Wirtschaft und Soziales
Bis ins 20. Jahrhundert lebte die litauische Bevölkerung ganz überwiegend von der Landwirtschaft. Noch zwischen den Weltkriegen gehörten Lebensmittel, Vieh und Rohmaterialien wie Holz zu den Hauptexportgütern. Erst in der Sowjetunion wurde die Industrialisierung massiv vorangetrieben, viele Kombinate wurden aus dem Boden gestampft. Die Verstädterung nahm schnell zu (Bau von Trabantenstädten).
Die Herauslösung aus der sowjetischen Planwirtschaft und der Übergang zur Marktwirtschaft waren hart, zeigen aber heute Früchte. Die schwierige Lage zwang die Regierungen zu wichtigen Reformen, so dass die Wirtschaft heute flexibler und in vielen Bereichen weniger bürokratisch gehemmt ist als in Westeuropa. Auf dem „Doing business“-Index der Weltbank hat Litauen Ende 2013 sogar einen sehr guten Rang 17. Im „Economic Freedom Index“ von Heritage Foundation und Wall Street Journal liegt das Land auf Platz auf Platz 22 – neben Litauen sind Estland, Tschechien und Georgien dort die einzigen postkommunistischen Länder in der Gruppe der „überwiegend freien“ Staaten von Rang 6 bis 35).
Ab 2002 wuchs die Wirtschaft in starkem Tempo, so dass man schon von den „baltischen Tigern“ sprach. 2009 schrumpfte das Sozialprodukt in Folge der Finanzkrise jedoch dramatisch. Die Regierungen in Vilnius und Riga konnten nur mit drastischen Maßnahmen den Staatsbankrott verhindern. Nun bilden die drei Republiken wieder drei kleine ökonomische Lokomotiven in der EU. 2012 wurde ein Bruttoinlandsprodukt von 32 Mrd Euro Gesamtumfang erwirtschaftet, pro Kopf 11.000 Euro (rund 66% des EU-Schnitts; in Deutschland gut drei Mal mehr).
1993 wurde die Vorkriegswährung „Litas“ wiedereingeführt, die bis 2002 an den US-Dollar gekoppelt war (1 USD – 4 Litas). Nun ist der Litas an den Euro gebunden (1 € – 3,45 Lt). Eine Einführung der europäischen Währung ist für 2015 geplant (in Estland ist der Euro seit 2011 im Umlauf, Lettland plant die Euro-Einführung 2014).
In der Landwirtschaft sind etwa 8% der Einwohner beschäftigt, also deutlich mehr als in den meisten Ländern Westeuropas. Viehzucht (Schweinemast, Milchvieh) und Getreideanbau herrschen vor; in einzelnen Gegenden werden auch Zuckerrüben angebaut. Die Lebensmittelindustrie ist gut aufgestellt und exportorientiert (Milch- und Fleischprodukte, aber auch Pilze, Beeren, Obstsäfte sowie Zucker, Süßwaren und Spirituosen).
Von den Industriezweigen haben sich besonders die chemischen Werke halten können; vor allem in die Ausfuhr gehen Produkte wie Dünger. Größter Exporteur des Landes ist die Raffinerie bei Mažeikiai im Norden (nun in Besitz von „Orlen“ aus Polen, s. Foto), die einzige in der ganzen Region.
Die Textilindustrie verliert langsam an Bedeutung, ist aber immer noch wichtiger Wirtschaftsfaktor. Der Möbelbau nimmt seit Jahren eine bedeutende Stellung ein. Teile der in der Sowjetrepublik sehr starken Elektroindustrie haben sich am Markt behaupten können. Der Bildröhren-Riese „Ekranas“ aus Panevėžys machte jedoch 2006 seine Tore dicht. Der TV-Hersteller „Tauras“ in Šiauliai, der früher die ganze Sowjetunion belieferte, schrumpfte von vielen tausend Mitarbeitern auf gerade 200. Ähnliches gilt für die Metallverarbeitung. Heute werden Kühlschränke von „Snaigė“ in Alytus produziert, Fahrräder von „BalticVairas“ (im Besitz der deutschen Panther-Werke) in Šiauliai. Leider ist die traditionelle Lederherstellung und –verarbeitung so gut wie ganz verschwunden. Dafür sind neue Wirtschaftszweige wie Laser- oder Biotechnologie entstanden.
Wichtige Wirtschaftssektoren sind schließlich der Transport (Speditionen nutzen die günstige Lage zwischen Ost und West, Kenntnisse des östlichen wie westlichen Marktes; der Klaipėdarer Hafen (s. Foto) ist einer der wichtigen im Baltikum); das Baugewerbe sowie der Einzelhandel: „Vilniaus prekyba“ ist mit der „Maxima“-Supermarktkette in Ländern vom Baltikum bis nach Bulgarien vertreten, eines der größten litauischen Unternehmen und eine der Erfolgsgeschichten des Landes. Wachstum erleben nun auch die Finanzdienstleistungen. Die Banken sind zumeist in skandinavischem Besitz (SEB, Swedbank, DNB, Danske, Nordea).
Insgesamt werden fast Zweidrittel des Handels mit der EU abgewickelt. Wichtigster Haupthandelspartner ist aber immer noch Russland, da beim Import das russische Gas wichtigster Einzelposten ist. Erstmals seit 1990 war die Handelsbilanz im Jahr 2012 positiv. Bei den ausländischen Investitionen lag 2013 erstmals Schweden an der Spitze (vor Deutschland und Polen).
Die Staatverschuldung ist mit 13 Mrd €, knapp 40% des BIP, im europäischen Vergleich eher gering. Auch die Privathaushalte sind nur mäßig verschuldet. Die Inflation liegt im Schnitt etwas höher als in Deutschland. Die Staatsquote beträgt nur 37% (rund 48% in Deutschland, knapp 60% in Dänemark). Die Lebenshaltungskosten sind natürlich geringer als in Westeuropa. Doch manche Preise (einzelne Lebensmittel, Kleidung, Heizung) liegen durchaus auf deutschem Niveau; einzig die Dienstleistungen sind immer noch deutlich günstiger.
Ein gutes Drittel der Beschäftigten ist im staatlichen Sektor tätig (vor allem in den Sektoren Bildung, Medizin, Verwaltung). Der Durchschnittslohn beträgt brutto etwa 650 Euro, der Mindestlohn 300. Die Arbeitslosigkeit ist mit der Finanzkrise wieder auf über 10% hochgeschnellt. In manchen Wirtschaftszweigen herrscht aber Fachkräftemangel.
Der Umfang der Schattenwirtschaft wird auf etwa 27% geschätzt, ist damit ähnlich hoch wie in Italien oder Griechenland (rund die doppelte Größe des Wertes für Deutschland, mehr als drei Mal so groß wie in Österreich oder der Schweiz).
Konsumverhalten, Auslandsurlaube, Motorisierung usw. zeigen, dass sich inzwischen eine breite Mittelschicht herausgebildet hat. Unübersehbar bleibt allerdings immer noch die relative Armut im Land. Statistisch gelten etwa 20% der Bevölkerung als arm (Einkünfte einer vierköpfigen Familie unter 420 €); ein Drittel ist von Armut bedroht. Es gibt diverse Beihilfen für Bedürftige, und zu berücksichtigen sind außerdem die natürlich unversteuerten Einkommen aus der Schattenwirtschaft. Auch die Überweisungen der Arbeitsemigranten in die Heimat in Milliardenhöhe dämpfen manche soziale Härte ab. Eine Grundsicherung wie in Deutschland gibt es in Litauen nicht. Das soziale Netz ist im europäischen Kontext dünn – entsprechend den finanziellen Möglichkeiten des Landes. Aber immerhin werden rund 40% aller öffentlichen Ausgaben für Soziales aufgewendet (den größten Kuchen stellen dabei die Renten dar). Etwas anders als in Deutschland sind in Litauen von Armut neben Arbeitslosen (rund die Hälfte der Armen) vor allem ältere Menschen betroffen (ca. 20%).
Leider nimmt Litauen schon seit einigen Jahren in einer traurigen Listen den Spitzenplatz ein: In keinem anderen Land bringen sich – in Relation zur Bevölkerungszahl – mehr Menschen selbst ums Leben. Die Suizidrate beträgt 34,1 Selbstmorde auf 100.000 Einwohner (2009). In der Statistik folgen Südkorea, dann weitere ehemalige Sowjetrepubliken wie Russland oder Kasachstan (Deutschland: 12,3).
Immer noch liegt das baltische Land auch bei der Zahl der Verkehrstoten vorne. In der FAZ hieß es sogar im März 2013: „Autofahren ist in Europa auf Litauens Straßen am gefährlichsten“. Tatsächlich kommen auf 1 Mio Einwohner jährlich 100 Tote im Straßenverkehr – der EU-Schnitt ist gerade 55 (Deutschland: 44). Dennoch ist zu beachten, dass sich die Lage in den letzten Jahren deutlich verbessert hat. Viele gute Sicherungsmaßnahmen an den Straßen wurden getroffen; im ganzen Land stehen hunderte Blitzkästen. Der Staat hat seine Hausaufgaben gemacht. Doch die Fahrkultur der Bürger läßt sich eben nicht so leicht verändern. Überdurchschnittliche viele der Toten sind außerdem Fußgänger und Radfahrer, die z.B. in der Dunkelheit überfahren werden.
Die Ehe ist immer noch recht beliebt und im katholisch geprägten Land wichtigste Form des Zusammenlebens (6 Eheschließungen auf 1000 Einwohner im Jahr 2011, in Deutschland waren dies 4,6). Allerdings nimmt seit etwa 2000 die Kohabitation, das gemeinsame Leben ohne Trauschein, kontinuierlich zu. Nun werden vier von fünf Partnerschaften so begonnen – nach einer Weile heiraten die allermeisten dann aber doch. So steigt nun das Heiratsalter, das in der Sowjetunion noch recht niedrig war: Frauen gehen die (erste) Ehe im Schnitt mit 27, Männer mit 29 Jahren ein (Deutschland: mit 30 bzw. 33 Jahren). Ähnlich wie in Deutschland wird in Litauen etwa jedes dritte Kind nicht in einer Ehe geboren. Bei den Nachbarn in Norden wie in Schweden oder Estland (und auch in Slowenien) kommt schon eine Mehrheit der Kinder unehelich zur Welt.
Die Ehedauer beträgt im Schnitt 13 Jahre. Die Scheidungszahl ist in Litauen im europäischen Vergleich hoch: Auf 1000 Einwohner kamen 2011 3,4 Scheidungen, was in Europa nur noch von Lettland (4) übertroffen wird und auch weit vor dem ebenfalls katholisch geprägten Polen liegt (dort 1,7; Deutschland: 2,3). Die Scheidungsrate liegt in Litauen mit 40% leicht niedriger als in Deutschland (etwa 45%), d.h. zwei von fünf Ehen werden geschieden (in Deutschland wird weniger geschieden, weil auch schon seit einer ganzen Weile weniger geheiratet wird). Soziologin Aušra Maslauskaitė, Professorin an der Vytautas-Magnus-Universität, spricht daher von einer „Scheidungsgesellschaft“, die Litauen schon seit Jahrzehnten sei.
Im weltweiten Vergleich kann Litauen als recht sicheres Land gelten. Das organisierte Verbrechen hat sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, konzentriert sich auf Drogenhandel, Waffen- und Menschenschmuggel. Mitunter sorgen litauische Geldfälscher für Schlagzeilen. Einen europäischen Spitzenplatz nimmt Litauen leider bei den Tötungsdelikten ein – weniger wegen Schießereien oder Raubüberfallen, sondern vor allem durch häusliche Gewalt mit Todesfolge. Auch der Anteil der Strafgefangenen ist im europäischen Vergleich hoch.
Korruption ist immer noch ein ernstes Problem, doch inzwischen hat Litauen im Index der Korruptionswahrnehmung von „Transparency International“ 2012 Rang 48 erreicht, belegt damit einen Platz im oberen Mittelfeld.
In mancher Hinsicht ist Litauen zwar immer noch eines der Schlusslichter in der EU, doch man vergesse nicht den harten zurückgelegten Weg. Unter den ehemaligen Sowjetrepubliken stehen die baltischen Staaten heute mit deutlichem Abstand am besten da. Nur sie haben es im „Human Development Index“ in die Gruppe der 47 Staaten mit „sehr hoher“ Entwicklung geschafft. Der HDI berücksichtigt eine Vielzahl von Faktoren (Lebenserwartung, Einkommen, schulische und medizinische Versorgung usw.). Auf der HDI-Skala von 0 bis 1 erreicht Litauen 0,81 (Deutschland 0,9) und Platz 40, lässt damit sogar EU-Mitglied Portugal (41), sowie Chile (44), Argentinien (45) und Kroatien (46) hinter sich.