Der Trost des Evangeliums
Der Bestseller aus der Pfalz
Verlage, Buchhandlungsketten und Journale erstellen heute gerne Bestsellerlisten. Dort wird aufgelistet, welche Werke in einer Woche, in einem Monat oder Jahr auf den größten Zuspruch bei den Lesern trafen. Bei den Sachbüchern springt hier in Litauen ab und an ein Buch von Joseph Murphy, dem Vater des Positiven Denkens, an die Spitze. Seine zahlreichen Bücher gehören zu den bestverkauften im Litauen der letzten zwanzig Jahre. Im Bereich der Belletristik hat Paulo Coelho einen Spitzenplatz abonniert. Verdrängt wird der Brasilianer mal von Dan Brown (der im Juni auch in Deutschland mit Inferno an der Spitze steht), dann von Stephanie Meyer mit ihren Vampiren und 2013 vor allem von E.L. James und ihrer pornographischen Romantrilogie Fifty Shades.
Und welches sind die Verkaufsschlager der geistlichen Literatur? Die Bestseller aller Zeiten? Welche Werke haben den Test der Jahrhunderte überstanden? Dies ist neben der Bibel, die tatsächlich jedes Jahr das meistgedruckte und -verbreitete Buch der Welt ist, die Nachfolge Christi von Thomas von Kempen aus dem 15. Jhdt., die Pilgerreise des Puritaners John Bunyan aus dem 17. Jhdt., Mein Äußerstes für sein Höchstes des Schotten Oswald Chambers aus dem frühen 20. Jhdt. – und ein unscheinbares Büchlein aus der Reformationszeit: der Heidelberger Katechismus. Genauere Statistiken für diese Bücher gibt es sicherlich nicht, doch Zahl der Übersetzungen, Auflagen und Verbreitung lassen den berechtigten Schluss zu: sie gehören gewiss zu den christlichen Bestsellern aller Zeiten.
Vor genau 450 Jahren, 1563, erschien der Heidelberger Katechismus mit 129 Fragen und Antworten in der Hauptstadt der Kurpfalz ein erstes Mal. Die Reformation war in der Pfalz erst recht spät, 1545/46 unter Kurfürst Friedrich II, eingeführt worden. Die Einwohner wurden lutherisch. Fürst Friedrich III (auf dem Thom seit 1559) wandte sich jedoch der reformierten Strömung des evangelischen Glaubens zu. Denn ihn hatte das Abendmahlsverständnis Calvins, des Genfer Reformators, überzeugt. 1561 wurde der reformierte Abendmahlsbrauch des Brotbrechens (statt der Verwendung von Oblaten) eingeführt. Die Mehrheit der Einwohner hielt jedoch an der Lehre Luthers und Melanchthons fest. Daher gab der Fürst einen Lehrtext in Auftrag, der die verschiedenen theologischen Tendenzen zusammenführen und beginnende Streitereien schlichten sollte.
Friedrich ging es also um die Einheit seiner evangelischen Untertanen. Im Vorwort der Erstausgabe von 1563 nennt der Fürst die Ziele des Katechismus: ein Mittel des Unterrichts für die Jugend, eine theologische Orientierungshilfe für die Prediger und für alle ein Band der Einheit und Beständigkeit in der Lehre. Er spricht dort nicht von einer konkreten Konfession, sondern von der „christlichen Lehre“, der „christlichen Unterweisung“, von einem „Katechismus der christlichen Religion, entsprechend dem Wort Gottes“.
Als hauptverantwortlicher Autor wirkte Zacharias Ursinus – ein gerade 28 Jahre junger Heidelberger Professor, der das Redaktionsteam leitete. Ursinus selbst brachte für einen Katechismus der Einheit genau die richtigen Voraussetzungen mit. In einer lutherischen Familie in Breslau geboren wandte er sich nach und nach der reformierten Konfession zu. Dabei verleugnete er aber sein lutherisches Erbe nicht. Ursinus (so der latinisierte Nachname Bär) studierte in allen wichtigen Zentren der Reformation: in Wittenberg, Zürich und Genf. Daher finden sich Einsichten Luthers, Melanchthons und Calvins im Katechismus. Er kannte alle wichtigen bisherigen Texte der Reformation und griff z.B. auf die Arbeiten von Theodore Beza (Genf) und Johannes a Lasco (Emden) zurück.
Ursprünglich nur für die Christen in einem kleinen Fürstentum gedacht, wurde der Heidelberger Katechismus für damalige Verhältnisse äußerst schnell außerhalb der Pfalz in weiten Teilen Europas populär. Denn bald begriff man auch anderswo: dies ist einer der besten Katechismen, die je geschrieben wurden (so meinte z.B. der Zürcher Reformator H. Bullinger). Ein englischer Delegierte bei der Synode von Dort 1618/19 bemerkte nach seiner Rückkehr aus den Niederlanden: „Unsere Brüder auf dem Festland haben ein Büchlein, dessen Blätter nicht mit Tonnen Gold zu bezahlen sind“.
Noch im Jahr der Erscheinung der deutschen Erstausgabe wurde eine Übersetzung ins Lateinische angefertigt. 1563 erschien auch eine erste niederländische Übersetzung. Mindestens 22 Auflagen bis 1600 zeigen, wie früh der Heidelberger in Holland und anderen niederländischen Provinzen populär war. Ab 1572 lagen auch englischsprachige Ausgaben des Katechismus vor, 1577 erfolgte eine erste Übersetzung ins Ungarische, 1590 ins Französische. Im 17. Jhdt. traten Übersetzungen z.B. ins Griechische, Tschechische und Spanische hinzu. Schon im 17. Jhdt. erreichte der Heidelberger das ferne Asien: Ausgaben in malaiischer und javanischer Sprache wurden gedruckt. Im 18. Jhdt. lag der Heidelberger in Singhalesisch und Tamilisch vor, im 19. wurden Übersetzungen ins Arabische, Persische, Chinesische und Japanische angefertigt. Eine erste Übertragung ins Polnische erfolgte schon 1564. Die erste Übersetzung ins Litauische besorgte Pfr. Albertas Konstantinas Močiulskis Mitte des 19. Jhdts. Heute kann der Heidelberger Katechismus in so gut wie allen wichtigen europäischen und asiatischen Sprachen (insgesamt an die 50) gelesen werden.
Es kann keinen Zweifel geben: Es gibt keinen Bekenntnistext der Protestanten, der so weit verbreitet und so populär ist, wie der Heidelberger Katechismus. Selbst Luthers oder Calvins Werke haben diese Reichweite nicht erreicht. Wer nicht dem Irrglauben verfallen ist, dass das Neue immer das Bessere ist, der kommt als evangelischer Christ an der Lektüre dieses Bestsellers aller Zeiten nicht vorbei.
Eine Botschaft des Trosts
Warum wurde dieser Katechismus zu einem Bestseller? Nach einem Grund muss man nicht lange suchen. Der Heidelberger ist berühmt für seine allererste Frage und Antwort. Dort wird gleich der Ton für das ganze Werk gesetzt. Und dort findet sich eine hervorragende Zusammenfassung des Evangeliums:
„Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Antwort: Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus der Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt fallen kann, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“
Die Bibel ist keine Sammlung von Aphorismen, sie ist kein historischer Roman, und sie ist auch kein Philosophiebuch. Die Bibel ist das Wort des lebendigen Gottes, und dieser ist der „Gott des Trostes“ (Röm 15, 5). Seit dem Sündenfall ist die Welt voll von Schmerz, Leid und Unheil aller Art. Zusammen mit Asaph leiden wir: „Meine Seele will sich nicht trösten lassen“ (Ps 77, 3). Doch gemeinsam mit David bekennen wir, dass Gott es gut mit uns meint und alle sehen, „wie du mir hilfst und mich tröstest“ (Ps 86, 17).
Trost ist auch ein wichtiges Thema in den Schriften der Propheten des AT. Im Buch Jesaja sagt Gott: „Ich, ich bin eure Tröster! Wer bist du denn, dass du dich vor Menschen gefürchtet hast…“ (Jes 51, 12). Er versichert dem Volk Israel: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes 66, 13).
Genauso ist auch das Neue Testament voll von Worten des Trostes. Paulus schreibt an die Korinther:
„Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Denn er ist ein Vater, der sich erbarmt, und ein Gott, der auf jede erdenkliche Weise tröstet und ermutigt. In allen unseren Nöten kommt er uns mit Trost und Ermutigung zu Hilfe, und deshalb können wir dann auch anderen Mut machen, die sich ebenfalls in irgendeiner Not befinden.“ (2 Kor 1, 3–4)
Die Bibel spricht unsere Bedürfnisse an, und sie redet von dem Trost Gottes, den wir erfahren können. Daher beginnt der Heidelberger Katechismus auch nicht mit abstrakten Überlegungen, fern von unserem Leben. Vielmehr gibt er Antworten auf die grundlegenden Fragen: Was braucht man im Leben wirklich am meisten? Was erhält, stärkt und tröstet letztlich?
Schon in der ersten Antwort des Katechismus erhalten wir gleichsam alles, denn hier wird die ganze Gottheit, die Dreieinigkeit, genannt – Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Von ihr bekommen wir das, was wir am meisten brauchen: Errettung, Bewahrung und Führung.
Vom Sohn erkauft
Ich bin der Herr meines Lebens; mein Schicksal ist ganz in meinen Händen – das ist das populäre Motto unserer Tage, das sich auch in einigen Bestsellern findet: „Du bist der Herr des Universums“, meint tatsächlich Rhonda Byrne in ihrem The Secret zu den Lesern. Der Heidelberger Katechismus widerspricht streng. Der gläubige Mensch begreift und bekennt: ich gehöre „nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus“.
„Der Himmel und aller Himmel Himmel und die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des Herrn“, heißt es in 5 Mose 10, 14. Die gesamte geschaffene Wirklichkeit, alle Menschen und alles auf Erden gehört Gott. Doch die Bibel spricht noch von einer anderen Art des Eigentums: Gott erwählte das Volk Israel zu seinem Eigentum (Ps 135, 4), und durch Jesus Christus wurden die Christen zum „Volk des Eigentums“ (1 Pt 2, 9). Paulus schreibt in 1 Kor 6, 20, dass wir, die Gläubigen, „teuer erkauft“ sind. Wir wurden zum Eigentum Christi, als dieser für uns „vollkommen bezahlt“ hat, wie es im Katechismus heißt. Paulus erinnert Titus: „Er [Christus] ist es ja, der sich selbst für uns hingegeben hat, um uns von einem Leben der Auflehnung gegen Gottes Ordnungen loszukaufen und von aller Schuld zu reinigen und uns auf diese Weise zu seinem Volk zu machen, zu einem Volk, das ihm allein gehört und das sich voll Eifer bemüht, Gutes zu tun.“ (Tit 2, 14, NGÜ)
Wir sind erkauft und befreit. Woraus? Der Katechismus antwortet so: Christus hat „für alle meine Sünden vollkommen bezahlt“ und befreit „aus der Gewalt des Teufels“. Macht der Sünde und des Satans – daraus ist Befreiung nötig, Befreiung von Außen. Luther vergleicht im Buch Vom unfreien Willen den Menschen mit einem Reittier, das in jedem Fall geritten wird – entweder vom Teufel oder von Gott. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Nach dem Fall sind alle Menschen „Sklaven“ der Sünde (NGÜ); und diejenigen, die Christus erkauft hat, sind Sklaven der „Gerechtigkeit“ oder Christi (Röm 6, 17–18; das gr. doulos ist meist „Knecht“ oder „Diener“ übersetzt; wörtl. aber und oft besser „Sklave“).
Was sind wir also? Oder noch konkreter: Wer bin ich? Wessen Eigentum bin ich? Der gläubige Mensch ist zuallererst Eigentum Jesu Christi. Das ist der Kern unserer Identität! Daher stellen sich Autoren der Briefe des Neuen Testaments wie Paulus, Judas oder Petrus Eingangs oft als „Diener Jesu Christi“ vor – wörtlich eben „Sklaven Christi“. Ein Sklave ist das Eigentum seines Besitzers, eines Anderen, ganz abhängig von seinem Herrn. Genau auf diese Weise gehört der Gläubige seinem Erlöser.
Gläubige leben nicht für sich allein. Sie versammeln sich zu einer Gemeinschaft, die Kirche genannt wird. Jeder Christ muss zu einer sichtbaren Kirche gehören. Doch ohne die Zugehörigkeit zu Christus als sein Eigentum ist die Zugehörigkeit zu einer Kirche gleichsam wertlos. Die Abhängigkeit vom Erlöser ist das Fundament; Kirchenmitgliedschaft als solche erlöst keineswegs. Daher sollte man sich auch nicht zu sehr seiner Konfession rühmen. Ich halte Bekenntnistraditionen – ob nun lutherisch, reformiert, baptistisch – für sehr wichtig, doch letztlich ist die entscheidende Frage nicht, zu welcher Kirche ich gehöre. Die entscheidende Frage ist: Wessen Eigentum bin ich?
Die Aussage „ich gehöre nicht mir selbst“ provoziert gewaltig, da der Mensch sich womöglich zurückgesetzt und erniedrigt fühlt. Dass wir uns nicht selbst gehören, ist aber tatsächlich eine wirklich Gute Nachricht. Denn Gott hat uns so geschaffen. Er hat uns geschaffen und wir sind Sein, Seine Geschöpfe. Wir sind von Natur her eben nicht Götter des Universum, Herren der Welt und auch keine Halbgötter. Die zitierte Byrne und mit ihr die ganze esoterische Literatur und viele der sog. Lebenshilfe-Bücher überfordern den Menschen. Es ist für ihn letztlich nur von Nutzen, wenn er sich in die Abhängigkeit von Schöpfer und Erlöser begibt.
Vom Vater bewahrt
Die handelnde Person in der ersten Antwort des Katechismus ist überall Jesus Christus. So wird schon die tiefe theologische Wahrheit ausgedrückt, dass die drei Personen der Dreieinigkeit immer zusammen wirken. Christus wird auch zuerst genannt und erst dann der „Vater im Himmel“. Warum? Natürlich kann auch der Vater vorangestellt werden, und ab Fr. 26 erläutert der Heidelberger ja auch – dem Apostolikum folgend – Gott-Vater vor Gott-Sohn. Aber es kann ebenso sinnvoll sein, mit Jesus zu beginnen. Denn allein dieser ist der Weg zum Vater. „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“, sagte er von sich selbst (Joh 14, 6).
Nur durch Jesus haben wir Gott zum Vater. Obwohl es oft behauptet wird, ist Gott nicht der Vater aller Menschen. Er ist der Schöpfer, jedoch nicht der Vater aller (eine allg. Vaterschaft wird in der Bibel fast nirgendwo gelehrt; die einzige Ausnahme scheint Mal 2,10 zu sein). Seine Vaterschaft zu uns beginnt für Christen mit Christus, denn nur „in Christus Jesus“ können wir uns Kinder Gottes nennen (Gal 3, 26). Nur an Jesus Gläubige, nur diejenigen, die zum Glauben an Jesus gefunden haben, können sich an Gott mit „Vater unser…“ wenden. Dies ist das Gebet der Jünger, nicht das aller Menschen. Sie haben freien „Zugang zum Vater“ (Eph 2, 18). Nur durch den Glauben kann man „zuversichtlich und vertrauensvoll“ vor Ihn treten (Eph 3, 12). Auch Fr. 26 des Katechismus unterstreicht: „Ich glaube, dass der ewige Vater unseres Herrn Jesus Christus um seines Sohnes willen mein Gott und mein Vater ist“ – um seines Sohnes willen!
Was kennzeichnet den Vater? Im wesentlichen müssen wir nur zwei Dinge wissen, denn mit der Bibel betont der Katechismus: Er ist „allmächtiger Gott“ und „getreuer Vater“ (26). Er ist mächtig und gut.
Gott schuf nicht nur die ganze Welt, er ist auch immer noch der Besitzer, Herr und König der Erde (Ps 24). Er erhält alles Leben (Hbr 1, 3), kontrolliert die Natur (Ps 65, 10–12), Ereignisse der Menschheitsgeschichte (Apg 17, 26) wie auch das Leben Einzelner (Jer 1, 5) sowie Entscheidungen der Menschen (Ps 33, 15). Der Katechismus sagt, dass selbst solch wenig wichtige Dinge wie die Haare auf unserem Kopf, die herabfallen, vom Vater kontrolliert werden (Ursinus bezieht sich hier aus Jesu Worte in Mt 10, 29–31). Auf der Erde geschieht nichts, was dem souveränen Willen Gottes widersprechen würde, denn Er „erhält und regiert“ alles „durch seinen ewigen Rat und seine Vorsehung“ (Fr. 26).
Das ist nicht nur eine großartige, sondern auch eine erschreckende Nachricht. Es ist tatsächlich eine schlechte Nachricht – für die Bösen. Sie können Gottes Gericht nicht entkommen. „Schrecklich ist‘s, in die Hände es lebendigen Gottes zu fallen!“, heißt es in Hbr 10, 31.
Aber das ist ja nur die eine Seite. Gott ist nicht nur mächtig, sondern auch gut. Gut zu den Gläubigen, aber auch zu allen Menschen: „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5, 45). Dennoch bewahrt er sein besonderes Eigentum, sein Volk, auf besondere Weise. Nur ihnen ist verheißen: „Der Herr behütet alle, die ihn lieben, und wird vertilgen alle Gottlosen“ (Ps 145, 20). Nur sie wohnen „unter dem Schirm des Höchsten“ (Ps 91, 1). Das Privileg des besonderen Schutz des Volkes Gottes wird an zahlreichen Stellen der Bibel hervorgehoben (s. z.B. Ps 37, 28; 97, 10; Joh 17, 15; 1 Joh 5, 18; 2 Thes 3, 3).
Nun mögen die Gläubigen bewahrt werden. Aber was heißt das konkret? Ist Christen ein Leben in Wohlstand und Sicherheit, Gesundheit und Glück versprochen? Nein. „Unzählig sind die Übel, die unser menschliches Leben belagern, stets lauert in ihnen der Tod“, schreibt Johannes Calvin (Inst. I,17,10). Frage 52 des Katechismus nennt „Trübsal und Verfolgung“; in der 27. werden aufgezählt „Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre“, „Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut“ – denn dies ist das Leben nach dem Sündenfall. Welchen Nutzen haben wir dann von Gottes Schutz?
Der gläubige Mensch kann wissen und sicher sein, dass ihm alles „nicht durch Zufall, sondern aus seiner [Gottes] väterlichen Hand zukommt“ (Fr. 27). Alles ist nicht Ergebnis eines blinden Schicksals, sondern Teil eines guten Plans des Vaters. Deshalb können wir gewiss sein, dass Gott „alle Lasten, die er mir in diesem Leben auferlegt, mir zum Besten wendet“ (Fr. 26). Was ist dies Beste? In der ersten Antwort des Katechismus heißt es, dass Gott so bewahrt, dass „mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss“. Er wird alles tun, dass wir das ewige Heil, und das ist mit Wort „Seligkeit“ ja gemeint, auch erreichen. Darauf bereitet er uns vor, und daher garantiert er, dass „uns nichts von seiner Liebe scheiden wird“ (Fr. 28).
Vom Geist geleitet
Joh 15, 26 verspricht Jesus seinen Jüngern, dass „der Tröster kommen wird“, und dies ist „der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht“. Sowohl der Vater, als auch der Sohn trösten, aber der hauptsächliche göttliche Tröster ist der Heilige Geist. Er wohnt im Herzen der Gläubigen, er führt durch das Leben. Der Heidelberger schreibt über das Wirken des Geistes: „Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten. Er tröstet mich und wird bei mir bleiben in Ewigkeit.“ (Fr. 53)
Was tut der H. Geist im einzelnen? Die erste Antwort des Katechismus nennt zwei Dinge. Erstens „macht [er] des ewigen Lebens gewiss“. Dies gründet z.B. auf Röm 8, 16–17, wo Paulus schreibt: „Der Geist selbst bezeugt es uns in unserem Innersten, dass wir Gottes Kinder sind. Wenn wir aber Kinder sind, sind wir auch Erben …“ – Erben des ewigen Lebens. Der Geist versichert uns, dass wir wirklich Erben sind. An anderer Stelle schreibt der Apostel, dass der Geist gleichsam „Unterpfand und Anzahlung“ (2 Kor 1, 22) ist oder dass er „versiegelt“ (Ef 1, 13–14). Mit diesen Vergleichen drückt er aus, dass Gott durch seinen Geist die Garantie gibt, dass wir den Himmel ererben werden.
Diese göttliche Zusicherung ist unbedingt notwendig, denn „selbst sind wir so schwach, dass wir nicht einen Augenblick bestehen können“, so Ursinus am Ende des Katechismus in Fr. 127. Wir kämpfen ständig mit den Versuchungen von Welt, Teufel und der eigenen sündhaften Natur. Deshalb bitten wir im Vater-unser, Gott möge uns stärken und erhalten „durch die Kraft deines Heiligen Geistes, dass wir ihnen [den Versuchungen] fest widerstehen und in diesem geistlichen Streit nicht unterliegen, bis wir endlich den völligen Sieg davontragen.“
Zweitens macht der Geist „von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben“. Hier ist von „unserer Heiligung“ (Fr. 24) die Rede. Was ist das Ziel dieser Heiligung? Sehr einfach: Mensch sein. Und was ist der Mensch? Wer soll er sein? „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (1 Mose 1, 27). Unsere Berufung ist es, dem Schöpfer ähnlich zu sein und immer ähnlicher zu werden; Gottes Ebenbild zu sein. Jesus Christus ist das vollkommene Ebenbild Gottes (Kol 1, 15; 2 Kor 4, 4), und daher werden wir von Christus „durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild“ (Fr. 86). Wir brauche die Gnade des Hl. Geistes, „dass wir je länger, je mehr zum Ebenbild Gottes erneuert werden“ (Fr. 115).
Jesus lebte in vollkommener Gemeinschaft mit dem Vater und war ihm vollkommen gehorsam. Liebe zu Gott führt daher immer zum Gehorsam seinen Geboten gegenüber (1 Joh 5, 2). Als Jesus das erste Mal versprach, den Tröster zu schicken (Joh 14, 16), sagte er im Vers davor: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten“ (Joh 14, 15). Geist und Gehorsam bilden einen Einheit, sind untrennbar (1 Joh 3, 24). Paulus wendet dies konkret an: „Belügt einander nicht mehr! “, denn ihr werdet „fortwährend erneuert“, um „seinem Bild“ immer ähnlicher zu werden (Kol 3, 9–10).
Jeder Mensch ist zum Gehorsam gegenüber Gott verpflichtet. Doch der gefallene Mensch rebelliert gegen seinen Schöpfer, verwirft dessen Gebote und neigt sogar zum Hass gegen ihn (Fr. 5). Dagegen dankt der Gläubige für die Errettung und ist daher nicht nur bereit, sondern auch „von Herzen willig“, wie der der Katechismus formuliert, Gott zu folgen, für ihn zu leben und ihm zu gehorchen. All dies ist eine Frucht des Geistes.
Dein? Ja, mein!
In seiner ersten Antwort zeichnet der Heidelberger Katechismus das Portrait eines wahren Christen: Er oder sie ist Christi Eigentum, von ihm erkauft; er oder sie wird vom Vater geschützt und in besonderer Weise bis zur Vollendung des Heils im Himmel bewahrt; in ihm oder ihr lebt der Tröster selbst, der Hl. Geist, der des Heils versichert und in ein Leben des Gehorsams hineinführt. – Das ist wahre Gute Nachricht oder echtes Evangelium, gegeben zu unserer Freude und unserem Trost. Was braucht es da noch?
Obwohl in der ersten Antwort die drei Personen der Dreieinigkeit genannt werden, kommt ein Wort überhaupt nicht vor: „Gott“. (Das ist, nebenbei bemerkt, heute wohl um so besser, denn mit dem Wort wird nun alles Mögliche verbunden, so dass es geradezu inhaltsleer geworden ist.) Ein Wort oder genauer: eine Wortgruppe kommt gleich elf Mal vor: ich/mir/mich/meine/mein/meiner. Wie ist das zu verstehen? Wird so der Mensch nicht wieder ins Zentrum gerückt? Keineswegs! Denn in der Antwort dreht es sich ja doch um Gott; darum, was Er getan hat und tut, und zwar für uns.
Das Betonen des „ich/mir“ zu Beginn des Katechismus und dann auch an anderen Stellen ist natürlich kein Zufall. Damit wollte Ursinus deutlich machen: All das berührt uns persönlich. All dies ist keine ferne Theologie, dies sind vielmehr Worte über dich und mich, Worte für mich und dich. Worte, die zu unserem persönlichen Glauben hinführen sollen, durch den allein wir zu diesem Trost gelangen können. Denn nur „durch wahren Glauben“ werden wir mit Christus verbunden und erhalten „alle seine Wohltaten“ (Fr. 20).