Der große Fund des Kleinen

Der große Fund des Kleinen

Das kommende Jahr wird in Litauen groß gefeiert werden: einhundert Jahre wiederhergestellte Staatlichkeit. 1918 nutzten die baltischen Länder den blutigen Konflikt der Großmächte im Ersten Weltkrieg und befreiten sich aus dem Zarenreich. Estland war schon Anfang des 18. Jahrhunderts von Russland erobert worden; Lettland und Litauen waren 1795 in dem mächtigen Imperium aufgegangen. Letten und Esten gelang die erste Staatsbildung überhaupt, Litauen knüpfte an ein halbes Jahrtausend der Geschichte des Großfürstentums an.

1915–17 eroberten die Armeen des Deutschen Reiches das Baltikum. Im Norden des Gebiets, wo schon jahrhundertelang deutsche Großgrundbesitzer und Adelige die Kultur mitgeprägt hatten, sollte eine Art deutsch-baltischer Vasallenstaat entstehen; aber selbst eine komplette Angliederung an das Reich wurde erwogen. Für Litauen hatte man in Berlin nicht so weitreichende Pläne, aber auch hier war natürlich die enge Abhängigkeit von Berlin vorgesehen.

Im Frühherbst 1917 gründete sich der litauische Landesrat, die Taryba, als oberste Vertretung des Volkes. Wohin die Reise Litauens gehen sollte, war den Ratsmitgliedern selbst nicht so ganz klar. Was war möglich in einer Zeit der Kriegs- und Revolutionswirren? (Anfang November kamen in Petrograd die Bolschewisten an die Macht.) Am 11. Dezember 1917 verkündete der Landesrat eine erste Unabhängigkeitserklärung, die aber ein großes Manko hatte. Ihren Namen verdiente sie nicht so recht, denn ganz nach dem Wunsch der Deutschen erbaten die Vertreter Litauens darin um eine enge Union des neuzuschaffenden Landes mit Deutschland, ja eine Art Anschluss. Dies schien damals besser, als sich einem schon wiedergegründeten Königreich Polen (ebenfalls natürlich unter deutsche Fittiche) anzuschließen. Aber der Missmut über diese Erklärung unter den Litauern war dennoch allgemein groß.

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Der litauische Landesrat 1918 (stehend 2. von rechts J. Šernas)

Im zweiten Anlauf zeigten sich die zwanzig Männer der Taryba mutiger:  Am 16. Februar 1918 proklamierten sie in einem „Beschluss“ (lit. „Nutarimas“) den unabhängigen, demokratischen Staat Litauen. Von einer besonderen Beziehung zu Deutschland war nicht mehr die Rede. Das Schreiben in deutscher und litauischer Sprache mit den Unterschriften der Mitglieder des Rates wurde Vertretern Deutschlands übergeben. Berlin anerkannte die Erklärung im Frühjahr nur zögerlich. (Wmgl. gab es auch eine Anfertigung in russischer Sprache; die Gesamtzahl der angefertigten Dokumente wird auf fünf geschätzt.)

Die Sowjets unter Lenin beendeten den Krieg mit Deutschland und machten Frieden mit dem Reich. Im Osten regelten die Deutschen die Verhältnisse erst einmal ganz nach ihrem Gutdünken. Der Friedensvertrag von Brest im März 1918 hielt die vormals russisch regierten Völker zwischen Finnland und Schwarzem Meer unter der Knute Deutschlands. Das Gebiet „Ober Ost“ südlich von Kurland (späteres Lettland) verwandelte man im Juli 1918 in ein recht großes litauisches Königtum. Wilhelm Karl von Urach aus dem Geschlecht der Hohenzollern sollte als König Mindaugas II den Thron besteigen (hier mehr zu ihm).

Im Herbst 1918 veränderte sich jedoch die politische Großwetterlage. Auch wenn deutsche Truppen tief in der Ukraine standen, war eine Niederlage im Westen dennoch absehbar. Die deutsche Regierung sagte im Oktober 1918 Litauen die volle Selbstbestimmung zu. Die Litauer sahen die Zeit gekommen, ihre Geschicke ganz in die eigenen Hände  zu nehmen. Am 2. November 1918 fasste die Taryba einstimmig den Entschluss, auf einen König zu verzichten – das Land erklärte sich zur Republik und nahm eine Übergangsverfassung an. Schon im folgenden Monat drang die Rote Armee in Litauen ein, die sich noch mehrere Jahre hinziehenden Kämpfe um die Freiheit des jungen Staates begannen.

Überraschung in Berlin

Heute ist der 16. Februar der bedeutendste der drei nationalen Feiertage (neben dem 6. Juli, an dem der Krönung von Mindaugas im Jahr 1253 und damit der Staatsgründung gedacht wird, und dem 11. März, an dem das Parlament 1990 die Unabhängigkeit von der UdSSR erklärte). Mitten in der Altstadt, ein Steinwurf von der Universitätskirche entfernt, kann man heute das „Haus der Signatare“ besuchen. In dem Museum wird an den Landesrat und sein Wirken 1917/18 erinnert.

Zu den Unterzeichnern gehörte damals neben all den Katholiken (und wohl auch „Freidenkern“ unter den Sozialdemokraten) ein Evangelischer: Jokūbas Šernas (1888–1926). Der aus dem Kreis Biržai stammende reformierte Christ war Mitglied des Präsidiums des Landesrates und 1919 Minister; bis zu seinem frühen Tod nahm er hohe Ämter in Presse, Banken und Staat ein. Seine Enkelin ist heute aktives Mitglied der Vilniuser Gemeinde; Urgroßneffe Tomas Šernas ist seit 2010 Generalsuperintendent der reformierten Kirche Litauens.

Im „Haus der Signatare“ findet sich allerdings nur ein Faksimile des Beschlusses vom 16. Februar. In der Zeit der unabhängigen Republik Litauen wurde im Regierungssitz in Kaunas mindestens eine Version des mit Maschine geschriebenen Dokuments aufbewahrt. In den Wirren des Krieges gingen diese jedoch verloren. Alle Originale galten als verschollen. Viel wurde spekuliert, ob beim langjährigen Präsidenten Smetona und seinem Umfeld oder bei anderen der Signatare bzw. deren Nachkommen sich möglicherweise ein Exemplar befindet.

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Die bisher einzig bekannte Version der Unabhängigkeitserklärung – eine Kopie des mit Maschine geschriebenen Textes

Das große Staatsjubiläum naht – und das Gründungsdokument fehlt! Dies nahm Darius Mockus, einer der prominentesten Wirtschaftsführer des Landes, zum Anlass, mit einem Preisgeld von immerhin einer Million Euro den Finder der Erklärung zu belohnen. Am Vorabend des diesjährigen 16. Februars machte die Ankündigung des Gründers und Leiters des Mischkonzerns „MG Baltic“ viele Schlagzeilen. Mockus kann diese PR-Aktion gut gebrauchen, ist sein Image durch die mögliche Verwicklung in einen Korruptionsskandal doch angeschlagen.

Unabhängig von Mockus Offerte hatte sich aber schon ein Professor aus Kaunas auf die Suche gemacht, und zwar in Berlin. Liudas Mažylis, Jg. 1954, unterrichtet schon seit Jahrzehnten Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung an der Vytautas-der-Große-Universität (VDU) in der Stadt. Geschichte ist nur sein Hobby. Schon seit einer Weile hatte er sich mit dem Schicksal des Beschluss vom 16. Februar befasst. Da Litauen damals zum Machtbereich Deutschlands gehörte und seine Unabhängigkeit der deutschen Führung abringen musste, lag es eigentlich nahe, die Berliner Spur zu verfolgen.

Im Januar begann Mažylis eine Reise in die deutsche Hauptstadt und Spurensuche in dortigen Archiven zu planen. Im Bundesarchiv (mit Sitz in Koblenz) hatte man ihn nämlich auf das Politische Archiv des Auswärtigen Amts hingewiesen, dass wahrscheinlich wertvolle Informationen birgt. Ende März reiste der Professor mit dem Bus nach Berlin und erhielt im Archiv in der Kurstraße gut einhundert Akten auf Mikrofilm zur Durchsicht.

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Das Orginal der Unabhängigkeitserklärung – und auch noch in litauischer Sprache (rechts davon in der Akte in Deutsch)

Vor einer Woche tauchte dann vor den Augen des Litauers das Negativ der Erklärung vom 11. Dezember 1917 ab. Mažylis hatte vor allem die Unterschriften der Signataren fest im Gedächtnis gespeichert und würde sie blitzartig überall erkennen. Sein Adrenalinspiegel stieg, und tatsächlich war es am 29. März dann soweit: Vor den Augen des Professors tauchte die deutsche und in der Akte direkt daneben auch noch die litauische Version des Erklärung vom 16. Februar auf. Auch in litauischer Sprache – damit hatte der Hobbyhistoriker nicht gerechnet!Sogleich rief Mažylis den Botschafter Litauens in Berlin an, Deividas Matulionis. Am folgenden Tag wurde die Akte aus dem Archiv hinter dicken Stahltüren geholt und der Presse präsentiert. Die Sensation war perfekt! Blitzartig machte die Nachricht in Litauen die Runde. Jahrzehntelang schlummerte das Dokument in Berlin (nach dem Krieg war das Archiv eine Weile in Großbritannien) – und noch niemand aus Litauen hatte sich die Mühe gemacht, dort einmal nachzuforschen.

Selbstkritisch müssen sich vor allem die Historiker des Landes fragen, warum zuvor in Berlin keiner aus ihrer Zunft nachgesehen hatte. Gedemütigt sahen sich wohl auch die Vilniuser Professoren von der ältesten Uni in der gesamten Region (gegr. 1579). Alfredas Bumblauskas, bekanntester Geschichtsexperte Litauens, zweifelte anfangs an der Echtheit des Dokuments, nannte Mažylis einen „Typ“, den er nicht kenne – und wozu überhaupt die Aufregung, schließlich seien Historiker keine Trophäenjäger.

Dem Unken der Akademikern zum Trotz wurde wurde der sympathische Professor einige Tage später am Vilniuser Flughafen jubelnd empfangen. Die Geschichte der Entdeckung beherrschte tagelang die Schlagzeilen. Mažylis wurde durch die TV-Studios gereicht und erzählte jedem die Geschichte der Entdeckung des Dokuments. Immer betonte er, wie hilfreich die deutschen Mitarbeiter der Archive waren.

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In dieser Mappe schlummerte das wichtigste Dokument der jüngeren litauischen Geschichte – mitten in Berlin, ganz an seinem richtigen Ort. Jahrzehntelang hatte nur niemand gesucht…

Die Unabhängigkeitserklärung war an das damalige Reich gerichtet und ist rechtlich nun Eigentum des Bundes. Der litauische Außenminister und auch die Präsidentin machen sich nun jedoch dafür stark, dass das Dokument dauerhaft in Litauen ausgestellt werden kann. Erste Signale aus Berlin deuten darauf hin, dass dieser Bitte wohl entsprochen wird.

Und was ist nun mit Mockus Million? Die Bedingungen für den Gewinn formulierte der Unternehmer mit seinen Juristen so präzise, dass auch Mažylis nicht anspruchsberechtigt ist. Denn dafür hätte das Dokument in sein Eigentum übergehen müssen, was natürlich nicht geschieht. Wird Mockus auf seiner Millionen sitzen blieben? Wohl nicht, denn die Summe hat er für diesen Zweck schon freigestellt. Wahrscheinlich wird er sie einem entsprechenden Projekt oder der Uni des Professors spenden. Die kann sich nun rühmen, wahrlich keinen Kleinen (was der Nachname Mažylis bedeutet) Wissenschaftler in ihren Reihen zu haben – einfach ein neugieriger und wissensdurstiger älterer Herr. In die Geschichtsbücher der Landes geht er nun gewiss ein.

LM

Der Finder wird am Flughafen empfangen; recht von ihm der stolze Rektor seiner Uni