CH/LT – Zwischen Matterhorn und Memel

CH/LT – Zwischen Matterhorn und Memel

Wer bei GoogleMaps „Šveicarija“, die Schweiz auf Litauisch, sucht, wird natürlich den Eintrag für das Alpenländli finden – und gleich darunter das litauische Örtchen gleichen Namens, ein Dorf im Kreis Jonava, nordöstlich von Kaunas. Und als „litauische Schweiz“ bezeichnen sich gleich mehrere malerische Gegenden in Litauen: sanfte Hügellandschaften, durchsetzt von zahlreichen Seen.

Sveicarija

Ein See wird auch im vielleicht berühmtesten aller litauischen Gedichte beschrieben. Doch befindet sich dieser nicht im gewässerreichen Baltikum! „Abendstimmung am Vierwaldstätter See“ schrieb der Dichter und Priester Maironis 1904 während eines Aufenthaltes in der Schweiz:

„Schimmernd wogten die Wellen des Sees / Gleich grünem Smaragd; / Trieben und wiegten ein Schiff ohne Ruder / Mit dem Atem des Winds“, so die erste Strophe, übersetzt von M. Roduner.

Vierwaldstaettersee Schiff

Der Vierwaldstättersee

Viel verbindet die beiden kleinen Länder wie die Skepsis gegenüber mächtigen Nachbarn und der Drang nach Freiheit. Und in Litauen träumte man nach 1990 immer wieder gerne von einer Art Schweiz im Osten: unabhängig, selbstbewußt, wohlhabend; klein, aber fein. Kulturelle Unterschiede gibt es aber natürlich auch genug. Üben sich die Eidgenossen gerne in diskreter Zurückhaltung nach dem Motto: mehr Sein als Schein, so halten sich viele neureiche Litauer an das Gegenteil: Hauptsache Eindruck machen.

Lange vermutete man, dass sich Schweizer und Litauer erstmals auf einem berühmten Schlachtfeld begegneten. Inzwischen gilt es jedoch als sicher, dass bei Žalgiris/Grünwald 1410 auf Seiten des Deutschen Ordens doch keine eidgenössische Söldner kämpften. Damals unterlagen die Ritter dem polnisch-litauischen Heer. Gesichert ist jedoch, dass sich um 1500 am Hof des Grossfürsten Alexanders in Vilnius „Szwayczarowye“, so polnisch, aufhielten. Etwa 1520 besuchte der berühmte schweizer Arzt Paracelsus Litauen. Und um 1550 tauchte in den Stadtbüchern von Kaunas der Humanist und Bildhauer Severinus Oreander auf, der in Basel studiert hatte.

Während der Reformation intensivierten sich Kontakte. Mitte des 16. Jhdts. korrespondierte Mikalojus Radvila „der Schwarze“, Führer der litauischen Refomierten, intensiv mit Reformatoren wie Calvin, Bullinger, Beza und dem Berner Wolfgang Musculus. Die Schweizer widerum widmeten ihm Werke wie Calvin seinen Apostelgeschichte-Kommentar.

Calvin an die Ref Vilnius 1561 10

Calvins Brief in Latein an die Reformierten in Vilnius

Johannes Calvin hoffte, dass sich die Reformation auch in ganz Polen-Litauen durchsetzt, weshalb das Land „in meinen Gedanken nun viel Raum einnimmt“. In dem Brief vom Februar 1555 an Radvila (eigentlich poln. Radziwill) fährt der Wahl-Genfer fort: „Ohne Zweifel siehst auch Du, dass das Errichten des himmlischen Reiches Gottes auf Erden eine unbeschreiblich schwere Anstrengung bedeutet. Und Du siehst auch, welche Hindernisse der Satan in den Weg stellt, um diese Arbeit zu erschweren und zu vereiteln…“

Calvin fordert den litauischen Fürsten schließlich auf: „bemühe Dich mit ganzer Kraft, den Ruhm seines Reiches zu verbreiten“. Für diesen Einsatz, so der Reformator, erhalten wir nicht viel irdischen Lohn. Doch Gott gibt uns ein „aussergewöhnliches Geschenk“ – Calvin spricht dem Kopf der Reformation in Litauen die Verheißung Gottes aus 1 Sam 2,30 zu: „Wer mich ehrt, den will ich auch ehren.“

Calvin ermutigte litauische Evangelische nicht nur. Im Oktober 1561 schrieb er der Vilniuser reformierten Gemeinde und warnte eindringlich vor dem italienischen Antitrinitarier (Dreieinigkeitsleugner) Giorgio Blandrata. Dieser hatte bei den Protestanten in Litauen Zuflucht gefunden. Wegen der recht toleranten Haltung der litauischen Reformierten gegenüber Irrlehrern wie Blandrata galt die Kirche in Litauen bei den Schweizern lange als nicht besonders orthodox oder rechtgläubig.

Unbedingt zu erwähnen ist aber auch, dass die litauische refomierte Kirche das Zweite Helvetische Bekenntnis von Heinrich Bullinger, dem Zürcher Reformator, annahm. In der polnischen Übersetzung ist es als Bekenntis von Sandomir schon seit 1570 Lehrgrundlage der Reformierten in Polen und Litauen. Anfang 2012 erschien erstmals eine Übersetzung aus dem Lateinischen ins Litauische. Die briefliche Verbindung zwischen den Theologen der beiden Ländern riß ürbigens nicht ab: Ende des 16. Jhdts. korrespondierte der Kopf der litauischen Reformierten, Andreas Volanus, mit Bullingers Schwiegersohn Josias Simler.

Bullinger schmal

Zwinglis Nachfolger in Zürich: Heinrich Bullinger

Beziehungen auf Augenhöhe – darum ging es den litauischen Evangelischen. Bis heute kommen  Bevormundungen nicht gut an. Ab etwa 1990 spürten die Lutheraner Litauens Druck aus deutschen Partnerkirchen (wie der Nordelbischen). Forderungen wurden gestellt wie diese: Man soll doch bitteschön endlich die Frauenordination einführen. 1995 verstarb der langjährige lutherische Bischof Jonas Kalvanas senior. Nun sah sich auch der Schweizer Gerd Stricker vom ökumenischen Institut G2W (Glaube in der zweiten Welt) berufen, Einfluß zu nehmen. Dieser rückte in der Zeitschrift „G2W“ (Nr. 7/8 1995) Jonas Kalvanas jr., aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge im Amt, in ein schlechtes Licht. In dem Beitrag wird Kalvanas, so der lutherische Pfarrer Dr. Darius Petkunas, „als einfältiger und ungebildeter Mann dargestellt, der in keiner Weise als Bischof der litauischen Kirche geeignet sein würde“. Stricker forderte, dass die Kirche „die Vergangenheit ablegen und mutig in die Zukunft schreiten solle, indem sie einen Bischof wähle, der positive und tiefgreifende Veränderungen herbeiführe.“ („Wiedergeweiht – Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Litauen“, Lutherische Beiträge, Beiheft 6, 2007) Nun mag Stricker ein Experte für die Kirchen Osteuropas sein, doch die Litauer sind auf Ratschläge dieser Art, ob nun aus Deutschland oder der Schweiz, kaum angewiesen. Kalvanas wurde gewählt.

Kalvanai

Vater und Sohn Kalvanas, Anfang der 90er Jahre

Auch die täuferische Tradition ist mit Litauen verbunden. Die Baptistengemeinde in Klaipėda/Memel (älteste auf dem Gebiet des heutigen Litauens, s. Foto u.) geht auf das Wirken Eduard Grimms zurück. Bei einem Aufenthalt in der Schweiz hatte er die Bewegung der „Neutäufer“ um Samuel Fröhlich kennengelernt. Die Idee der Großtaufe nahm er mit zurück nach Litauen. Aus den „Neutäufern“ gingen die heutigen Evangelischen Täufergemeinden (ETG) der Schweiz hervor. Zu litauischen Kirchen aus anabaptistischer Tradition besteht jedoch nun nach unserem Wissen kein Kontakt.

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Nie führten die beiden Länder Krieg gegeneinander. Schweizer hinterließen keine Spur der Zerstörung, sondern manche Kulturdenkmäler. So kamen schon im Jahre 1560 erste Baukünstler aus dem Tessin nach Litauen. Im 17. Jhdt. schufen Tessiner barocke Kirche und Paläste wie z.B. die prächtige Kasimir-Kapelle in der Kathedrale.

Auf litauischem Boden standen wohl nur einmal schweizer Soldaten. Vier Regimenter aus der Helvetischen Republik, etwa 5000 (oder doch 16.000?) Mann, mußten Napoleon auf dem Zug nach Moskau begleiten. Ein schweizer Offizier, Antoine-Henri Jomini aus dem Kanton Waadt, wurde von Napoleon 1812 sogar als Ortskommandant von Vilnius eingesetzt. Reste der Truppen schleppten sich bis auf litauisches Gebiet, wo so auch schweizer Angehörige der Grande Armée eine letzte Ruhestätte (bei Vilnius und Kaunas) fanden.

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Napoleons Armee setzt 1812 bei Kaunas über die Memel

Ende des Jahrhunderts wurde dann die 1889 gegründete Universität in Freiburg/Fribourg bei Litauern erstaunlich beliebt. Von 1895–1935 studierten an der katholischen Hochschule etwa 110 Litauer, über dreißig Doktorarbeiten wurden von ihnen eingereicht. Der berühmte Dichter Vincas Mykolaitis-Putinas, der Pädagoge Stasys Šalkauskis und einer der wichtigsten litauischen Philosophen, Antanas Maceina – sie alle studierten zwischen 1915 und 1935 in Freiburg. Die Litauer gründeten dort die Studentenvereinigung „Lituanie“ (Litauen auf Frz.).

Während des I Weltkrieges konnten internationale Treffen nur in neutralen Ländern organisiert werden. Zwischen 1915 und 1917 fanden in Bern drei Konferenzen über einen unabhängigen litauischen Staat statt. Litauer aus allen Ecken der Welt berieten über die Zukunft ihres Landes, legten erste Grundlagen für den neuen Staat, der dann 1918 ins Leben gerufen wurde. Das Litauische Informationsbüro wurde aus Paris zuerst nach Lausanne, dann nach Bern verlegt.

Botschaft Bern II

Botschaft Litauens in Bern

Der wohl wichtigste Brückenbauer in diesen Jahren war der 1895 in Basel geborene Joseph Ehret. Er studierte in Freiburg Germanistik und Sprachen, lernte das Ur-Indoeuropäische, Litauisch, und kam so in Kontakt mit Litauern. Der junge Mann wurde Sekretär für Pressefragen an der litauischen Vertretung in Bern, folgte bald einem Ruf ins junge Auswärtige Amt in Kaunas. In Litauen gründete der Schweizer 1920 die litauische Nachrichtenagentur ELTA, die bis heute besteht. Ehret wurde 1922 auch litauischer Bürger (lit. Juozas Eretas-Jakaitis). Knapp zwei Jahrzehnte unterrichtete er Deutsch an der Universität in Kaunas, leitete den Lehrstuhl für Weltliteratur, wirkte auch in der Katholischen Akademie der Wissenschaften und anderen Organisationen mit. Dabei war er nur einer von insgesamt fünf schweizer Professoren/Dozenten in Kaunas! Bekannt ist vor allem der Sprachwissenschaftler Alfred Senn (1899–1978), der später in die USA ging. Wegen der sowjetischen Besetzung mußte Ehret mit seiner litauischen Frau und fünf Kindern in die Schweiz zurückkehren. Viele Jahre arbeitete er an einem Gymnasium in Basel und starb 1984.

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“Sohn der Schweiz, Patriot Litauens” – Josef Ehret

Die Einverleibung Litauens in die Sowjetunion unterbrach diese vielfältigen Beziehungen. Das ab 1926 erscheinende „Wörterbuch der litauischen Schriftsprache. Litauisch-Deutsch“, herausgegeben u.a. von Schweizern (Baltist Max Niedermann, Alfred Senn und Franz Brender), konnte erst 1968 in den USA durch Senn und A. Salys abgeschlossen werden.

Mit der Unabhängigkeit Litauens 1990 wurden wieder neue Verbindungen geknüpft. Die zahlreichen wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte sind gar nicht zu nennen. Manche  Schweizer sind den Spuren Ehrets gefolgt. So wohnt in Šiauliai seit vielen Jahren Markus Roduner – einer der wichtigsten Übersetzer von litauischer Literatur ins Deutsche (bei dtv erschien z. B. J. Ivanauskaites „Die Regenhexe “, im Berner BaltArt Verlag B. Sruogas „Der Wald der Götter“). Umgekehrt zogen natürlich auch nicht wenige Litauer in die Schweiz und gründeten auch dort eine litauische Gemeinschaft (im Internet:www.lietuviai.ch).

Roduner

Markus Roduner

Nach Ehret und neben Roduner hat ein weiterer Liebhaber von Sprachen und Literatur Brücken zwischen der Schweiz und Litauen gebaut. Zigmal reiste Hansjörg Baldinger von den Vereinigten Bibelgruppen (VBG, Schweizer Studentenmission) nach Litauen. Erste Kontakte zu christlichen Studenten entstanden so schon 1991. Von Hansjörg (Deutsch- und Französisch-Lehrer) und anderen VBGlern wurde bald der Arbeitszweig LINK ins Leben gerufen, um junge Studentenbewegungen in ganz Zentral- und Osteuropa zu unterstützen. Studententeams oder Referenten begleiteten Hansjörg auf seinen Reisen, führten evangelistische Einsätze an Hochschulen durch. Nach so einer Woche wurde auch die Šiauliaier Studentengruppe ins Leben gerufen, die in den ersten Jahren von Rima, dann von Holger geleitet wurde. Aus ihr gingen mehrere Mitarbeiterinnen von LKSB hervor. Hansjörg hielt wohl an fast jeder Uni Litauens Vorlesungen über Literatur oder apologetische Themen, war all die Jahre ein Türöffner und wahrer Pionier. Ohne ihn und die (nicht zuletzt finanzielle) Hilfe von LINK gäbe es heute keine IFES-Studentenmission in Litauen.

HJB

Hansjörg, 2008

2010 ging Hansjörg in den Ruhestand und übergab die LINK-Staffel an seinen Nachfolger Andre Tapernoux, der nun nebenberuflich diesen Arbeitszweig leitet und ab und an Litauen besucht.

LINK

 

Überarbeiterter „Labas“-Sonderdruck aus dem Jahr 2010 (anlässlich der Verabschiedung von Hansjörg im April des Jahres in Bern).