„Recht tun“ – was heisst das?
„Sie fressen mein Volk auf…“
Der alttestamentliche Prophet Micha wirkte zwischen 750 und 686 v.Chr. im Königreich Juda (Bild oben: der Prophet auf dem dem Genter Altar von Jan van Eyck). Er war Zeitgenosse der Propheten Jesaja und Hosea, stammte aber, anders als Jesaja, nicht aus Jerusalem, sondern vom Land. Im 6. Kapitel, Vers 8, finden wir eine Art Zusammenfassung der biblischen Ethik: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.“ (EÜ)
Nicht zuletzt wegen des „Micah Challenge“ (wörtl. die Micha-Herausforderung) – einer weltweiten evangelikalen Initiative, die sich für die Bekämpfung der Armut einsetzt (dazu u. mehr) – wurde der Name des Propheten und dieser Vers sehr bekannt. Geradezu populär ist diese Aufforderung natürlich auch deshalb, weil mit „Recht tun“ die Gerechtigkeit angesprochen ist (im hebräischen Original steht hier das Substantiv mišpat, oft mit Gerechtigkeit übersetzt). Was ist hier damit gemeint?
Micha ist ein ein recht kurzes Prophetenbuch mit Abschnitten der leuchtenden Hoffnung und in großem Kontrast dazu strengen Gerichtsworten. Das zweite Kapitel beginnt drastisch: „Weh denen, die auf ihrem Lager Unheil planen und Böses ersinnen. Wenn es Tag wird, führen sie es aus; denn sie haben die Macht dazu. Sie wollen Felder haben und reißen sie an sich, sie wollen Häuser haben und bringen sie in ihren Besitz. Sie wenden Gewalt an gegen den Mann und sein Haus, gegen den Besitzer und sein Eigentum.“
In manchen Stellen spricht der Prophet breite Bevölkerungsgruppen an wie z.B. in 1,13 mehr oder weniger alle aus der judäischen Stadt Lachisch. Im eben zitierten 2,2 sind mit den Landräubern sicherlich eine nicht so große Gruppe von Reichen gemeint, die sich illegal Grundbesitz unter den Nagel reißen. Sie verletzen nicht nur das achte Gebot, sondern verachten auch das Prinzip, daß Land langfristig im Familienbesitz bleiben soll (s. Lev 25,10.13). Ihre Sünde bestand zuerst in der Habgier ihres Herzens, dann in ihrer ausgeprägten Neigung zu Diebstahl und schließlich in der böswilligen Mißachtung der Rechte ihrer ärmeren Mitmenschen.
Eine konkrete Gruppe spricht Micha auch in 3,1–3 an:
„Ich habe gesagt: Hört doch, ihr Häupter Jakobs und ihr Richter aus dem Haus Israel! Ist es nicht eure Pflicht, das Recht zu kennen? Sie aber hassen das Gute und lieben das Böse. Sie fressen mein Volk auf, sie ziehen den Leuten die Haut ab und zerbrechen ihnen die Knochen; sie zerlegen sie wie Fleisch für den Kochtopf, wie Braten für die Pfanne. Darum zieht man auch ihnen die Haut ab und reißt ihnen das Fleisch von den Knochen.“
Der Prophet zeichnet hier ein äußerst drastisches Bild des ‘sozialen Kannibalismus’, also der puren Menschenverachtung. Angesprochen sind hier neben den Propheten (3,5) die Männer der Führungsschicht, wahrscheinlich die lokalen Richter, die das Recht kennen sollten, von denen es aber heißt: „Ihr verabscheut das Recht und macht alles krumm, was gerade ist.“ (3,9)
Ein grundlegendes Problem war offensichtlich die Korruption, wie 3,11 deutlich macht: „Die Häupter dieser Stadt sprechen Recht und nehmen dafür Geschenke an, ihre Priester lehren gegen Bezahlung. Ihre Propheten wahrsagen für Geld“. Korruption wird in der Bibel an vielen Stellen hart verurteilt (s. z.B. Dt 27,25; 1 Sam 8, 3; Am 5,12). Denn die so wichtige Unparteilichkeit vor Gericht wird damit verletzt: Die Reichen zahlen, die Armen können dies nicht. In Juda verletzte man damals also das klare Gebot aus Dt 1,17: „Kennt vor Gericht kein Ansehen der Person! Klein wie Groß hört an!“ (s. auch Dt 16,19; 2 Chr 18,7; Spr 24,23).
Die Korruption der Richter und die Gier der Reichen wird auch in 7,3 angesprochen. Auf diese Art „verdrehen sie das Recht“. Einen Vers zuvor hat Micha aber auch das ganze Volk im Blick: „Verschwunden sind die Treuen im Land, kein Redlicher ist mehr unter den Menschen. Alle lauern auf Blut…“ In den Versen 5–6 zeichnet er ein Bild des allgemeinen Mißtrauens bis in die Familien hinein: „Traut eurem Nachbarn nicht, verlaßt euch nicht auf den Freund! Hüte deinen Mund vor der Frau in deinen Armen! Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter stellt sich gegen die Mutter, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter; jeder hat die eigenen Hausgenossen zum Feind.“
Weite Teil des Volkes waren also verdorben, und in besonderer Weise die Führungsschicht. Daher eröffnet Gott gleichsam ein Gerichtsverfahren. Mch 6, 2: „der Herr hat einen Rechtsstreit mit seinem Volk, er geht mit Israel ins Gericht.“ Der Prophet fragt dann rhetorisch und stellvertretend für das Volk:
„Womit soll ich vor den Herrn treten, wie mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? Hat der Herr Gefallen an Tausenden von Widdern, an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde?“ (6,6–7)
Micha will damit klarmachen, daß auch die größten Opfer allein all das Unrecht nicht wiedergutmachen können. Der nächste Vers 8 betont, daß es nicht nur um Rituale, sondern um die innere Einstellung geht, die zu entsprechenden Handlungen führen muß. Diese wahre innerliche Frömmigkeit zeigt sich dann sehr konkret z.B. darin, dass beim Handeln und auf dem Markt nicht betrogen wird. 6,10–12: „Kann ich die ungerecht erworbenen Schätze vergessen, du Haus voller Unrecht, und das geschrumpfte Maß, das verfluchte? Soll ich die gefälschte Waage ungestraft lassen und den Beutel mit den falschen Gewichten? Ja, die Reichen in der Stadt kennen nichts als Gewalttat, ihre Einwohner belügen einander, jedes Wort, das sie sagen, ist Betrug.“
Was heißt also nun „Recht tun“? Im Kontext des Buches Micha ist dies eindeutig: in negativer Hinsicht ist Raub, Betrug, Korruption, Gier unbedingt zu meiden; in positiver Hinsicht werden Schutz des Eigentums und des fairen Handels, Gleichheit vor Gericht und wirkliche Rechtsprechung bekräftigt. Diese Grundsätze gelten allen im Volk, und in besonderer Weise den Mächtigen, Richtern und Reichen.
Vom Propheten zur Initiative
Der Prophet Micha und der Vers 8 aus Kapitel 6 ist Inspirationsquelle des „Micah Challenge“ (in Deutschland „Micha-Initiative“, in der Schweiz „StopArmut2015“). Gegründet wurde „Micah Challenge“ 2004 von der Weltweiten Evangelischen Allianz und dem „Micah Network“, um sich für die Erreichung der sog. „Milleniumsziele“ der UNO (engl. MDG, www.un.org/millenniumgoals) einzusetzen. Das wichtigste dieser Ziele: Halbierung der extremen Armut bis 2015. In etwa 40 Ländern gibt es nun Initiativen, die unter evangelikalen Christen das Engagement für die Armen stärken wollen. Es wird aufgefordert, den „Micah call“ (Micha-Aufruf) zu unterschreiben. Damit verpflichtet man sich zur ganzheitlichen Veränderung der Gesellschaft und zum Streben nach Gerechtigkeit und Demut. Paraphrasierend wird Mch 6,8 wiedergegeben, anschließend konkreter:
„Wir fordern internationale und nationale Entscheidungsträger, sowohl der reichen als auch der armen Nationen auf, ihr öffentliches Versprechen zur Erreichung der Millenniumentwicklungsziele einzuhalten und dadurch die Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Wir rufen Christen überall auf der Welt dazu auf, zusammen mit den Armen Hoffnungsträger im Kampf gegen die Armut zu sein. Von nationalen und internationalen Verantwortungsträgern verlangen wir Rechenschaft bezüglich ihrer Verpflichtung, sich für eine gerechtere und barmherzigere Welt einzusetzen.“
Das Erinnern an gegebene Versprechen ist natürlich etwas Wichtiges. Aber wie kommen wir vom Einsatz für Recht und Gerechtigkeit zum Kampf gegen Armut? Beide Aktivitäten werden heute fast schon als Synonyme betrachtet und in einem Atemzug genannt. Dem Buch Micha geht es, wie wir sahen, durchaus um Gerechtigkeit, doch über Wohlstandsgefälle und die Reduzierung wirtschaftlicher Ungleichheit und Armut als solche sagt der Prophet kaum etwas.
Es gibt aber durchaus eine Verbindung zwischen dem Buch Micha und dem „Micha-Aufruf“: der AT-Prophet ruft vor allem die Führer des Volkes auf, wirklich Recht zu sprechen; der Aufruf erinnert nationale und internationale Leiter an ihre Verantwortung. Angesprochen sind hier wie dort die ‘Spitzen’. Damit zeigt sich aber auch ein großer Unterschied! Die im „Micha-Aufruf“ angesprochenen Verantwortungsträger sind nicht nur (auch die armen Länder sind ja genannt), aber doch vor allem Politiker in den reicheren Industriestaaten, denn überwiegend diese sind es ja gewesen, die die genannten Versprechen gemacht haben. Diese unterscheiden sich jedoch in ihrer Gesamtheit stark von dem Bild, das Micha im AT zeichnet. Was er fordert (Verhinderung von Raub und Betrug, Schutz des Eigentums, faire Rechtsprechung usw.), ist in all diesen Ländern wahrlich nicht perfekt, aber doch in der Menschheitsgeschichte in noch nie gesehenem Maße verwirklicht – nicht zuletzt dank recht gut funktionierender demokratischer Systeme mit Gewaltenteilung und tatsächlicher Kontrolle der Herrschenden.
Wenn daher Tobias Faix in Würde Jesus bei IKEA kaufen? bei der Betrachtung des Micha-Verses meint, wir stünden heute „in einer ganz ähnlichen Situation“ wie damals, dann muß man zurückfragen: Wer genau befindet sich in solch einer „ganz ähnlichen“ Lage? Micha sprach in einer ganz konkrete Situation hinein – wo sehen wir heute etwas wirklich Vergleichbares? Leider wird es dann bei ihm überhaupt nicht konkreter, es kommt nicht mehr als eine widerum sehr allgemeine Behauptung: „Unglaube und soziale Ungerechtigkeit gehen in dieser Welt Hand in Hand“ – und wir reiche Christen im Norden tun nichts dagegen; wir, so Faix, verweigern uns den hungernden Brüdern und Schwestern. Wirklich?
Natürlich sind Unglaube und Ungerechtigkeit immer noch verbunden, aber man beachte die Verschiebung, die stattgefunden hat: Micha klagt direkten Machtmißbrauch, Verachtung des Rechts usw. an. Faix und Andere sehen natürlich genau, dass dies so nicht mehr die Regierenden und Mächtigen als ganzes z.B. in der EU trifft. Der neue Vorwurf: unterlassene Hilfeleistung. Aber ist der pauschale Vorwurf, wir Reiche im Norden würden uns der Hilfe den Armen im Süden verweigern, überhaupt gerechtfertigt?
Doch solche Rückfragen werden gerne vom Tisch gewischt. Auch Faix kritisiert die Kritik an der Micha-Initiative: „Hat Gott sich etwa verändert? Leidet er heute nicht mehr mit den Armen und Unterdrückten?“ Natürlich ist Er immer noch derselbe, aber dies beantwortet ja nicht die Frage, inwieweit uns die Kritik des AT-Propheten konkret noch trifft und wo eben nicht.
Im Buch Micha wird den Leitern vorgeworfen: Sie „hassen das Gute und lieben das Böse“ (3,2). Wer ist dies heute? Angela Merkel und Francois Hollande? Werner Faymann und Jens Stoltenberg? Mark Rutte und James Cameron? In einem sehr weiten Sinne haßt jeder Mensch als Sünder seinen Nächsten (s. Heidelberger Katechismus, Fr. 5), doch dies ist hier sicher nicht gemeint. Fressen sie, in den Worten Gottes bei Micha, ihre Völker auf? Man mag ihre Politik im Einzelnen kritisieren, sie mögen oftmals zum Populismus und auch zu kurzfristigem, ja törichten Handeln neigen. Aber am guten Willen mangelt es all diesen kaum. Eine direkte Kritik à la Micha läuft daher heute weitgehend ins Leere, trifft nur einzelne Spinner vom Schlage eines Berlusconi. Nur ganz Radikale wie der Schweizer Jean Ziegler bezeichnen die Spitzen in Politik und Wirtschaft im Norden direkt und pauschal als Mörder, weil sie Hungernde im Süden sterben lassen.
Die Micha-Initiative hat daher (zumindest in den Ländern des Nordens) auch eine ganz neue Stoßrichtung. Es geht ihr nicht direkt um Machtmißbrauch, Verachtung des Rechts; sie regt vielmehr an zu advocacy, d.h. Organisationen, Kirchen und Einzelne setzen sich für die Entwicklungsziele bei den Leitern ein, machen sich so zu Fürsprechern oder eben Advokaten dieser Ziele. Konkret heißt dies dann z.B. auf der internationalen Seite des „Micah challenge“, dass Politiker aufgefordert werden „to release funds“ – sie sollen Gelder freigeben. Auf der deutschen Seite ist von „globaler Gerechtigkeit“ die Rede; man solle „sich für Gerechtigkeit begeistern“ und „verantwortlich leben“. Richtig konkret wird es selten. Unter der Rubrik „Material“ befindet sich im wesentlichen nur eine Broschüre (bzw. ein Link zu ihr), wo es heißt: „Noch immer stirbt alle drei Sekunden ein Kind an den Folgen extremer Armut.“ Was ist dagegen zu tun? Es wird zu verstehen gegeben, dass dies Problem recht einfach zu lösen ist: der deutsche Bundestag muß nur einer Erhöhung der Entwicklungshilfemittel auf 0,7% des BIP zustimmen. Um diese Zusage geht es.
Natürlich ist es so, dass manchmal in der Nothilfe Geld fehlt. Aber man fragt sich nun, was all das noch mit dem Buch Micha zu tun haben soll. Dort geht es um das Recht der Armen und eine Rechtsprechung, die diesen Namen verdient. Dies liegt im Bereich der direkten Verantwortung der staatlichen Leiter. Es ist ihre Pflicht, das Recht zu kennen (3,1). Im „Micha-Aufruf“ geht es aber um ein Versprechen, sehr breit und kühn formulierte soziale, medizinische und wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Nun kann man über diese Ziele und ihren Sinn diskutieren, und niemand macht etwas falsch, wenn er sich für die Reduzierung der weltweiten Armut einsetzt. Doch das Versprechen, die Milleniumsziele einzuhalten, ist etwas ganz anderes als die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit. Letzteres ist direkt gefordert und eine echte Pflicht, Ersteres – die deutliche Verringerung der Armut (zumal außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets) – liegt nur ganz indirekt in der Kompetenz von Regierungen. Aber der „Micha-Aufruf“ sagt den heutigen Leitern gleichsam (3,1 paraphrasierend): Ihr solltet eure Pflicht kennen, Geld unter den Armen der Welt zu verteilen.
Gerechtigkeit und Brüderlichkeit
Schon vor über 150 Jahren hatte sich Frédéric Bastiat (1801–1850) in seinem Aufsatz „Justice et Fraternité“ (Gerechtigkeit und Brüderlichkeit) mit den zugrunde liegenden Problemen auseinandergesetzt. In dem Text von 1848 analysiert „der beste Wirtschaftsjournalist aller Zeiten“ (J. Schumpeter über den Franzosen) das Verhältnis beider Begriffe zueinander. Er warnt eindrücklich vor einer Vermengung, die damals mit den ersten sozialistischen Ökonomen begann auch bis heute oft geschieht (nun gebraucht man häufig „Solidarität“ als eine Art Synonym von Brüderlichkeit).
Bastiat unterscheidet zwischen dem Bereich der Gerechtigkeit und dem gesamten Bereich der Tugend und Nächstenliebe. Die Gerechtigkeit betrifft die Rechtspflichten; wir schulden sie einander, d.h. ich darf meinen Mitbürger in keinem Fall unterdrücken, ausbeuten, betrügen usw. Wird hiergegen verstoßen, reagiert man mit Empörung und fordert Zwangsmaßnahmen. Es gibt aber auch eine Pflicht zur Tugend, zur Brüderlichkeit, Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Aber diese schulden wir anderen im rechtlichen Sinne nicht. Sie kann (vom Staat) nicht verlangt, sondern nur erbeten werden. Diese ‘Mehrleistungen’ von Mitleid und Wohltätigkeit sind freiwillig zu erbringen. Bleiben sie aus, ist man enttäuscht, kann aber nicht zu Polizei und Gericht laufen.
„Gerechtigkeit: da weiß man, was sie ist, wo sie ist“, so Bastiat. „Aber Brüderlichkeit: wo ist ihr Fixpunkt? Wo ist ihre Grenze? Was ist ihre Form? Offensichtlich ist sie unendlich. Die Brüderlichkeit besteht darin, ein Opfer für jemand anderen zu bringen“, aber dies Opfer hat „von Natur aus nicht wie die Gerechtigkeit eine Grenze“. Wie aktuell dies immer noch ist, wird bei der Betrachtung der magischen 0,7% des BIP (s.o.) deutlich. Ähnlich wie die Verpflichtung, die Milleniumsziele anzustreben, ist dies eben kein Streben im Rahmen einer echten Pflicht. Denn der Bereich der internationalen Solidarität ist ja unendlich: Warum nicht 1 oder 5 oder 10 Prozent der Entwicklungszusammenarbeit wirdmen? Warum nicht alle Bürger in den reichen Ländern mit 75% Einkommenssteuer belasten, denn es gibt auf der Welt immer genug Menschen, die es nötiger haben?
Bastiat hat schon zu Zeiten eines jungen Marx gegen die Begriffsverwirrung angekämpft, einhundert Jahre später setzte der grosse Friedrich August von Hayek (1899–1992) dies Werk fort. In Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit und Recht, Gesetz und Freiheit, Band II, legte der östereichisch-britische Ökonom und Philosoph eine massive Kritik des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ vor, entlarvte dies als inhaltlsleeres Schlagwort. Durch das Hayeksche Feuer müssen heute alle gehen, die diesen Begriff immer noch gebrauchen wollen!
„Widerstand gegen ein globales System der Ausbeutung“?
Der Prophet Micha soll mit seiner Botschaft Ernst genommen werden. Doch das Recht muß wieder zu seinem Recht kommen! Werden Gerechtigkeit und Brüderlichkeit vermischt, wird freiwillige Wohltätigkeit und Nächstenliebe mit geschuldeten Rechtspflichten vermengt, führt dies meist zu einer Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit Gleichheit und dann zur Forderung nach Gleichverteilung entsprechend von Bedürfnissen. In der Regel wird dem Staat die Aufgabe zugewiesen, Gerechtigkeit zu garantieren, was nun aber nicht mehr heißt unparteisch das Handel der Bürger zu bewerten, sondern den Wohlstand gerecht, d.h. gleich zu verteilen.
Schon Bastiat sah hier den Weg in den Sozialismus, und so wundert es nicht, daß die Umdeutung der Gerechtigkeit mit oftmals primitiver Kapitalismuskritik einher geht. Und bei Christen wird sie dann auch noch biblisch verbrämt. In der „Micah declaration“ (Micha-Erklärung) ist leider ganz revolutionär von „Widerstand gegen ein globales System der Ausbeutung“ die Rede. Der bekannte evangelikale Theologe Rene Padilla (viele Jahre auch IFES-Mitarbeiter) meint z.B., dass „das globale wirtschaftliche System so organisiert ist, daß die Reichen weiterhin von der Armut der Armen profitieren“ (http://www.micahnetwork.org). Der Kapitalismus sei nur an Gewinn orientiert, diene einzig einer kleinen und mächtigen Minderheit. In seinem Beitrag „God’s call to do justice“ in The Justice Project (2009) schreibt der gebürtige Ecuadorianer, einer der wichtigsten – „wenn nicht der wichtigste“ – Grund „für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich“ in der Welt sei „das globale ökonomische System“. Die „Globalisierung des neoliberalen kapitalistischen Systems“ nennt er „tyrannisch“.
All dies ist nichts anderes – man muß es so deutlich sagen – als sozialistisch durchseuchte Propaganda. Leider haben sich auch evangelische Kirchen und Evangelikale dem antikapitalistischem Zeitgeist mit mehr und mehr Enthusiasmus angeschlossen. Daher muß erneut betont werden: Recht tun heißt, dass ich mich im Umgang mit anderen Menschen an gewisse Regeln halte. Die direkten Folgen dieses Handelns kann ich absehen und bin für sie verantwortlich. Recht tun heißt, das Recht zum Duchsetzen bringen. Zum Wohle aller, vor allem aber der Schwachen und Armen.
Diese einfachen Zusammenhänge werden aber verzerrt, wenn es z.B. im „Just People!“-Kurs der Micha-Initiative heißt: „Wir, die viel konsumierenden Menschen, machen uns via Klima-, Boden- und Gewässerverschmutzung am Tod unzähliger Menschen schuldig… Sind wir uns bewußt, dass Gott uns heute für die Verfehlungen zur Umkehr ruft? Zum Beispiel in Jakobus 4,2 oder 5,1–6: Dort steht wortwörtlich, dass wir ‘über Leichen gehen’…“ (1. Auflage, S. 131) Vielleicht sollte in einer neuen Auflage nach dieser Logik folgendes ergänzt werden: Wer ein billiges T-Shirt kauft, ist ein Mörder der Toten im Rana Plaza-Gebäude, das am 24. April des Jahres in Dhaka (Bangladesch) einstürzte, geworden. Doch dies ist moralische Manipulation à la Jean Ziegler. Über Leichen ging tatsächlich Sohel Rana, der gierige Besitzer des Gebäudes; und über Leichen ging auch die korrupte Verwaltung des Landes, die so ein Gebäude nicht dicht machte.
Wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit sind heute in aller Munde. Aber man hüte sich vor dem Mißbrauch des Gerechtigkeitsbegriffs und seiner Ideologisierung. Als abschreckendes Beispiel sei hier zum Abschluss das von der Weltgemeinschaft Refomierter Kirchen (WARC, nun WCRC) 2004 veröffentlichte „Bekenntnis von Accra“ (Accra Confession; dt. hier) genannt. “. Im Art. 24 heißt es: „Wir glauben, dass Gott ein Gott der Gerechtigkeit ist…“ Wieder fehlt dann aber die Brücke zu solchen Thesen: Unser demokratisches kapitalistisches System sei ein „außerordentlich komplexes und unmoralisches [!] Wirtschaftssystem“. Anhänger der Martwirtschaft – oder gar der Globalisierung oder noch schlimmer: des Neoliberalismus – werden geradezu verteufelt. Warum nicht wenigstens ein Wort zu den positiven Effekten von Marktprozessen? Wirtschaftliche Ideologie, konkret Sozialismus, wird hier mit dem sozialen Zeugnis der Kirche vermengt. Es wird höchste Zeit, Micha vor falscher Inanspruchnahme zu schützen!