Der lange Schatten des dunklen Juni
Früh am Sonntagmorgen, in der hellen Nacht des 14. Juni 1941, wurden die Menschen aus den Betten gerissen. Ein paar Stunden, vielleicht aber auch nur eine halbe Stunde gab man ihnen, um Sachen zu packen. Und dann ging es in Eisenbahnwagons gezwängt auf eine wochenlange Reise gen Sibirien. So begann die erste große Vertreibungswelle in Litauen unter Sowjetherrschaft. Über 7000 landeten in sibirischen Lagern (meist die Männer), 12.000 in der Verbannung.
Die gewaltsame Umsiedlung von nichtrussischen Völkern war eines der Herrschaftsinstrumente Stalins. Es traf die Wolgadeutschen, die Kaukasier wie die Tschetschenen und vor allem die Balten. Auf der Liste der „konterrevolutionären Elemente“ konnte natürlich jeder geraten. Ins Visier des Staatsapparates gerieten vor allem die fleißigeren Bauern, Lehrer und Beamte. Widerstand gegen die Besatzung sollte im Keim erstickt werden; man wollte die Bevölkerung der UdSSR national durchmischen und letztlich russifizieren; und im fast menschenleeren Osten brauchte man viele Sklavenarbeiter.
1941 bis 1944 folgte die deutsche Besatzung. Mit Kriegsende setzte die Repression sofort wieder ein. Bei einer zweiten großen Vertreibung am 22./23. Mai 1948 wurden 12.000 Familien mit etwa 40.000 Personen nach Burjatien an der mongolischen Grenze verpflanzt. Eine weitere Operation unter hoher Geheimhaltung wurde im März 1949 ausgeführt. 30.000 Litauer mußten ihre Heimat verlassen; aus dem Baltikum wurden damals insg. 100.000 Bürger vertrieben.
Eine letzte große Welle war die Operation „Herbst“ 1951. Endstation für 16.000 Menschen, darunter 5000 Kinder, war dieses Mal die Gegend von Krasnojarsk. In dem Jahr mußte auch Jonas Inkenas, der Leiter des litauischen Baptistenbundes, das Land verlassen. Die Familie konnte erst 1958 wieder nach Litauen zurück – nur um nach einem halben Jahr wieder nach Lettland ausgeweisen zu werden.
Das Ausmaß der sowjetischen Menschenverfrachtung lässt bis heute erschauern. 1941 standen 320.000 Litauer auf der Liste der Verdächtigen – jeder Achte der Bevölkerung. Bis 1953 wurden insgesamt eine Million Balten und Ukrainer umgebracht oder vertrieben. Aus Litauen wurden insgesamt 130.000 verbannt. Viele überlebten die Zwangsarbeit in Wäldern und Flüssen nicht. Viele kamen in den 60er und 70er Jahren zurück. Viele bleiben aber auch dort (vor allem wegen einheimischer Ehepartner), so dass heute einige Hunderttausend Nachfahren von vertriebenen Litauern in Russland gezählt werden.
Der 14. Juni ist ein wichtiger Gedenktag in Litauen. An diesem „Tag der Trauer und der Hoffnung“ wird die litauische Flagge mit einem schwarzen Trauerband gehißt. Tatsächlich begann damals das dunkle Jahrzehnt. Rechnet man fast 200.000 ermordete Juden, 30.000 Tote in den Partisanenkämpfen, Zigtausende geflohene und umgesiedelte Deutsche, einige Hundertausend Flüchtlinge vor den Sowjets zusammen, dann verlor Litauen durch die Dikaturen in den 40er Jahren ingesamt etwa ein Drittel (!) seiner Einwohner.
Die Folgen dieser Zeit sind bis heute zu spüren und zu sehen. Mitglied der lutherischen Gemeinde in Šiauliai ist Irena, die als Kleinkind mit ihrer Familie vom Hof im Kreis Joniškis vertrieben worden war. Das Überlebensrezept der Mutter: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Irena wuchs mit den Eltern auf, war aber so wenig mit ihnen zusammen, dass sie kaum Litauisch lernte. Nach der Rückkehr in die Heimat musste sie sich als Teenager ihre Muttersprache erst aneignen. Und den Arbeitseifer verinnerlichte die Mutter so sehr, dass es für sie bis heute nichts anderes im Leben gibt. Noch immer treibt die über Neunzigjährige die über Sechzigjährige Tochter in den Garten, zu den Hühnern – keinerlei Müßiggang. Einzig den sonntäglichen Gottesdienst darf sie besuchen. Der lange Schatten der Verbannung…