Der Brückenbauer – Heinrich Bullingers Leben und Werk
Zwingli und Calvin gelten heute als die Väter der reformierten Kirchen. Ihr Leben und Werk wird in kirchengeschichtlichen Werken meist ausführlich geschildert. Bullinger dagegen wird hier und da als Nachfolger Zwinglis in Zürich und als Autor der Zweiten helvetischen Bekenntnisses erwähnt. Das war‘s dann aber auch. Dass der Reformator einer der bedeutendsten Leiter der Evangelischen, ja „väterlicher Beschützer aller reformierten Kirchen in Europa“ war; dass er mehr veröffentlichte als Luther und Calvin zusammen und im 16. Jhdt. in Europa wohl mehr gelesen wurde als Calvin; dass er der reformierten Lehre z.B. mit seiner Bundestheologie mehr Impulse gab als viele andere; dass ohne ihn der Protestantismus noch viel mehr zersplittert wäre – von all dem ahnt man heute kaum noch etwas. Wer war dieser weitgehend vergessene Heinrich Bullinger?
Heinrich Bullinger wurde 18. Juli 1504 in Bremgarten, etwa 15km westlich von Zürich, geboren. Sein Vater, Heinrich d.Ä., war Priester und lebte – wie damals nicht unüblich – im Konkubinat. Seine Frau schenkte ihm neben Heinrich, dem jüngsten, sechs weitere Kinder, von denen zwei früh starben. Nach dem Übertritt zum evangelischen Glauben legalisierte Bulligers Vaters dann einige Jahre vor seinem Tod die Ehe.
Mit gerade fünf Jahren wurde Heinrich 1509 in die hiesige Lateinschule geschickt, wo tatsächlich im und auch nach dem Unterricht nur Latein geredet werden durfte. Der Zwölfjährige setzte seine Studien in einer Schule im fernen Emmerich am Niederrhein fort. Dort herrschte nicht nur eine strenge Disziplin. Vom Vater nur mit Geld für Unterkunft und Schule versorgt, musste der junge Bullinger sich seinen Lebensunterhalt durch Singen erbetteln. 1519 begann er ein Studium in Köln, der damals größten deutsche Stadt, dem „deutschen Rom“. An der angesehensten Universität des Reiches erhielt der junge Eidgenosse 1520 den Titel des Bakkalaurus, zwei Jahre später des Magisters der Freien Künste, womit er das ‘Vorstudium’ abschloss.
In den Kölner Jahren lernte Bullinger den Humanismus kennen. Wie auch manche andere Reformatoren übernahm er von den Humanisten, zu dessen führenden Köpfen damals Erasmus von Rotterdam gehörte, viele Grundgedanken und Prinzipien. Dazu gehörte das intensive Studium der antiken Quellen und Texte. Aktuell wurde dies besonders im Streit um Martin Luthers Lehre, seinem Protest gegen Ablass und Missstände in der Kirche. Auch die theologische Fakultät in Köln erreichte die Debatte. Und so befasste sich auch Bullinger ab 1520 mit den Schriften des Wittenberger Professors. Er studierte die Kirchenväter und Luther und entdeckte, dass Ambrosius, Origenes und Augustin die Hl. Schrift anders behandelten als die scholastischen Theologen seiner Zeit. Die Kirchenväter beriefen sich ständig auf die Bibel. Daher kaufte sich auch Bullinger ein Neues Testament, das er 1521/22 intensiv las. Er erkannte endlich, „dass das Heil von Gott durch Christus kommt. Und ich lernte, das abergläubisch und gottlos ist, was die Papisten lehrten. Ich las dann auch die Bücher Luthers und Melanchtons. Ungefähr ums Jahr 1522 begann ich die Messe und heiligen Versammlungen der Papisten zu fliehen.“
Bullinger schrieb sich nicht mehr an der theologischen Fakultät ein – er hatte bei den Kirchenvätern Theologie studiert. 1523 kehrte er in die Schweiz zurück und wurde Lehrer am Zisterzienser-Kloster in Kappel, unweit seiner Heimat. Neben seinem Literatur- und Lateinunterricht hielt er auch Vorlesungen über das Neue Testament. Frucht dieser Verkündigung war, dass das Kloster zur Reformation überging. Die Schule wandelte sich zur ersten reformierte Lateinschule und ersten Theologenschule der Schweiz. Schon damals entstanden erste Schriften des jungen Reformators wie das einflussreiche Ratio studiorum zum Lernen und Bildungswesen. Später in Zürich leitete er dann 1531–37 die Predigerschule.
In diesen Jahren wurde auch im nahen Zürich die Reformation eingeführt. Seit 1519 wirkte dort Ulrich Zwingli als Pfarrer, begann mit der evangelischen Predigt. Der Rat der Stadt beschloss die Entfernung der Bilder, Abschaffung der Heiligenverehrung (1524); die erste Phase der Reformation wurde 1525 mit Abschaffung der katholischen Messe, Auflösung der Klöster und der Einführung des ev. Gottesdienstes mit Abendmahl abgeschlossen. In den folgenden Jahren wurden auch Basel, Bern, St. Gallen und Schaffhausen evangelisch.
Bullinger lernte Zwingli 1523 kennen, hielt sich in den kommenden Jahren mehrfach zu Besuchen und Studien in Zürich auf. Bald verband ihn eine tiefe Freundschaft zu dem eine Generation Älteren. 1528 wurde Bullinger auch offiziell Prediger in einer Pfarrei unweit von Kappel. 1529 wechselte er in seine Geburtsstadt Bremgarten, hielt dort mehrere Predigten in der Woche und legte in rund zweieinhalb Jahren das ganze NT aus. In diesem Jahr heiratete Bullinger Anna Adlischwyler, eine ehemalige Nonne. Elf Kinder brachte die Ehe hervor, von denen acht das Erwachsenenalter erreichten. Der Reformator war auch ein erfahrener Ehe- und Familienberater. Sein Der christliche Ehestand von 1540 wurde z.B. in England zu einem Bestseller.
In der Schweiz setzte sich die Reformation aber nicht in allen Gebieten durch. Die Inneren Orte (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug) hatten 1524 beschlossen, beim römisch-katholischen Glauben zu bleiben. Mehrere Disputationen scheiterten, die Konfessionen schlossen sich zu Bündnissen zusammen und es kam schließlich sogar zum ersten Religionskrieg in Europa. Die Evangelischen unterlagen bei der Schlacht von Kappel am 11. Oktober 1531, in der auch Zwingli fiel. Der Rat Zürichs berief Bullinger im Dezember 1531 zu Zwinglis Nachfolger. Über 40 Jahre sollte dieser nun als Pfarrer am Großmünster und als Vorsteher („Antistes“) der Zürcher Kirche wirken.
Es ist vor allem Bullinger zu verdanken, daß die Reformation in der Stadt nach der frühen Krise ein stabiles Fundament erhielt. 1535 verfasste er eine Gottesdienstordnung, die Jahrhunderte Gültigkeit besaß. Die reformatorischen Erkenntnisse wurde konsequent umgesetzt, jedoch auch viele alte Elemente beibehalten. Auch den Kirchengesang sah Bullinger positiv. Gottesdienste gab es in der Kirchen der Stadt fast jeden Tag, knapp 20 an den vier Kirchen in der Woche. Allein am Großmünster wurden jährlich über 600 Predigten gehalten. Bullinger selbst trat in seinem Dienst in Zürich etwa 7000 Mal auf eine Kanzel, also im Schnitt jeden zweiten Tag. Wie schon Zwingli praktizierten die Prediger meist die lectio continua, d.h. die fortlaufene Auslegung einzelner biblischer Bücher. Dieser starken Betonung des Predigens lag die Überzeugung zugrunde, dass das Heil im Reden Gottes durch das gepredigte Wort, nicht im sakramentalen Handeln des Priester, erfahren wird.
Bullinger ergänzte das Predigen durch die Abfassung von Kommentaren. Zwischen 1532 und 1546 verfasste er Erläuterungen zu allen Schriften des NT – mit Ausnahme der Offenbarung, der Bullinger jedoch 1557 einhundert Predigten widmete, die gedruckt weite Verbreitung fanden. Die Kommentare sollten dem tieferen Verständnis von Gottes Wort dienen, bei Übersetzung, Auslegung, Lektüre und Verkündigung helfen. Bullinger traf dabei eine klare Unterscheidung zwischen Kommentar und Text der Bibel. Im Vorwort zur Gesamtausgabe der neutestamentlichen Briefe von 1537: „Zuerst gestehen wir offen, dass wir nicht Gesetze, sondern Kommentare geschrieben haben. Kommentare sind keine unabänderlichen Orakel, sondern fehlerhafte menschliche Produkte“, denn „durchaus menschlich ist es, zu irren und gedankenlos zu schwatzen.“ Ganz anders verhält es sich mit der Bibel. Weil sie vom Hl. Geist inspiriert ist, ist sie „eine sichere, absolute Regel der Wahrheit, rechten Lebens und Handelns, die weder irrt noch zu irgendeinem Irrtum führt; auf sie hin ist alles Geschriebene und Gesagte, alles Tun aller Menschen auszurichten und zu stützen.“
Bullinger wollte mit den Kommentaren und allen anderen Werken der Kirche seiner Zeit dienen, sah sich dabei aber immer als Glied einer breiten und alten Tradition. Ihm ging es um Praxisnähe; eine verkopfte Theologie, fernab des Gemeindealltags war ihm fremd. Auch Calvin lobte, dass Bullinger in seinen Kommentaren „mit Gelehrsamkeit Leichtverständlichkeit verbindet“.
Gleiches gilt für die Dekaden (Sermonum dekades, 1549–1551), eine Art Sammlung von überarbeiteten Predigten, in denen der Reformator die Hauptthemen der Theologie abhandelt. In 5 Teilen zu je 10 (daher der Name) „Predigten“ erläutert er Glaube, Gesetz, Evangelium und Kirche mit zahlreichen Unterthemen. Bullinger beginnt mit Gottes Wort und der zentralen Aussage: „Alle Lehren des christlichen Glaubens, auch alle Einsicht, was zu einem rechten, guten und gottseligen Leben dient, endlich auch alle wahrhaftige und göttliche Weisheit ist allezeit aus den Zeugnissen und Urteilen des göttlichen Wortes genommen worden“ – und daran ist auch festzuhalten.
Die Dekaden wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und besonders in den Niederlanden und in England populär. So wurde Calvins Institutio in einhundert Jahre nach seinem Erscheinen 1559 nur einige Male in England gedruckt, Bullingers Dekaden dagegen in den hundert Jahren nach 1549/51 siebenundsiebzig Mal in Latein; die englische Übersetzung, das House Book (erstmals 1558), erreichte sogar 137 Auflagen. Dabei waren die Dekaden nur eine von mehreren Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens. Hier ist z.B. noch die Summa christlicher Religion (1556) oder dann eben auch noch das Zweite helvetische Bekenntnis zu nennen. Gerade dieses Buch, die Summa, war weder für Theologiestudenten oder Pastoren gedacht, gab vielmehr Laien eine prägnanten Zusammenfassung des evangelischen Glaubens. Bullinger wollte sie in die Lage versetzen gerade in Zeiten des religiösen Durcheinanders das Richtige vom Falschen unterscheiden zu können.
Wenn heute Calvin als der wesentliche Schöpfer des reformierten Glaubens gilt, so ist dies historisch keineswegs korrekt. Der Genfer übernahm vom Zürcher zahlreiche wichtige Gedanken wie zuallererst das konsequente Schriftprinzip. Auch die Betonung des engen Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin stammt von Bullinger. Dieser gilt außerdem (neben Zwingli) als Vater der „Bundestheologie“. 1534 verfasste er Von dem einzigen und ewigen Testament oder Bund Gottes, und schon 1527 schrieb er: „Soviel ist gewiss, dass alle Bücher der Heiligen Schrift ein gemeinsames Ziel haben:.. Der Gott des Himmels, jener allmächtige Gott, hat mit dem Menschengeschlecht auf ewig ein Testament, einen Vertrag oder ein Bündnis geschlossen.“ Auch Calvin unterstrich dann in seiner Institutio die Einheit des Bundes Gottes mit den Menschen. Die Bundestheologie wurde später bei den Heidelberger Theologen Z. Ursinus, K. Olevianus und F. Junius vertieft und zu einer ersten Blüte gebracht.
Nicht unerwähnt darf Bullinger Reformationsgeschichte der Schweiz bleiben, an der er 30 Jahre arbeitete, persönliche Erinnerungen und eine Unzahl von Quellen und Sekundärliteratur verarbeitete. Außerdem entstammten einer Geschichte der Schweiz und Zürichs seiner Feder. Bullinger dachte allgemein so historisch wie wohl kaum ein anderer Reformator.
Neben Predigt und Unterricht wirkte Bullinger natürlich auch als Seelsorger. Schon 1535 verfasste er einen Leitfaden zur Seelsorger der Kranken. Er erinnerte auch immer wieder an die sozialen Pflichten der Gemeinde – seit Zwingli ein zentrales theologisches Thema. Hilfe für Arme, Kranke, Flüchtlinge waren ihm persönliches Anliegen. Armenpflege war auch sichtbarer Ausdruck der im Abendmahl ausgedrückten Zusammengehörigkeit der Gemeinde.
Bei der Pestepidemie 1564/65 erkrankte Bullinger selbst. Er konnte dem Tod entrinnen, dann starben jedoch seine Frau und weitere Kinder. Von der Pest gezeichnet lebte Bullinger noch zehn Jahre und starb am 17.09.1575.
Bullinger war in den langen Jahren seines Wirkens in zahlreiche Auseinandersetzungen verwickelt. Die Debatte mit den Täufern machte den Anfang. Schon in Bremgarten hatte er mit ihnen zu tun. Zwingli lud den noch jungen Bullinger zu den ersten Gesprächen mit den Täufern in Zürich hinzu. Und schon 1525 verfasste dieser eine erste Schrift zu Tauffrage. 1560 schließlich veröffentlichte er eine Geschichte der breiten, ganz und gar nicht einheitlichen Täuferbewegung. Inhaltlich bekämpfte er die Lehren der Täufer, und auch Bullinger hat Mitverantwortung an der Verfolgung der Täufer. Es gilt dabei jedoch zu bedenken, dass im ganzen Reich ab 1529 auf Wiedertaufe die Todesstrafe stand. Aus dem 16. und 17. Jhdt. sind Namen von knapp 900 hingerichteten Täufern (in Süddeutschland und der Schweiz) überliefert. Davon kamen etwa 85% in katholischen Gebieten ums Leben. Während Bullingers Zeit in Zürich gab es nur zwei Hinrichtungen (1532). Die Verfolgung in Bern war deutlich schärfer. Bullinger folgte eher der Linie von Martin Bucer, der bei aller Kritik und auch Diskriminierung (wie wir heute sagen würden) Verständnis für das Anliegen der Täufer zeigte und das Gespräch suchte.
Auch zum Verhältnis von Kirche und Staat gab es unter den Schweizer Protestanten ernste Meinungsverschiedenheiten. In Zürich, zu Beginn von Bullingers Wirken eine Stadt mit etwa 6000 Einwohnern (hinzu kamen etwa 60.000 Untertanen im Land), gab es eine Staatskirche. Letzte Entscheidungen trafen in allen Bereichen die Räte der Stadt, sie hatten auch in kirchlichen Fragen das letzte Wort. Die Verbindungen zwischen Obrigkeit und Gemeinde waren vielfältig. Prediger ernannte der Rat, Beamte wurden in der Kirche vereidigt. In den Dörfern und Städtchen des Landes wirkten Pfarrer auch wie Beamte. Die Männer der Stadträte verstanden sich eindeutig als christliche Obrigkeit. Zwischen ihnen und der Kirche herrschte weitgehend Einvernehmen. Scharfe Konflikte wie in Genf gab es nicht.
Bullingers älterer Kollege Leo Jud trat dagegen für eine Trennung von Kirche und Staat ein. Diskutiert wurde vor allem um die Frage, ob die Kirche oder der Staat das letzte Wort in der Kirchenzucht hat. Jud wie wie später dann auch Calvin vertrat die Position, dass die Gemeinde bzw. die Ältesten der Kirche allein über Ausschluss vom Abendmahl und andere Disziplinarmaßnahmen entscheiden. Jud konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Bullinger trat immer für eine milder ausgeübte Kirchenzucht unter Leitung des Rates ein.
Hier sehen wir schon die zwei unterschiedlichen Traditionen, die sich innerhalb des reformierten Christentums herausbildeten: das presbyterianische Modell, das die recht klare Trennung von Kirche und Staat vorsieht und im wesentlichen Calvin folgt; und das staatskirchliche Modell in den Spuren Zwinglis und Bullingers. Die presbyterianische Ordnung setzte sich weltweit besser durch, vor allem auch deshalb, weil sie auch funktioniert, wenn die Obrigkeit dem evangelischen Glauben abgeneigt ist oder feindlich gegenüber steht. In vielen Ländern waren reformierte Christen eine unterdrückte Minderheit, und dort konnte es natürlich nicht zu einem staatskirchlichen Modell kommen.
Doch man darf die Unterschiede zwischen beiden reformierten Strömungen nicht überbetonen. Bullinger wie Jud und dann Calvin betonten, dass auch die staatliche Gewalt sich an den 10 Geboten zu orientieren hat. Sie soll die wahre Religion verteidigen, Gotteslästerung unterbinden, Häresien und Abspaltungen verbieten (s. Art. XXX). Gottes Wort gilt allen; es war nur die Frage, wie die Kompetenzen im einzelnen genauer abgegrenzt werden.
Aus heutiger Perspektive erscheint es eher seltsam, dass sich Politiker in Angelegenheiten der Kirche „einmischen“, wie wir nun sagen würden. Doch damals bestand eine geordnete und dynamische Beziehung auf Grundlage eines gemeinsamen Glaubens. Die Obrigkeit durfte sich nicht in die Verkündigung einmischen. Bei seiner Ernennung 1531 sagte Bullinger: „Gottes Wort will und soll nicht gebunden sein. Sondern was man darin findet, es sei was es wolle, soll frei geredet werden“. Von einer Beherrschung der Kirche durch den Staat konnte also keine Rede sein.
Umgekehrt spielten auch die Pfarrer nicht die erste Geige, aber sie durften ihre Positionen vortragen. Sie hatten in Zürich das ausdrückliche Recht nicht nur wegen kirchlicher Dinge, sondern auch bei wichtigen politischen Fragen geladen oder ungeladen mit der Bibel in der Hand ins Rathaus zu gehen und ihren Standpunkt (in der Regel auch schriftlich) vorzutragen.
Bullinger und der fünf Jahre jüngere Calvin waren recht unterschiedliche Persönlichkeiten, jedoch zutiefst in der Arbeit in der einen, erneuerten Kirche verbunden. Die von innen und außen bedrohte Genfer Kirche benötigte unbedingt die Verbindung nach Bern und Zürich. Ohne den Rückhalt der dortigen Kirchen hätte die Reformation in Genf wohl nicht überlebt. Die beide Reformatoren pflegten über die Jahrzehnte hinweg einen intensiven Briefwechsel. Neben den Fragen um Kirchenzucht und der Kompetenz von Kirche und Rat hatten beide unterschiedliche Auffassungen in der Prädestinationslehre (wobei sie aber auch dort nur verschiedene Akzente setzten). Im Verständnis des Abendmahl fanden beide aber zu einer vollständigen Einigung.
Die Unterschiede in der Lehre vom Abendmahl traten schon 1525 zu Tage. Zwingli vertrat die Auffassung, dass das Abendmahl nur eine Symbolhandlung ist; Luther hielt an der Auffassung fest, dass Christus in den Elementen von Brot und Wein real anwesend sei. Das Religionsgespräch in Marburg 1529 zwischen zahlreichen Reformatoren führte in allen Fragen zu einer Übereinkunft – nur nicht in dieser. Vor allem Bucer, auch Melanchton und dann Calvin waren um Vermittlung bemüht. Besonders die kompromisslose Position Luthers machte jedoch einen Ausgleich unmöglich. Die Schweizer Reformatoren schätzten dennoch Luthers Verdienste, kritisierten aber dessen Hochmut und die Verteufelung seiner Gegner.
Calvin stand ursprünglich zwischen Luther und Zwingli, und auch Bullinger vertrat eine selbständige Position, die sich von seinem Vorgänger Zwingli unterschied. Beide betonten die geistliche Gegenwart Christi im Abendmahl, bewegten sich aufeinander zu und kamen schließlich 1549 im Namen ihrer Kirchen zu einer gemeinsamen Abendmahlslehre. Der im wesentlichen von Calvin verfasste Consensus Tigurinus (die Zürcher Übereinkunft) formulierte in 26 Artikeln das Verständnis der Schweizer Reformierten. Er stellte die erste ökumenische Übereinkunft innerhalb des Protestantismus dar und zeigt exemplarisch, wie auch schwierige theologische Probleme gelöst werden können, wenn ausdauernd und zielbewusst, sorgfältig, in gegenseitiger Offenheit und Achtung gearbeitet wird. Wie schon Martin Bucer, der Reformator von Straßburg, war auch Bullinger immer um Ausgleich bemüht und suchte die Einheit der Evangelischen. Von diesem Geist ist auch das Bekenntnis des „Patriarchen der Ökumene“ (F. Büsser) geprägt.
In der Mitte des 16. Jahrhunderts – Calvin rang noch mit seinen Gegnern in Genf, Luther war schon einige Jahre und Zwingli schon Jahrzehnte tot – war Bullinger wohl der geachtetste Reformator in ganz Europa. Keiner war literarisch so produktiv wie er (rund 130 gedruckte Werke werden gezählt), wurde so häufig übersetzt und gelesen. Seinen Einfluß spiegelt der sehr intensive Briefwechsel wieder. Bullinger Korrespondenz mit rund 1000 Personen ist erhalten. Der Zürcher tauschte sich aus mit Pfarrern, Theologen, Gelehrten, Politikern, Fürsten, aber auch mit einfachen Leuten, Handwerkern, Frauen. Auch mit dem Kopf der Reformierten in Litauen, Fürst Mikalojus Radvila Juodasis (so heute lit., eigentlich Mikołaj Radziwiłł Czarny), stand Bullinger in Briefkontakt.
Bullinger war ein Mann der zweiten Reformatorengeneration, aber nicht des zweiten Rangs. Er verließ das heimatliche Zürich kaum, doch dort genossen viele Freunde, Kollegen und Glaubensflüchtlinge die Gastfreundschaft der Familie. Als Berater und väterlicher Freund wirkte er durch sein Vorbild, seine Predigten, Briefe und Schriften, die ab 1559 auch Litauen erreichten (in der Druckerei von Brest, damals Teil des Großfürstentums Litauen, wurde 1559 das erste Werk Bullingers in Litauen gedruckt – wenn auch wie damals üblich in Polnisch: O prawdziwem przyjmowaniu ciała i krwi P. Jezusa). Mit dem Zweiten helvetischen Bekenntnis hinterließ er ein bleibendes Vermächtnis. Der Theologieprofessor E. Campi von der Zürcher Universität schrieb im Bullingerjahr 2004 über die europäische Persönlichkeit:
„Es waren nicht nur Bullingers Fähigkeiten als Theologe oder seine Position als Hauptpastor einer großen Kirche, sondern vielmehr und vor allem sein freundlicher, auf Ausgleich bedachter Charakter, der ihn zu so einer wichtigen Person im reformierten Protestantismus machte. In einer Zeit des religiösen Konflikts, in der der Protestantismus selbst durch Spaltungen auseinandergerissen wurde, war Bullinger einer der wenigen, der sich darum bemühte die Streitigkeiten zu entschärfen und die Unterschiede zu überwinden. Genau dies macht ihn zu einem großen Brückenbauer in Europa.“
Dieser Beitrag in litauischer Sprache ist Teil der Einleitung zum Zweiten Helvetischen Bekenntnis (Lietuvos reformatų tikėjimo pagrindai: Antrasis šveicariškasis išpažinimas).