, dass die „Totenglocke“ für „alle Verfolgungen mit Schwert und Feder“ geschlagen hat.
Die gerade 459 Worte des Hindus schlugen damals in den USA wie eine Bombe ein. Viele Zeitungen druckten die Rede ab, sechs Mal musste Vivekananda sie vor jeweils anderem Publikum wiederholen. „The New York Herald“ nannte Vivekananda „die herausragendste Persönlichkeit des Weltparlaments“.
Der Mythos, der damals wohl erstmals so laut durch die Welt hallte, war und ist ein doppelter: alle Religionen sind Wege zum gleichen Ziel, daher sind sie alle ‘wahr’; und damit eng verbunden: es gibt keine falschen Religionen, keine Irrlehren, weshalb jedes Lehrsystem zu tolerieren ist – universale Toleranz.
Vivekanandas Botschaft wurde auch deshalb so begeistert aufgenommen, weil er einfach das artikulierte, was im Westen weltanschaulich und philosophisch schon vorbereitet war. Die Saat ging plötzlich auf, denn der Acker war bestellt.
Gut einhundert Jahre zuvor, 1779, hatte G.E. Lessing mit dem Drama Nathan der Weise das vielleicht populärste Dokument aufgeklärter Religion geschaffen: Man besitzt nicht die einzig wahre Religion; jeder hat seinen eigenen Glauben, darf diesen aber keineswegs als allein seligmachend ansehen; jede authentische Religion hat letztlich ihren Ursprung in Gott.
Einen noch heftigeren Schlag hatte Voltaire mit seinem Traktat über die Toleranz (1763) dem Christentum versetzt. Der polnische Autor Ryszard Legutko:
„Der grundlegende Gedanke, den Voltaire in seinem Traktat beweisen wollte, war, dass im wesentlichen oder sogar einzig das Christentum die Schuld für die Intoleranz trifft und dass es immer eine Religion der Brutalität und des Zwanges war… Außerdem war er darum bemüht zu zeigen, dass andere Religionen, Zivilisationen und Imperien – selbst diejenigen, die Europäer traditionell als die grausamsten betrachteten – nicht nur toleranter als das Christentum, sondern sogar Quellen der Toleranz sind.“ (Tolerancija)
Im 20. Jhdt. war dann M.K. Gandhi, nur ein paar Jahre jünger als Vivekananda, der schon früh verstarb, die große Stimme des Neohinduismus. Auch er nahm Elemente des Christentums auf (die Bergpredigt inspirierte ihn zum gewaltlosen Widerstand), betonte den Monotheismus, sah die verschiedenen Religionen aber alle als Wege zum Heil an: „Es gibt nur einen allmächtigen und allgegenwärtigen Gott. Er wird verschieden genannt, und wir erkennen Ihn in der Gestalt, die uns am nächsten ist. Jeder Mensch kann einen Namen wählen, der am deutlichsten zu ihm spricht.. Ishvara, Allah, Khoda, Gott bedeuten alle das gleiche.“ Daher dürfe man nicht sagen „dies ist der Weg“, sondern vielmehr „dies ist mein Weg, obwohl ich auch den deinen achte.“ (The Way To God)
Und nun kommt also zum dritten Mal nach 1991 und 2001 der XIV Dalai Lama nach Litauen – an einem 11. September, genau am Tag von Vivekanandas Rede, landet er in Vilnius. Der Buddhist ist heute das wichtigste Sprachrohr der Botschaft des Inders (natürlich ohne die monotheistischen Töne). So umschreibt der Titel des Buchs The Good Heart seine Hauptbotschaft: Das Wesen aller Religion ist dasselbe, nämlich genau dieses – das reine Herz. Nur eines der vielen Zitate dazu:
„Ich glaube, dass das Ziel aller großen Religionen nicht der Bau von gigantischen Tempeln, sondern das Errichten von Heiligtümern der Güte und des Mitleids in unserem Inneren, in unserem Herz ist. Jeder große Religion ist dazu in der Lage, dies zu schaffen.“
Oder im Jahr 2000 im litauischen katholischen Journal „Sandora“: „Die Grundlage aller Religionen sind Liebe und Barmherzigkeit. Sie mögen sich in philosophischer Hinsicht sehr unterscheiden, aber ihr grundlegendes Ziel ist das gleiche – das Streben nach Vollkommenheit.“
Wie schon bei Vivekanandas Thesen fehlt auch hier immer jede Form des historischen oder empirischen Nachweises für diese Behauptungen. Kein Wunder, denn die These vom gleichen Sinn und Zweck der Religionen ist in dieser Form schlicht und einfach falsch. Sicherlich ähneln sich die meisten Religionen in mancherlei Hinsicht. Aber dass ihr Kern immer derselbe sei und dass sie alle zu derselben Leistung fähig seien – das ist eine simple Propagandathese, die der Dalai Lama als selbstverständlich hinstellt.
Der in Indien aufgewachsene christliche Apologet Ravi Zacharias widerspricht entschieden:
„Alle Religionen sagen nicht, dass alle Religionen gleich seien. Im Herzen jeder Religion liegt eine kompromisslose Hingabe an eine bestimmte Definition, wer Gott ist und wer er nicht ist, und dementsprechend an eine bestimmte Definition des Sinnes des Lebens… Jede Religion ist im Kern exklusiv.“ (Jesus among other Gods)
Belege ließen sich in Hülle und Fülle geben. So behauptet Gandhi kategorisch: „Gott ist keine Person… wir sind alle seine Wiederverkörperungen“. Judentum und Christentum sagen etwas völlig anderes. Und in den Definitionen von Religion und Lebenssinn durch den Dalai Lama fällt immer der Anthropozentrismus auf, die Konzentration auf den Menschen. Das Christentum lehrt jedoch, dass der Lebenssinn des Menschen zuerst ist, Gott zu dienen, ihn anzubeten und zu lieben – wir sind geschaffen „zum Lob seiner Herrlichkeit“ (Eph 1,12.14). Und daraus entspringt dann ein erfülltes Menschsein.
In Litauen verbreitete vor allem Jurga Ivanauskaitė (1961–2007), die bekannteste Gegenwartsautorin des Landes, den Gedanken der Einheit der Religionen, schließlich prägten sie auch persönlich hinduistische, buddhistische und christliche Einflüsse. In der 10. Klasse bekehrte sie sich zu einer Art hinduistischem Pantheismus, und mit dem ersten Besuch des Dalai Lama 1991 in Litauen begann für die Schriftstellerin ein „neuer geistlicher Wegabschnitt“. „Alle Religionen sind gleichsam verschiedenen Wege zu Liebe, Wahrheit und Frieden. Zum inneren Frieden, in dem keine wesentlichen Konflikte und Widersprüche mehr existieren,“ so im Sammelband Tiketi ir rašyti [Glauben und schreiben]. Daraus folgt für sie: „Ein zutiefst Gläubiger wird nie versuchen, jemand anderen zu seiner Religion zu bekehren“. Ivanauskaitė hatte durchaus begriffen, dass die Gottesfrage der Einheit der Religionen im Wege steht (s.o. Zacharias). Daher musste der Gottesbegriff – typisch buddhistisch – vom Tisch gefegt werden: „Die persönliche geistliche Vervollkommnung und nicht der Gottesbegriff“ sei „das Wesen jeder Religion“.
Und wie sieht es mit der Toleranz aus? Wir können hier nicht die komplexe Geschichte der Tolerierung nachzeichnen, und wir werden auch nicht untersuchen, ob Vivekanandas Behauptung, die indische Nation hätte den „Verfolgten und Flüchtlingen aller Religionen“ immer Zuflucht gewährt und im 1. Jhdt. „den reinsten Überrest der Israeliten“ aufgenommen, der Wahrheit entspricht. Entscheidend ist, dass er und alle in seinen Spuren bis zum Dalai Lama heute einen neuen Toleranzbegriff vertreten: statt Personentoleranz wird die Toleranz der Ideen propagiert. Über diesen Paradigmenwechsel schreibt Ken Connor vom „Center for a Just Society“ im Beitrag „So Much for Tolerance“ (lit. bernardinai.lt, 2011 02 10; hier der ganze Text):
„In recent years, however, the notion of what it means to be “tolerant” has changed radically. There was a time when tolerance meant just that: tolerance. I may not agree with my neighbor’s religious beliefs, or lifestyle choices, or cultural mores, but as a law abiding, dignified citizen I tolerated these differences in a peaceable manner. My neighbor would extend me the same courtesy. If the occasion arose, say, come election season, we might engage in a lively discussion of our differences, debating the merits of each person’s views. Today, however, a new understanding of tolerance reigns: I must not merely respect my neighbor’s right to think and act differently from me, I must embrace, celebrate, and promote my neighbor’s way of life, even if that means repudiating my own values in the process.“
Als Beispiel spricht Connor ein paar Sätze weiter das Thema Homosexualität an. Gefordert wird von den Homo-Verbänden Toleranz, gemeint ist aber einen öffentliche Bekräftigung, Bejahung des Lebensstils. Heute gilt nur derjenige als tolerant gegenüber Homosexuellen, der ihren Lebensstil gutheißt; der nicht nur erduldet, sondern „positiv würdigt“. Wer praktizierte gleichgeschlechtliche Liebe verwirft oder als Sünde bezeichnet, gilt als untolerant. Dabei hat dies mit der historischen Bedeutung von Toleranz nichts mehr zu tun. Denn sie bedeutet ja, dass ich einen Menschen, eine Person, neben mir erdulde oder ertrage, mit deren Ideen, Religion, Weltanschauung, Werten usw. ich nicht übereinstimme, ja die ich oft ablehne.
Die ‘westliche’ Toleranzidee lebt von der Wahrheit, d.h. von einem robusten Begriff absoluter und objektiver Wahrheit (und die Erosion dieses Wahrheitsbegriffs in der Postmoderne hat das Vorrücken der neuen Toleranz aus dem Osten nur erleichtert). Denn Toleranz ohne Wahrheit löst sich einfach auf, die ganze Kategorie wird unbrauchbar. Noch einmal: Toleranz bedeutet das Dulden einer Person neben mir, die eine Ansicht vertritt, die ich für unwahr halte. Wenn es keine Wahrheit und Falschheit gibt, kann ich auch niemanden im eigentlichen Sinne tolerieren.
Nicht die Wahrheit stört; das kategorische Verwerfen von Positionen ist nicht das Problem. Selbst wenn wir die Wahrheit als Kategorie beseitigen, haben die Menschen immer noch den natürlichen Drang, andere zu unterdrücken oder zu beseitigen. Wir hassen nur zu leicht – nach dem Sündenfall ist das unsere default position. Und es ist so gerade die Wahrheit, die echte Wahrheit, d.h. die absolute Wahrheit, die uns rettet. Sie verlagert die Intoleranz und den Kampf auf die Ideen. Gibt es keine Wahrheit mehr, um die zu ringen ist, dann ringt man nur allzu schnell Menschen nieder.
„Ideen sind ihrer Natur nach intolerant, auch sogenannte liberale Ideen“, so der katholische Philosoph Robert Spaemann. Denn sie sind entweder wahr oder falsch. „Menschen dagegen können und sollen im Umgang mit Menschen, die andere – ihrer Meinung nach falsche – Ideen haben, tolerant sein. Denn nur so können sich Ideen mit anderen Ideen messen… Der Kampf der Ideen gehört zu jeder freien Gesellschaft.“ (Das unsterbliche Gerücht) Den Kampf der Ideen wollen uns aber Vivekananda und der Dalai Lama ausreden. (Dass ein relativistischer Begriff der Wahrheit zu Tyrannei und Intoleranz von Personen führt, hat Phil Miles in „Of truth, tolerance and tyranny“, kategoria no. 22, 2001, gezeigt.)
Ähnlich wie Spaemann drückt sich übrigens auch Jürgen Habermas aus: „Tolerierung ist zuerst dann notwendig, wenn man die Überzeugungen von anderen ablehnt: Wir brauchen nicht tolerant sein, wenn wir dem Glauben und den Ansichten anderer gleichgültig oder indifferent gegenüber stehen“ (Intolerance and Discrimination). „Missionarische Religionen wie das Christentum und der Islam sind in ihrem Wesen intolerant gegenüber anderen Glaubenssystemen“, so der Philosoph und Soziologe. Mit „intolerant“ meint er den erwähnten Kampf der Ideen. Habermas spricht hier auch von einem „kognitiven Konflikt“ – diese Konflikte von Ideen sind gut, die physischen von Menschen nicht.
Wahrheit und Toleranz brauchen sich gegenseitig. Toleranz ist auf Wahrheit angewiesen, und Wahrheit auf Toleranz. Wir tolerieren Menschen, damit sie ihre Ideen vortragen können und wir so der Wahrheit näher kommen, sie besser begreifen können. Wir respektieren Menschen, aber wir respektieren keine falschen Ideen – andernfalls wird aus dem Kampf der Ideen ein relativistischer Einheitsbrei.
Jede Geschichte des Toleranzgedankens zeigt, dass er seine Hauptwurzeln in den protestantischen Ländern des 16. und 17. Jahrhunderts hat. Doch die Christen haben sich, vom theologische Liberalismus gänzlich aufgeweicht, den Begriff stehlen lassen. Nun wird die Toleranz gegen sie selbst gewandt. Im Namen der Toleranz werden Christen intolerant ermahnt: Sagt im Hinblick auf andere Religionen eurem intoleranten Bekenntnis ab, dass es keinen anderen Namen gäbe, in dem das Heil wäre, als nur in Jesus Christus! Hier geht es nicht um eine unbedeutende Kleinigkeit, sondern um das Herz des christlichen Glaubens. Kann es aber eine größere Intoleranz gegenüber anderen Religionen geben als die, unter dem Deckmantel der Toleranz zu fordern: Verleugnet das Zentrum eures Glaubens!
Bei seinem letzten Aufenthalt in Litauen im Jahr 2001 traf der Dalai Lama im Hotel LeMeridien-Villon mit Kirchenvertretern zusammen. Bei der Frage einer katholischen Journalistin nach der Bewertung der christlichen Missionspraxis in Asien wurde der Exil-Tibeter dann sehr deutlich: „That´s not good!“ kam es wie aus der Pistole geschossen aus ihm heraus. Das ist nicht gut! Es sei immer besser, seine Religion zu behalten. Mission ist nur da ‘erlaubt’, wo es keine traditionellen Gross-Religionen gibt (also nur in Gebieten mit ´primitiven` oder animistischen Religionen).
Was soll das mit echter Toleranz zu tun haben? Diese lässt einen Buddhisten wie ihn seine Mission auch im Westen betreiben, genauso wie man schon Vivekananda Ramakrishna-Missionen gründen ließ (zuerst 1894 in New York). Wer einen Mitspieler auf dem Markt der Religionen ausschließen will und von Christen verlangt, ihr Missionsverständnis aufzugeben und Missionare in Asien nicht haben will, der zeigt nur, dass ihm der Geist der wahren Toleranz fremd ist.